Dienstag, 26. Dezember 2006

Mehr als die Summe der einzelnen Teile








Sodele,

ich hoffe, ihr habt die Feiertage alle zusammen gut überstanden. Ich jedenfalls kann mich nicht beklagen. Da das Jahr sich nun bald zu Ende neigt, ist es an der Zeit, nicht nur Resumees zu ziehen, sondern auch nach vorne zu blicken und neuen Plänen entgegenzuschauen. Einigen unter euch konnte ich meine glorreiche Idee schon unterbreiten, mit der ich in das neue Jahr starten möchte, andere werden auf diesem Wege zum ersten Mal davon erfahren – und ich bin schon sehr gespannt, ob und wenn ja welche Reaktionen sie hervorrufen wird. Nun denn:

Vielleicht geht es ja einigen unter euch genau wie mir und ihr seid nicht nur an Musik interessiert und konsumiert sie, sondern lebt mit ihr und betrachtet sie als essenziellen Bestandteil eures Lebens. Und vielleicht erkennt auch ihr ein gewaltiges Defizit, was gute und leidenschaftliche Medien über Musik betrifft. Als ehemaliger Stammleser diverser Musikmagazine weiß ich davon ein Lied zu singen, denn abgesehen von einigen Foren im Internet bewegt mich die musikalische Presselandschaft hierzulande nicht mehr wirklich. Dass die gute alte SPEX jetzt auch noch dem Altar des Kommerzes geopfert werden soll, gab mir den endgültigen Anstoß, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Dem guten alten DIY-Prinzip folgend möchte ich also die Welt mit leidenschaftlichen, sachlichen, informativen, witzigen, unterhaltsamen Texten beglücken. Und ihr dürft mir dabei helfen, ein solches Medium auf die Beine zu stellen und es maßgeblich mitzugestalten. Denn alleine erreicht man selten viel – und mehrere Perspektiven sind immer erhellender und interessanter als eine einzige.

Früher hätte ich mich wohl einfach hingesetzt, Texte gesammelt, sie zusammengetackert und als Fanzine unter die Leute gebracht. Aber das ist zu aufwändig und kostspielig. Deshalb soll das ganze im Internet stattfinden. So können nicht nur potenziell viel mehr Menschen erreicht werden, das ganze ist auch organisatorisch viel einfacher zu bewerkstelligen. Und so kann auch jeder nach Gusto Videos, Bilder oder mp3s hinzufügen. Welchen Namen, welchen Umfang und welchen Grad an Professionalität die Sache erreichen wird hängt natürlich maßgeblich davon ab, wie viele Menschen meiner Idee etwas abgewinnen können. Ansonsten werde ich wohl weiter vor mich hinwerkeln und den Zeittotschläger füttern, was auch nicht schlecht, aber doch bedeutend weniger ist. Ganz simpel ließe sich das ganze als Blog aufziehen: verursacht gestalterisch den geringsten Aufwand, jeder muss sich nur anmelden, kann seinen Senf dazu geben und fertig. Eine richtige Homepage wäre natürlich reizvoller, aber auch aufwändiger – und es müsste sich jemand (DB z.B.?) dazu bereit erklären, eine schicke zu designen, damit das auch nach was aussieht. Aber prinzipiell ist mir der Inhalt natürlich wichtiger als die Form.

So, und jetzt macht mit der Idee was ihr wollt, schmunzelt drüber und vergesst sie oder seid von meiner leichten Euphorie angesteckt, aber denkt dran: „Alles verändert sich, wenn du es veränderst / Doch du kannst nicht gewinnen, solange du allein bist!“

P.S. Dass gestern der kongeniale James Brown verstorben ist, soll an dieser Stelle natürlich nicht unerwähnt bleiben. RIP Mr. Godfather of Soul!

Mittwoch, 20. Dezember 2006

Boogie Down Brown



















Und noch ein besonders anschauliches Beispiel dafür, wie sehr heute die Reflexion verloren gegangen und von einer törichten, negativen, klischeehaften Selbstzuschreibung à la "Der Neger" abgelöst wurde. Ich könnte sicher Stunden damit verbringen, darüber zu diskutieren. Stattdessen lasse ich aber lieber die schlauen Worte des jungen Denyo für sich sprechen. Schließlich wird Flashnizm, das erste Album der Beginner, mit all seinen vielen kreativen Ideen, dem Einsatz echter Instrumente und des jugendlichen Idealismus leider viel zu oft unterschätzt...


BOOGIE DOWN BROWN (Absolute Beginner, 1996)

Sieh mich an, kannst du mich sehn, sieh mich noch mal an
Guckst du genau hin, wirst Du's sehn, ich komm aus HH, Mann
Hab nen Veermaster gesehn, da hast du noch in deine Windeln geschissen
Und deine Ködel gefressen, dich damit beschmissen
Das hättste nicht gedacht
In der Dunkelheit hast du mich nicht gesehn, jetzt hab' ich Licht gemacht
und ich war immer da, nimmer da
An dem Ort, wo die meisten denken, daß ich dort schon immer war
ich brauch ein Vibe, "ein Weib?", nein, ein Vibe
Viele neue Vibes, damit ich vorantreib
Nehm mir ein Stück Vibe von hier und ein Stück Flash von dort
Pack dann alles zusammen, denk mir die Mischung macht's
Bin es manchmal leid, ein Stück von hier, ein Stück von dort zu sein
reiß mich zusammen, denk mir meine Mischung macht's
Ich wusste früh, ich wollt' kein Deutscher sein, spät war mir klar
Meine Fahne weht auch nicht in Afrika

Gäb' es keinen Mix, wär DJ MAD nicht auf der Welt
Ich laß es flown wie nix nur durch meine Mixtur
Hits durch Tips und Tricks und Styles und Snares und Kicks
Ich bin ein Mischling, misch mich ein und mische mit
Aah, ich bringe Farben, die euch entzücken
und baue Brücken von Rot zu Gelb, zu Grün, zu Schwarz, zu Weiß
"Zu heiß" ich sage nur was ich denke
Sicher viele stolze Schwarze, die ich kränke
doch nur 'n HamburgMedaillon wär, so wie's echt wär
Mein Kopf ist voll mit dieser Stadt, ohne sie wär's echt leer
Ich habe Dreads, komme nicht aus Jamaica
Bin auch kein Gee, weil ich noch nie bei einem GangFight war
Keine Rudeboy, meine Zunge nicht so schnell wie deine
Rhythmus nicht im Blut, weil ihn zu lern' für mich nicht leicht war
Ich liebe meine Farbe und hasse meine Rasse
Wenn ich durch sie mich in 'ne Klasse presse
Und mich an Werten messe, die als farbenunterscheidende Manie
Tausende das Leben kostete

