Mittwoch, 15. Juni 2016

Die Nerven: Im Zentrum des rasenden Stillstands

Relevante Rockmusik war in Stuttgart einst schwer zu finden. Doch seit einigen Jahren tut sich was in der Motorstadt. Heute gibt es dort eine ganze Reihe guter Indie-Bands mit deutschen Texten. „Die Nerven“ sind so etwas wie die Speerspitze dieser Bewegung. In der Schorndorfer Manufaktur stellten sie das nun eindrucksvoll unter Beweis.  

Die vielleicht wichtigste deutsche Rockband der Stunde kommt ziemlich schluffig daher. Schlagzeuger Kevin Kuhn, schmal, barfüßig, lange glatte Haare, betritt die Bühne in einer Art Pyjama. Gitarrist Max Rieger trägt immerhin Hemd, wenn auch ein ungebügeltes und halb offen, seine blonden Haare sind zu einem sehr kurzen Zopf gebunden. Bassist Julian Knoth, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, trägt seine halblangen lockigen Haare offen und sieht vor allem sehr nett aus. Dass sie als Trio eine ziemliche Wucht sind, lässt sich aus dieser auf jegliche Inszenierung verzichtenden Ästhetik nicht unbedingt gleich erahnen.

Doch Schnörkel, Pomp und die große Inszenierung liegen den Stuttgartern ohnehin nicht allzu sehr. Gitarre, Bass, Schlagzeug, ein paar Loops – mehr brauchen „Die Nerven“ nicht. Aus dieser sehr klassischen Zusammensetzung hat sich die Band recht schnell einen eigenständigen Sound-Entwurf geschaffen, der mit dem aktuellen, dritten Album „Out“ seine vorläufig schlüssigste Form gefunden hat: Treibende, ab und an ins Lärmige abdriftende Gitarrenriffs, ein hypnotischer Bass, präzise, druckvolle Drums und die abwechselnd von Knoth und Rieger in gleich kühlem Ton gesungenen Texte verbinden sich dort zu einer zwischen Post-Punk, Indie-Rock und Noise flirrenden, gleichzeitig retrospektiven und doch zeitgemäßen Musik. Neben „Human Abfall“ im Moment das Spannendste aus der Landeshauptstadt.

Schneller, roher, druckvoller

Live spielen „Die Nerven“ ihre Songs aber nach wie vor ein wenig schneller, deutlich roher und sehr viel druckvoller. Als sich die Band 2010 gründete, lautete die Devise „möglichst laut zu sein und möglichst viel Lärm zu machen“. Auf Platte ist davon nichts mehr zu spüren, auf der Bühne gilt das ein Stück weit noch immer.

Bereits beim ersten Lied wird die Bühne von der Band komplett ausgefüllt. „Die Nerven“ sind präsent, sie spielen auf den Punkt und mit einem feinen Sinn für Selbstironie. Als Schlagzeuger Kuhn das vollgeschwitzte Oberteil zu nass wird, es sich vom Leib zieht und es über dem Kopf kreisen lässt, denkt der Zuschauer: Gleich landet es im Publikum. Doch Kuhn nimmt das Oberteil brav zurück an seinen Platz, die Rockstarallüre bleibt nur angedeutet. Ironisch gebrochen auch, als Max Rieger kurz „Shine on you crazy diamond“ ansingt. Denn nichts könnte an diesem Abend weiter weg sein als der überbordende Prog-Pomp von Pink Floyd.

Anklänge von Sonic Youth, Swans, Blumfeld

Was dem geneigten Hörer bei dem Konzert stattdessen so in den Sinn kommt an Referenzen? Noisige Lärmwände à la Sonic Youth, der kühle-distanzierte Sound von Joy Division, die brachial-düstere Atmosphäre der Swans, der Gitarrenrock der zweiten Blumfeld-Platte oder auch der Deutschpunk der frühen Fehlfarben. Da „Die Nerven“ aber keine Epigonen sind, finden sich davon höchstens Versatzstücke im Repertoire.

Das Drei-Minuten-Stück „Hörst du mir zu“ vom 2014er Album „Fun“ etwa lassen sie genussvoll ausufern: mit Laut-Leise-Dynamik, Noise-Ausbruch und fast schon postrockigem Ausklang.

Was bei all dem Lärm fast ein wenig zu kurz kommt, sind die Texte. „Die Nerven“ vertreten darin eine Anti-Haltung, vermeiden jedoch die klare politische Verortung. Mögliche Referenzpunkte: einstürzende Neubauten, Tocotronic, Jens Rachut. Doch „Die Nerven“ sind antiutopische Realisten, keine zynischen Pragmatiker und singen über Hässlichkeit, das Scheitern, die Angst, den Dreck und die „Welt aus Zellophan“. Für „Die Nerven“ gibt es kein Innen und Außen mehr. Das Private ist insofern auch politisch. Was das Leben nicht unbedingt leichter macht. In „Hörst du mir zu“ heißt es „Das ist immer noch dein Leben / Auch wenn du selbst nichts mehr entscheidest“. So dynamisch die Musik, so statisch und ausweglos ist der Zustand, den die Band in ihren Texten beschreibt. „Die Nerven“ befinden sich, um mit Schorsch Kamerun zu sprechen, im Zentrum des rasenden Stillstands – „keine Lösung, kein Problem“ ist alles, was sie wollen.

Kein Vor, kein Zurück, während musikalisch alles nach vorne strebt: dieser Widerspruch macht die Band so spannend, so relevant. Und das Konzert so kurzweilig, dass es wirklich überhaupt keine Rolle spielt, wenn nach 70 Minuten die Verstärker ausgehen und bereits Schluss ist.

(Dieser Text erschien bereits am 31. Mai in der Waiblinger Kreiszeitung)