Samstag, 21. September 2019

Wir lieben, was wir nicht kriegen


Mehrfamilienhäuser und Bäume, das Daimlerwerk und eine Erdgasanlage in Schwarz-Weiß - damit präsentiert sich die EP "Jod und Tenside" auf dem Cover. Es ist der Blick von der Wangener Höhe. Keiner, den angesichts der Industrie- und Betonästhetik Touristen aufsuchen würden. Einer aber, der die Band "Lenin Riefenstahl" klar verortet: in Stuttgart nämlich. Jener Stadt also, die zuletzt mit einer Reihe interessanter Bands (wie Die Nerven oder Human Abfall) auf sich aufmerksam gemacht hat. Und ihr damit auch ein Stück weit einen musikalischen Stempel aufdrückt: Dass es hier eher düster, melancholisch, gar punkig zugeht, ist durch dieses Foto gesetzt.

Entgrenzung und Reduktion

Doch teilen sich Lenin Riefenstahl* kaum mehr als das Studio mit den Nerven (das Mastering übernahm Ralv Milberg). Die musikalische Vision ist eine ganz andere. Statt programmatischer Distanz und Reduktion setzt das neue Projekt des Songwriters und Hörspiel-Autors Christian Rottler vielmehr auf Entgrenzung.

Und so gibt es ein Wipers-mäßiges Punk-Stück über einen Morphiumtod inklusive Spoken-Word-Teil mit einer Länge von sechs Minuten ("Stumme Apotheker"). Eine traurige Ballade über die letzten, quälenden Minuten vor einer unvermeidlichen Trennung ("Kurz und schmerzlos"), musikalisch inszeniert als fast schon heiter-lakonisches Stück.

Oder das melancholisch-intim arrangierte und titelgebende "Chlor, Jod und Tenside" - eine Art Hohelied auf das Scheitern. In dem Sechs-Minuten-Stück heißt es: "Wir lieben Intrigen / das Leben besteht aus Rückfällen / und wir leben intensiv / und wir lieben / was wir nicht kriegen / diesmal war dein Misstrauen durchaus konstruktiv". 

Kompakt und schnörkellos

Trotz stellenweiser Überlängen hinterlässt die sechs Songs umfassende EP insgesamt einen kompakten Eindruck ohne Aussetzer. Musikalisch verzichtet das Trio auf unnötige Ausschmückungen, stellt vielmehr die Stärken des Konzepts Gitarre-Bass-Schlagzeug-Gesang (auf Platte an der Gitarre stellenweise unterstützt durch Sad Sir von End of Green) heraus und spielt schnörkellose Rocksongs mit leichten Punk-Einschlägen. Drummer Mathias Menner und Bassist Marc Eggert, der die Platte auch produzierte, ist es zu verdanken, dass die EP an keiner Stelle in Rockismen kippt.

Mit "Jod und Tenside" schlägt Christian Rottler ein neues musikalisches Kapitel auf. Bei den Texten indes bleibt er sich (bis auf "Stumme Apotheker" mit seinem fast schon klassischen Storytelling) treu: Sie sind schonungslos offen und zugleich rätselhaft, stecken voller literarischer Anspielungen und bleiben damit in viele Richtungen anschlussfähig. Massentauglich ist das nach wie vor nicht. Einen angemessenen Platz in der Nische hätte er damit aber allemal verdient.

Die EP "Jod und Tenside" erscheint am 11. Oktober bei Rotte.

* Ein politisches Projekt ist mit dem Bandname übrigens nicht verbunden). Die drei Stuttgarter haben sich, so schreiben sie "aus Gründen der Phonetik und der geballten Tragik" für ihn entschieden.

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