... frisch auf einem Plattenteller serviere ich
das RapMenü weder Fleisch noch Fisch auf deinen Tisch
geb dir 'nen Tip bevor Du mir nen Tip gibst in deiner Tasche wühlst
dich dann von mir noch ausgebeutet fühlst
braun und deutsch im Heim heimatlos sein
ohne Stolz kein Sinn mit nur noch "IN" sein
"cool" ich bin so cool wie Superman in seinem Trikot
aaah, ich bin braun, wo ist der schwarze ComicHeld?
Das stimmt mich traurig
Zweifel, frustriere
nicht und wähle HipHop Kanäle kanalisiere
der Lifestyle macht mich glücklich wieder
ich hol tief Luft, N frischen Wind und stärke meine Glieder
mein Gedanke ein Dank, der an FlashGott geht
ohne Kreuz, weil sich alles im eigen Kopf dreht
bunte Künste, scheiss auf Herkunft, Haut, Geschlecht und schaut
zu wie wir entstehen und weitergehn ...

Montag, 18. Dezember 2006

Simpsons Christmas Story

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte und eine (leider) eher dämliche Episode, aber es sind immer noch die Simpsons... Und für alle, die eine klassische, sentimentale Weihnachtsgeschichte suchen hier das allererste Christmas Special der Simpsons. Fröhliche Weihnachten!

Mo money - mo problems










Um mein Lamentieren über den Zustand des Hip Hop im Allgemeinen, sowie des deutschen im besonderen noch zu komplettieren, hier ein Text, der so in dieser Form heute wohl nicht mehr möglich ist. Vor lauter Bling Bling bleibt den armen Rappern gar keine Zeit mehr fürs Reflektieren. Billiger Materialismus ersetzt dabei die Kreativität und den Spaß - nicht so hier. Deshalb viel Spaß damit...

BLAUER SCHEIN (Torch)

Ich wurde geboren in Frankfurt am Main
In der Deutschen Zentralbank, als Hundert Mark Schein.
Der Vater heisst Krieg, ein Betrüger ein Lügner, ein Dieb,
Die Mutter ist die Gier, die täglich über uns siegt,
Die Kinder Zinsen auf internationalen Banken, die seit
Sie denken konnten nur kühle kalte Konten kannten.
Meine Opfer sind Menschen so wie du,
Ich geb euch die Illusion von Macht und ihr gebt Ruh.
So viele denken, ich gehöre ihnen,
Doch sie gehören alle mir - schau nur, wie sie mir dienen,
Ich kontrollier ihre Ziele und Träume, ihr Verhalten
Und Verlangen, bis sie mich zu vergöttern anfangen,
Bringe Paare zusammen, reiss Familien entzwei -
Und hört man von Streit, sei sicher ich war dabei,
Ich nahm Gott den Glauben und hab den Teufel getauft
Und auch...diese Platte wurde durch mich gekauft.
Alle meine Macht reicht so weit wie das Himmelsreich,
Blauer Samt, wie das Meer so weich und kalt zugleich,
Auch bei dir bin ich ein immer gern gesehener Gast, aber
Sieh dich vor, dass du dich nicht zu meinem Sklaven machst.

Er war angestellt, ackert hart für das Geld,
Freitag ist Zahltag - kaum zu Hause Nutte bestellt
...Er hielt mich so Fest in seiner Hand,
Doch wie schnell gab er mich frei, als sie in seinem Zimmer stand,
Gierig die Lippen geleckt, Chantré anstatt Sekt.
Mit feuchten Fingern hat er mich in ihren Ausschnitt gesteckt,
Gutes Geschäft, ne Nummer Hundert Mark,
Doch ihr Glück währte leider nur bis zum nächsten Tag.
Ihr Freund ein Verlierer, ein Schläger, Autoschieber,
Schräger Dealer, Hehler, Spieler, wie im Fieber
Den Zaster verprasst, vor lauter Hast
Nicht aufgepasst, von den Bullen gefasst,sitzt im Knast.
Den Kopf voller Koks hört er wie der Bulle sagt:
"Heut ist dein Glückstag, ich lass dich gehen fürn geringen Betrag".
So kam ich in die Uniform von nem Polizist, denn
Ich bin der Grund, warum man Recht und Gesetz vergisst.
Das Vokabular von Geld kennt kein Nein - und
Kennt ihr TORCH?...auch er fiel auf mich rein.
Auch der Pfarrer nahm mich feierlich auf, wie besessen,
Zelebrierte mich verehrte mich in seinen Messen,
Dankte mir mit weissem Brot und rotem Wein, denn
Nichts ist ihm so heilig wie der Blaue Heiligenschein.
In den vorderen Reihen sitzen die, die wissen was läuft.
Ich dachte Hip Hop sei anders, ihr habt mich ein bisschen entäuscht,
Kaum kam ich ins Spiel hab euch nicht wieder erkannt,
Werd immer wieder in eueren Liedern genannt,
Als Problem oder Held oder Ziel dir bekannt,
Ihr seht in mir etwas, was sich nie da befand.
Ich würde selber gerne wissen, wie das entstand,
denn helfen kann ich auch doch es liegt in deiner Hand...

DJ Danielson Koolism
Torch is chillin' Bou is Chillin'
What more can I say Top Billin'

Freitag, 8. Dezember 2006

Meister der Melancholie Teil 3

Schwarz, schwer und unendlich lang wie eine skandinavische Winternacht zieht dich Opeth wie in dieser Liveaufnahme des relativ heftigen The drappery falls hinab in ein tiefes, unentrinnbares Nichts. Es gibt keine Hoffnung, die ganze Schwere des Daseins, alles Leid, alles Negative, alles Tragische, Melancholische komprimiert sich hier in einer Musik, die göttlich und zugleich teuflisch erscheint. In nur wenigen Momenten schaffen sie so eine schmerzhaft mitreißende Stimmung, die zu schaffen nur wenige Musiker imstande sind.
Dass sie dabei das klischeebehaftete Genre des Metals bedienen, kann nur jene abschrecken, welche Opeth noch nicht gehört und erlebt haben. Hier gibt es nämlich mehr als lange, fettige Haare, stinkende Jeans und verkrampftes Männlichkeitsgehabe. Sie schaffen es, auch und vor allem auf Blackwater Park - ihrem vielleicht besten Album - verschiedenste Stilmittel zu einer einzigartigen Stimmung zu komprimieren. Ausgehend von vom Grunzen dominiertem (und von mir wenig geschätztem) Death Metal gehen die Fähigkeiten der Band doch weit über diese eintönige, mit der Zeit extrem nervige Sparte hinaus und so erschaffen sie etwas, das im weitesten Sinne als Prog bezeichnet werden könnte. Selten wurden Gegrunze, Double-Bass, melancholische, wunderschöne Melodien und ausgefeiltes Songwriting besser in Einklang gebracht. Und selten gelang es einer Band, kraftvollere, rundere, tiefere und bewegendere Musik zu kreieren. Gerade in diesen dunklen Tagen die beste Musik, um die – aufgrund des ausfallenden Schnees besonders ausgeprägten – Winter- depressionen zu pflegen…
Und all jenen, die The drappery falls als zu Death Metal-lastig und hart empfinden, seien an dieser Stelle zwei weitere, gänzlich Death-Metal-freie Songs ans Herz gelegt: noch ein wunderschönes Lied aus Blackwater Park : Harvest - und der Opener aus dem ruhigsten Album Damnation (2002): Windowpane.

The drappery falls

"Please remedy my confusion
And thrust me back to the day
The silence of your seclusion
Brings night into all you say
Pull me down again
And guide me into pain
I'm counting nocturnal hours
Drowned visions in haunted sleep
Faint flickering of your powers
Leaks out to show what you keep
Pull me down again
And guide me into
There is failure inside

This test I can't persist
Kept back by the enigma
No criterias demanded here
Deadly patterns made my wreath
Prosperous in your ways
Pale ghost in the corner
Pouring a caress on your shoulder
Puzzled by shrewd innocence
Runs a thick tide beneath
Ushered into inner graves
Nails bleeding from the struggle
It is the end for the weak at heart
Always the same
A lullaby for the ones who've lost all
Reeling inside
My gleaming eye in your necklace reflects

Stare of primal regrets
You turn your back and you walk away
Never again
Spiralling to the ground below
Like Autumn leaves left in the wake to fade away
Waking up to your sound again
And lapse into the ways of misery"




Blackwater Park (2000)








Damnation (2002)

Donnerstag, 7. Dezember 2006

Main Concept - Der 58er (2003)

Ja, es gibt noch deutschen Hip Hop, der etwas zu sagen hat jenseits von "Ich bin der Größte und alle anderen sind wack" oder es zumindest sympathischer verpackt. Und es gibt noch Hip Hop mit Beats zum zurücklehnen und entspannten Scratches. Und es gibt tatsächlich noch Hip Hop in Minga - jenseits von Blumentopf. Mit Sicherheit ist "Der 58er" nicht das Beste, was David Pe und Main Concept zu bieten haben, die einst im Jahre 2000 das Kunststückchen vollbrachten, ein ganzes Album (Plan 58) nur mit Freestyles zu füllen. Aber im Kontext der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes herausragend... Viel Spaß damit!

Samstag, 2. Dezember 2006

Abschied

WIE hab ich das gefühlt was Abschied heißt.
Wie weiß ichs noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wärens alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig losgeflogen.

(Rainer Maria Rilke, 1907)

Donnerstag, 30. November 2006

Lethargie



Es gibt diese Momente, da wird einem die ganze Sinnlosigkeit allen Handelns und Seins so offenbar, dass jede Motivation, überhaupt etwas zu tun schlagartig erlahmt. Anstatt in das (Welt-)Geschehen in irgendeiner Form einzugreifen, lässt man sich fatalistisch treiben. Alles passiert einfach, nichts wozu eine Anstrengung lohnen würde, kein Ziel mehr vor Augen, reine Bedürfnisbefriedigung, kein Wille - nur Vegetieren, keine Veränderung - nur Beobachtung.
An der Stelle wird es zur Herausforderung, NICHT zum Zyniker oder Nihilisten zu werden. Weshalb auch nicht? Jeder Idealismus ist letztlich zum scheitern verdammt, wenn er nicht zum Glaube wird. Aber woran sollen wir denn noch glauben? Und weshalb? Was soll das überhaupt? Und wieso lässt sich jener Knopf im Kopf einfach nicht finden, mit dem sich das Denken ausschalten lässt?

Samstag, 18. November 2006

Insomnia

"Making excess / mess in darkness / No electricity, Something's all over me, greasy / Insomnia please release me / and let me dream of making mad love to my girl on the heath / Tearing off tights with my teeth / But there's no release, no peace / I toss and turn without cease / Like a curse / I open my eyes and rise like yeast”

Manch einer wird sich noch erinnern an dieses Lied, das Mitte der Neunziger überall zu hören war und zu den wenigen House-Tracks zählt, die ich heute noch gerne höre. Nun, wie komme ich bloß darauf, plötzlich über House zu schreiben? Die Antwort ist einfach: mir geht es ähnlich wie Maxi Jazz. I can’t get no sleep – und das schon seit beinahe sechs Wochen. Die Welt um einen herum erscheint mit der Zeit immer surrealer, ich fühle mich abwechselnd high und down, hibbelig und lethargisch, voll aufnahmebereit und weit weit weg. Das wirklich faszinierende ist, dass sich der Körper überlisten lässt, dass er den fehlenden psychischen Ausgleich kompensieren kann, dass ich dennoch funktioniere.

Mitten in der Nacht aufzuwachen und auf einen Schlag hellwach zu sein hat schon etwas extrem unangenehmes. Nach zwei Stunden Schlaf am nächsten Abend dann partout nicht einschlafen zu können, sich beinahe zwei Stunden im Bett zu wälzen, um dann – endlich eingeschlafen – nach drei Stunden schon wieder im Bett stehen zu müssen, macht schon direkt wütend, wäre man nicht durch den Mangel an Schlaf so geschwächt.

Und nun? Ich fange an, mich an meine Insomnie zu gewöhnen, nutze die Zeit, mich in sinnlose Gedanken zu versteigen, die Welt zu verfluchen und hoffe, dass meine Schlaflosigkeit sich nicht in eine allgemeine Boshaftigkeit gegen die Welt entwickelt. Denn neben der allgemeinen Ambivalenz der Gefühle, die sie bei mir auslöst, macht sie mich unausgeglichen und reizbar gegenüber meinen Mitmenschen. So sitze ich an diesem trüben Samstagnachmittag an meinem Fenster, starre apathisch in die spätherbstlich entblätterten Äste der Bäume gegenüber, doch wie sang schon 1963 der inzwischen mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Wolf Biermann: „Wartet nicht auf bessre Zeiten / Wartet nicht mit eurem Mut / Gleich dem Tor, der Tag für Tag / An des Flusses Ufer wartet / Bis die Wasser abgeflossen / die doch ewig fließen“…

Sonntag, 12. November 2006

Femme fatale















"Frauen sind mehr innerweltlich orientiert als Männer, sie stehen dem Körper näher, schützen sich mehr gegen aussen. Frauen sind Gemälde. Männer sind Probleme. Wenn Sie wissen wollen, was eine Frau wirklich meint - was übrigens immer ein gefährliches Unterfangen ist - sehen Sie sie an, und hören Sie ihr nicht zu. "

"Die Stärke der Frauen rührt aus der Tatsache her, daß die Psychologie sie nicht zu deuten vermag. Männer kann man analysieren, Frauen nur anbeten."

(Oscar Wilde)

FEMME FATALE
(The Velvet Underground & Nico)

Here she comes, you better watch your step
She's going to break your heart in two, it's true
It's not hard to realize
Just look into her false colored eyes
She builds you up to just put you down, what a clown

'Cause everybody knows (She's a femme fatale)
The things she does to please (She's a femme fatale)
She's just a little tease (She's a femme fatale)
See the way she walks
Hear the way she talks

You're written in her book
You're number 37, have a look
She's going to smile to make you frown, what a clown
Little boy, she's from the street
Before you start, you're already beat
She's gonna play you for a fool, yes it's true

'Cause everybody knows (She's a femme fatale)
The things she does to please (She's a femme fatale)
She's just a little tease (She's a femme fatale)
See the way she walks
Hear the way she talks

Samstag, 11. November 2006

Dazed and confused ?!
















Zwischen den Bahngleisen, unweit der Biegung des Flusses spiegelt sich mein eigenes Ich im ganzen Spektrum seiner Farben. Züge rollen ungefragt, Menschen gehen ohne zu sehen, ich höre den Wind und stell mir tausend Fragen. Doch bald schon merke ich: ohne dich macht alles keinen Sinn. Du bist die große Ungefragte, Monolith des Geistes, Manifestation der Unvernunft. Wer kann dich sehen? Werd ich dein Wesen je verstehen? Oder bleib ich einfach stehen, hier und jetzt, für immer gefangen in diesem Moment, dieser Sekunde voller Zweifel, Dunkelheit und Kälte? Was kann, was will, was vermag ich noch zu wissen? Und wohin soll ich damit? "Zur Hölle - wo liegt das?"
 

DAZED AND CONFUSED
(Led Zeppelin - grandioses Live-Video von 1969)

"Been dazed and confused for so long its not true / Wanted a woman, never bargained for you / Lots of people talk and few of them know / Soul of a woman was created below / You hurt and abused tellin all of your lies / Run around sweet baby lord how they hypnotize / Sweet little baby, I dont know where you've been / Gonna love you baby, here I come again / Every day I work so hard Bringin home my hard earned pay / Try to love you baby, but you push me away / Don't know where youre goin' Only know just where youve been / Sweet little baby, I want you again / Been dazed and confused for so long, its not true / Wanted a woman, never bargained for you / Take it easy baby, let them say what they will / Will your tongue wag so much when I send you the bill?"

Freitag, 10. November 2006

Das Wunder der Systemfunktion


In was für einer Gesellschaft leben wir eigentlich? Und in welcher würden wir gerne leben? Diese Fragen sind mir in letzter Zeit oft durch den Kopf gegangen. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Fragmentierung ist es an der Zeit, sich ernsthaft darüber Gedanken zu machen, in welche Richtung unsere Gesellschaft driftet. Und allzu gutes gibt es da nicht zu konstatieren. Ohne in mein übliches NPD-Lamento zu verfallen: es gibt ein gewaltiges rechtsextremes Potenzial in dieser Republik. Da stimmen laut einer aktuellen Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ganze 15,2 Prozent der Aussage „Wir sollten einen starken Führer haben, der … mit starker Hand regiert“ zu und gute 37 Prozent sind der Meinung „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen“. Und immerhin noch 10,1 Prozent sind der Überzeugung, es gäbe „wertvolles und unwertes Leben“. Auf der anderen Seite nun befürworteten es in der ersten großen Studie zu Islam und Gewalt in Deutschland Ende der 90er Jahre 24,3 % der türkischstämmigen Jugendlichen, „andere Menschen zu erniedrigen, wenn es der islamischen Gemeinschaft dient.“ Und weitere 24,2% der Befragten stimmten der folgenden Aussage zu: „Wenn jemand gegen den Islam kämpft, muß man ihn töten.“
Wie schaffen wir es also bloß jeden Tag aufs Neue, dieses Land und die Menschen, die in ihm leben, zusammenzuhalten? Wie kann es sein, dass wir nicht schon längst auf einen Bürgerkriegszustand hinsteuern? Oder tun wir das etwa und verschließen wir davor willentlich die Augen? Wir sind eine pluralistische Gesellschaft, in der jeder mit seinen Ansichten, sofern sie nicht menschenverachtend sind, Platz findet. Solange die Demokratie noch integrationsfähig ist, kann sie auch mit den (wie im obigen Bild ersichtlich geistesverwandten) extremistischen Positionen leben. Aber was passiert, wenn laut aktuellem ARD-Deutschland-Barometer 51 % der Bevölkerung nicht mehr so recht an die Funktionsfähigkeit des Systems glauben möchte und zwei Drittel schon der Überzeugung sind, in diesem Lande herrschten ungerechte Verhältnisse? Vielleicht ist es an der Zeit, die Verhältnisse wieder ein wenig zum Tanzen zu bringen…

Samstag, 4. November 2006

"It's bigger than hip-hop"














Es passiert mir in letzter Zeit recht häufig, dass ich etwas schief angeschaut werde, wenn ich erwähne, dass auch Hip Hop zu meinem musikalischen Repertoire gehört. Die Assoziation meiner Mitmenschen hat dann meist wenig bis gar nichts mit dem zu tun, was ich unter (gutem) Hip Hop verstehe und höre und setzt sich zumeist aus Nelly, 50 Cent, Sido oder Eko und Konsorten zusammen. Dass ich mit diesen Gestalten allesamt nichts anfangen kann, ich sie eher als lächerliche Narzissten ohne nennenswerte Skills empfinde und generell ein Problem mit dem „Hip Hop“ des 21. Jahrhunderts (der zumeist eine Mischung aus schlechtem R’n’B und schlechterem Gangstarap darstellt) habe, dürfte den meisten wohl bekannt sein.

Wie aber jemanden, der durch das mainstreampopmusikalische Phänomen Hip Hop geprägt wurde erklären, was diese nun bald schon dreißig Jahre alte Jugendkultur einst ausmachte? Da bin ich zugegebenermaßen überfordert, fange an mit den Siebzigern, den Ghettos, dem Do-It-Yourself-Prinzip, den drei Säulen der Hip Hop-Kultur, den alten Meistern, der Old School, der New School, den Native Tounges, die ganze Litanei – und mein Gegenüber ist entweder schon ganz wo anders mit seinen Gedanken oder hat Probleme, seine Vorstellungen von Bling Bling mit dem Conscious Style etwa eines KRS-One in Einklang zu bringen. Und genau derselbe Verlust an Wissen um die Möglichkeiten dieses Lebensstils ist bei den neuen Hip Hop-Heads zu beobachten.

So zerfällt mit der Zeit die gesamte Kultur, und zurück bleibt (neben ein paar wenigen ernst zu nehmenden Rappern) eine im Großen und Ganzen ziemlich belanglose, funktionale Popmusiksparte und jede Menge fehlgeleitete Jugendliche. Das ist so bedauerlich wie ärgerlich und ich wüsste auch nicht, wie diese Entwicklung wieder umzudrehen wäre. Stattdessen greife ich einfach zum Altbekannten und Bewährten, um mich immer wieder aufs Neue zu wundern wie frisch und aktuell doch viele Sachen auch heute noch klingen und wie altbacken, hölzern (von Flow scheinen viele wohl noch nie etwas gehört zu haben) und gewollt doch so vieles im aktuellen Hip Hop klingt – sofern sich überhaupt noch von so einer Kultur sprechen lassen kann… Ein grandioses Beispiel für massentauglichen, beat- und flowtechnisch einwandfreien, immer noch zeitgemäßen und inhaltsreichen Hip Hop, in diesem Fall aus Frankreich sind NTM mit ihrem 1998er Laisse pas trainer ton fils (zu deutsch: Lass deinen Sohn nicht einfach auf der Straße rumhängen), das mir momentan nicht mehr aus dem Kopf geht, und das ich euch – youtube sei Dank – nicht vorenthalten möchte…


LAISSE PAS TRAINER TON FILS


A l'aube de l'an 2000
Pour les jeunes c'est plus le même deal
Pour celui qui traîne, comme pour celui qui file
Tout droit, de tout façon y a plus de boulot
La boucle est bouclée, le système a la tête sous l'eau
Et les jeunes sont saoulés, salis sous le silence
Seule issue la rue même quand elle est en sang
C'est pas un souci pour ceux qui s'y sont préparés, si ça se peut
Certains d'entre eux même s'en sortiront mieux
Mais pour les autres, c'est clair, ça s'ra pas facile
Faut pas s'voiler la face, il suffit pas d'vendre des "kill"
Faut tenir le surin pour le lendemain
S'assurer que les siens aillent bien
Eviter les coups de surin
Afin de garder son bien intact
Son équipe compacte, soudée, écoute de scanner pour garder le contact
Ou décider de bouger, éviter les zones rouges, et
Surtout jamais prendre de congés
C'est ça que tu veux pour ton fils ?
C'est comme ça que tu veux qu'il grandisse ?
J'ai pas de conseil à donner, mais si tu veux pas qu'il glisse
Regarde-le, quand il parle, écoute-le !
Le laisse pas chercher ailleurs, l'amour qu'y devrait y avoir dans tes yeux

{Refrain:}
Laisse pas traîner ton fils
Si tu ne veux pas qu'il glisse
Qu'il te ramène du vice
Laisse pas traîner ton fils
Si tu veux pas qu'il glisse


Putain, c'est en me disant : "J'ai jamais demandé à t'avoir !"
C'est avec ces formules, trop saoulées, enfin faut croire
Que mon père a contribué à me lier avec la rue
J'ai eu l'illusion de trouver mieux, j'ai vu
Ce qu'un gamin de quatorze ans, avec le décalage de l'âge
Peut entrevoir, c'était comme un mirage
Plus d'interdit, juste avoir les dents assez longues
Pour croquer la vie, profiter de tout ce qui tombe
La rue a su me prendre car elle me faisait confiance
Chose qui avec mon père était comme de la nuisance
Aucun d'entre nous n'a voulu recoller les morceaux
Toute tentative nous montrait qu'on avait vraiment trop d'ego
Mon père n'était pas chanteur, il aimait les sales rengaines
Surtout celles qui vous tapent comme un grand coup de surin en pleine poitrine
Croyant la jouer fine. Il ne voulait pas, ne cherchait même pas
A ranger ce putain d'orgueil qui tranchait les liens familiaux
Chaque jour un peu plus
J'avais pas l'impression d'être plus coté qu'une caisse à l'argus
Donc j'ai dû renoncer, trouver mes propres complices
Mes partenaires de glisse Désolé si je m'immisce

{au Refrain}

Que voulais-tu que ton fils apprenne dans la rue ?
Quelles vertus croyais-tu qu'on y enseigne ?
T'as pas vu comment ça pue dehors
Mais comment ça sent la mort ?
Quand tu respires ça, mec, t'es comme mort-né
Tu finis borné
A force de tourner en rond
Ton cerveau te fait défaut, puis fait des fonds
Et c'est vraiment pas bon quand t'en perd le contrôle
Quand pour les yeux des autres, tu joues de mieux en mieux ton orle
Ton orle de "caï-ra", juste pour ne pas
Qu'on te dise : "Voilà tu fais plus partie de la "mille-fa" d'en bas"
C'est dingue mais c'est comme ça
Sache qu'ici-bas, plus qu'ailleurs, la survie est un combat
A base de coups bas, de coups de "tom-ba"
D'esquives et de "Paw !" de putains de "stom-bas"
Laisse pas traîner ton fils
Si tu veux pas qu'il glisse
Qu'il te ramène du vice
Non laisse pas traîner ton fils

{au Refrain}

Mittwoch, 25. Oktober 2006

"Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus"














Jaja, der Kinski... Wer erinnert sich nicht gerne an diesen völlig wahnsinnigen, aber genialen Schauspieler, der hin und wieder zu unkontrollierten und völlig maßlosen Wutausbrüchen neigte? Einige schöne Beispiele finden sich in der Doku "Mein liebster Feind" von Werner Herzog, der zusammen mit Kinski einige seiner wichtigsten Filme (Aguirre, Nosferatu, etc.) unter teils grenzwertigen Bedingungen drehte und mit seinen Eigenarten sehr vertraut war. Dass die Doku gleichermaßen eine Selbstdarstellung Herzogs wie Kinskis darstellt - geschenkt. Dafür bekommt der Zuschauer gleich zu Beginn eine legendäre Szene Kinskis geliefert: 1971 absolvierte er seinen letzten Bühnenauftritt unter dem Motto "Jesus Christus Erlöser - Klaus Kinski spricht das Neue Testament", der heftigste Reaktionen hervorrief. Zwei Minuten dieses Irsinns schafften es in den Film und bieten den perfekten Einstieg in die Psyche dieses wahnsinnigen Genies...

Sonntag, 22. Oktober 2006

Mein Name ist Mensch


Passau ist an diesem faulen Sonntag mal wieder komplett vernebelt und ich beschäftige mich mal wieder mit allen möglichen Dingen, nur nicht mit dem, was ich sollte. So zum Beispiel mit den alten TON STEINE SCHERBEN, die nun schon vor gut zwanzig Jahren das Zeitliche segneten – Rios zehnter Todestag war übrigens im August auch zu betrauern, alles also schon etwas länger her. Dessen ungeachtet erschien dieses Jahr der dritte Teil der legendären Live-Serie auf dem guten alten hauseigenen David-Volksmund-Label (dem ersten und ältesten deutschen Independent-Label mit der berühmten Schleuder). Für mich war LIVE III selbstverständlich ein Pflichtkauf, da die beiden Livealben der Scherben mit ihrer Energie & Spielfreude deren fünf regulare Scheiben (die Scherben selbst waren mit der Qualität ihrer Studioalben nie wirklich zufrieden) qualitativ in den Schatten stellten – eine echte Liveband eben – und zu meiner meistgehörten Musik zählen. So begab es sich daher, dass ich aus Mangel an Plattenläden im örtlichen (sic!) DM meine erste Scherben-CD erstand. Dass diese in einem schicken Pappschuber fabriziert wurde und die CD astrein wie eine extrem kleine 7" aussieht (oben und unten schwarz, sogar mit Rillen) kam mir dabei natürlich entgegen und auch sonst wollte ich mich zunächst nicht beklagen: mit sechzehn Songs und 63 Minuten Laufzeit versprach das schicke Pappteil eine ordentliche Dosis TSS. Voller Enthusiasmus, vom Kaufrausch erfasst und vom letzten (und vielleicht besten) Rio-Album HIMMEL & HÖLLE im Kopfhörer gepusht schwang ich mich auf meinem Fahrrad Richtung CD-Player. Dass ich ihn noch enischaltete bevor ich dazu kam, meine Schuhe auszuziehen versteht sich natürlich von selbst. Doch dann… Enttäuschung? Ein wenig. Ernüchterung? Bestimmt. Ich weiß nicht woran es lag: an der modernen Mischung, daran dass es kein Vinyl ist, an der Song- und Instrumentenauswahl, aber irgendwie fehlte mir der right-in-your-face-sound, von dem vor allem LIVE IN BERLIN lebte und der hier einem sehr klaren, etwas höhenlastigen Klang wich. Das Album brauchte einige Zeit, auch da ich mich an die etwas seltsamen (aber letztlich doch guten) Interpretationen einiger Songs zu gewöhnen hatte.

Und jetzt? Nach drei Wochen hat LIVE III doch noch seinen verdienten Platz in meinem Regal gefunden, den es auch bei Gelegenheit verlässt. Unter den drei Livealben ist es, da aus drei Konzerten in drei verschiedenen Jahren zusammengesetzt, das seltsamste, das unzusammenhängendste, das abwechslungsreichste (mit Schwerpunkt auf den Songs der späten, mystischen Scherben, die sich allesamt stark von den Studioaufnahmen unterscheiden), aber vielleicht auch am wenigsten mitreißendste. Negativ aufgefallen ist mir insbesondere die Verwendung von Synthesizern, auf die bei den anderen beiden Livealben weitestgehend verzichtet wurde, was aber wohl in Anbetracht der Entstehungszeit im tiefen musikalischen Tal der Achtziger nicht weiter verwundern sollte, sondern in dem Kontext beinahe schon durch ihre Dezens glänzen. Besonders herauszuheben dagegen ist das wunderbare Der Turm stürzt ein, das den Turm wahrhaftig einstürzen lässt und die Originalversion auf der Schwarzen weit in den Schatten stellt: "Ruße in Beton und Stahl / müde alles Material /Hörst du das Flüstern im Land? / Jesus kommt trotz Pillenknick / Flöte hat mit Faust gekickt / Die Postbeamten tragen schwarz / ´ne Tonne Öl kost´ tausend Mark / Siehst du die Schrift an der Wand? / Der Turm stürzt ein / Hallelujah der Turm stürzt ein." Und so ist LIVE III letztlich auch ein stetiges Wechselbad von Schatten und Licht, bei dem doch letztlich die Gratwanderung gelingt. Der Traum ist also (doch) nicht aus...

Und nun, da der Nebel sich pünktlich um elf so langsam lichtet und die Sonne durch mein Fenster zu scheinen beginnt wende ich mich mal wieder den wichtigeren Dingen zu und ignoriere oder verdränge mal ganz einfach, dass so etwas wie eine „Ton Steine Scherben Family“, die sich tatsächlich als Nachfolgeband ausgibt, wirklich existieren soll, aber dazu ein andermal…

Die anderen beiden Livealben der Scherben:
1985 LIVE IN BERLIN





1996 LIVE II


Freitag, 20. Oktober 2006

Meister der Melancholie Teil 2














Ich erwähnte bereits, dass ich durch Elliott Smith auf Nick Drake kam. Zu Elliott wiederum kam ich (sic!) über eine Snippet-CD seines damaligen Albums Figure Eight in der INTRO, die ich zunächst nur ganz nett fand, weshalb ich mich nicht näher mit diesem Mann beschäftigte. Es zogen weitere drei Jahre ins Land, bevor ich (im Freien Radio für Stuttgart) auf Angeles stieß und schlichtweg fasziniert war. Ein solch eindringliches Stück Musik hatte ich lange nicht mehr gehört, und dieses kleine, leise, auf die Gitarre und seine Stimme reduzierte Lied sollte mich in den folgenden Jahren immer wieder begleiten. Der nächste Schritt führte mich in den Plattenladen und das zu Unrecht missachtete Figure Eight fand den Weg in meinen Gehörgang. Nach und nach erschloss sich so für mich das Universum eines sehr einsamen, depressiven und leider heroinabhängigen Songwriters. Denn wenige schaffen es wie er, Leichtigkeit und Tiefe so gut miteinander zu verbinden wie er, so dass er in manch einem seiner Songs schon mal wie ein melancholischer Brian Wilson klingt. Daneben gibt es aber auch immer die etwas schiefen, energischen und lauteren Songs, die seine Ursprünge in der ziemlich erfolglosen Grungeband Heatmiser erahnen lassen, aus der er sich Mitte der Neunziger löste, um der Welt sechs wunderbare Alben zu hinterlassen. Dabei sind seine Alben nie aufdringlich, eher unscheinbar (wie seine Person selbst) und brauchen deshalb ihre Zeit, um sich vollständig zu entfalten, wobei Figure Eight dabei vielleicht noch das eingängigste und direkteste darstellt. Elliott Smith starb 2004 unter nicht einwandfrei geklärten Umständen im Alter von nur 35 Jahren, innerlich und äußerlich durch seinen Drogenkonsum gezeichnet, ohne die Arbeit an seinem – schließlich erst posthum erschienen – Album From a basement on a hill vollenden zu können. R.I.P. Elliott!

Angeles

Someone's always coming around here trailing some new kill
Says I seen your picture on a hundred dollar bill
What's a game of chance to you, to him is one of real skill So glad to meet you
Angeles

Picking up the ticket shows there's money to be made
Go on and lose the gamble that's the history of the trade
Did you add up all the cards left to play to zero
Sign up with evil
Angeles

Don't start me trying now
Uh huh, uh huh, uh huh
Cause I'm all over it
Angeles

I could make you satisfied in everything you do
All your 'secret wishes' could right now be coming true
And be forever with my poison arms around you
No one's gonna fool around with us
No one's gonna fool around with us
So glad to meet you
Angeles

Diskografie


1994 Roman Candle


1996 Elliott Smith



1997 Either/Or



1998 XO


2000 Figure Eight




2004 From a basement on a hill

Mittwoch, 18. Oktober 2006

Prekarität ist überall

Als Beitrag zur aktuellen Debatte über die Prekarisierung der deutschen Gesellschaft, ange- stoßen durch den SPD- Vorsitzenden Kurt Beck und unterstützt durch die aktuelle Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung, die eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft konstatiert und 4% der West- und 25% der Ostdeutschen zum sog. "abgehängten Prekariat" rechnet, hier ein Auschnitt aus einem Text des 2002 verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu für alle, die etwas mehr Zeit für dieses spannende und wichtige Thema mitbringen:

„(…) Es ist deutlich geworden, dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tief greifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.

Zu diesen Folgen der Prekarität für die direkt Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach Verschonten. Doch sie läßt sich niemals vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt in allen Köpfen präsent (ausgenommen den Köpfen der liberalen Ökonomen, vielleicht deshalb, weil sie – wie einer ihrer theoretischen Gegner bemerkte – von dieser Art Protektionismus profitieren, den ihnen ihre tenure, ihre Beamtenstellung verschafft und die sie der Unsicherheit entreißt). Weder dem Bewußtsein noch dem Unterbewußten läßt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen längst nicht mehr nur auf den Qualifikationsebenen findet, flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, daß er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewisser Maßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg (daran erinnern ihn zumindest seine Arbeitgeber bei der geringsten Verfehlung und die Journalisten und Kommentatoren jeglicher Art beim nächsten Streik). Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind. Diese Art »kollektive Mentalität« (ich gebrauche diesen Begriff hier zum besseren Verständnis, obwohl ich ihn eigentlich nicht gern verwende), die der gesamten Epoche gemein ist, bildet die Ursache für die Demoralisierung und Demobilisierung, die man in den unterentwickelten Ländern beobachten kann (wozu ich in den 60er Jahren in Algerien die Gelegenheit hatte), die unter sehr hohen Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsraten leiden und permanent von der Angst vor Arbeitslosigkeit beherrscht werden.

Arbeitslose und Arbeitnehmer, die sich in einer prekären Lage befinden, lassen sich kaum mobilisieren, da sie die Fähigkeit, Zukunftsprojekte zu entwerfen, beeinträchtigt sind. Das ist jedoch die Voraussetzung für jegliches so genanntes rationales Verhalten, angefangen beim ökonomischen Kalkül oder, in einem völlig anderen Bereich, der politischen Organisation. Paradoxer Weise muß man – wie ich in meinem frühesten und vielleicht zugleich aktuellsten Buch über Arbeit und Arbeiter in Algerien gezeigt habe – wenigstens ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart haben, um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können, denn letzteres ist immer ein durchdachtes Bestreben, die Gegenwart unter Bezugnahme auf ein Zukunftsprojekt zu verändern. Im Unterschied zum Subproletariat verfügt der Proletarier über dieses Minimum an Gewißheit und Sicherheit, das die Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt die Idee in Betracht zu ziehen, die Gegenwart unter Bezug auf eine erhoffte Zukunft umzugestalten. Doch nebenbei bemerkt ist er eben auch jemand, der immerhin auch noch etwas zu verteidigen, etwas zu verlieren hat, nämlich seine auch noch so auszehrende und unterbezahlte Stelle, und viele seiner manchmal als allzu vorsichtig oder konservativ beschriebenen Verhaltensweisen rühren von der Furcht her, wieder ins Subproletariat zurückzufallen.

Wenn Arbeitslosigkeit heute in zahlreichen Ländern Europas so hohe Raten erreicht und Prekarisierung einen großen Teil der Bevölkerung, Arbeiter, Angestellte in Handel und Industrie, aber auch Journalisten, Lehrer und Studenten erfaßt, dann wird Arbeit zu einem raren Gut, das man sich um jeden Preis herbeisehnt und das die Arbeitnehmer auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern ausliefert, welche dann auch die ihnen auf diese Weise gegebene Macht, wie man Tag für Tag sehen kann, gebührlich gebrauchen bzw. mißbrauchen. Die Konkurrenz um die Arbeit geht einher mit einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist, ein Arbeit, die man, mitunter um jeden Preis, gegen die Erpressung mit der angedrohten Entlassung bewahren muß. Aufgrund dieser Konkurrenz, die mitunter genauso rüde ist wie diejenige der Unternehmen untereinander, kommt es zu einem regelrechten Kampf aller gegen alle, der sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichte macht, manchmal aber auch zu wortloser Gewalt. Diejenigen, die sich über den angeblichen Zynismus, den ihrer Meinung nach Männer und Frauen unserer Epoche an den Tag legen, beklagen, sollten zumindest auch den Zusammenhang mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen sehen, die einen solchen Zynismus begünstigen oder erforderlich machen, ja obendrein noch belohnen. Die Prekarität hat also nicht nur direkte Auswirkungen auf die von ihr Betroffenen (die dadurch außerstande geraten, sich zu mobilisieren), sondern über die von ihr ausgelöste Furcht auch indirekte Folgen für alle anderen – eine Furcht, die im Rahmen von Prekarisierungsstrategien systematisch ausgenutzt wird, wie etwa im Falle der Einführung der viel zitierten »Flexibilität«, von der wir ja wissen, daß sie ebenso politisch wie ökonomisch motiviert ist. Man wird den Verdacht nicht los, daß Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der ebenfalls viel zitierten »Globalisierung« gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens.

Das »flexible« Unternehmen beutet gewissermaßen ganz bewußt eine von Unsicherheit geprägte Situation aus, die von ihm noch verschärft wird. Es sucht die Kosten zu senken, aber auch diese Kostensenkung möglich zu machen, indem es Arbeitnehmer der permanenten Drohung des Arbeitsplatzverlustes aussetzt. Die gesamte Welt der materiellen und kulturellen, öffentlichen wie privaten Produktion wird auf diese Weise in einen breiten Prekarisierungsstrom hineingezogen, was sich beispielsweise an der Entterritorialisierung bzw. Standortunabhängigkeit der Unternehmen zeigen läßt: Die Verbindung, die bisher zwischen ihm und einem Nationalstaat oder einem Ort (z.B. Detroit oder Turin für die Automobilindustrie) existierte, löst sich nun zunehmend mit dem Aufkommen so genannter »Netzwerk-Unternehmen« auf, die sich durch die Verknüpfung von Produktionssegmenten, technologischem Wissen, Kommunikationsnetzwerken, sowie durch geographisch weit verzweigte Ausbildungswege über einen ganzen Kontinent oder gar den gesamten Globus erstrecken können. Durch die Erleichterung oder gar Organisierung der Kapitalmobilität und durch die »Produktionsverlagerung« in Billiglohnländer, in denen die Arbeitskosten niedriger liegen, hat man die Ausweitung der Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern auf Weltmaßstab möglich gemacht. An die Stelle des an einen nationalen Kontext gebundenen oder gar verstaatlichten Unternehmens, dessen Konkurrenzgebiet sich mehr oder weniger genau mit dem Staatsgebiet deckte und das sich Märkte im Ausland erkämpfte, ist das multinationale Unternehmen getreten, das die Arbeitnehmer nicht mehr nur der Konkurrenz mit ihren Landsleuten oder gar, wie Demagogen glauben machen wollen, mit den auf dem eigenen Staatsgebiet niedergelassenen Ausländern aussetzt, die ja ganz offenkundig die ersten Opfer der Prekarisierung sind, sondern in Wirklichkeit mit den zur Annahme von Elendslöhnen gezwungenen Arbeitern am anderen Ende der Welt.

Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen. Zur Kennzeichnung dieser Herrschaftsform, die, obschon sie in ihren Auswirkungen stark dem wilden Kapitalismus aus den Frühzeiten der Industrialisierung ähnelt, absolut beispiellos ist, hat jemand das treffende und aussagekräftige Konzept der Flexploitation vorgeschlagen. Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend den zweckrationalen Gebrauch, der von Unsicherheit gemacht wird. Indem man, besonders über eine Konzertierte Manipulation der Produktionsräume, die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern in den Ländern mit den bedeutendsten sozialen Errungenschaften und der bestorganisierten gewerkschaftlichen Widerstandskraft – lauter an ein Staatsgebiet und eine nationale Geschichte gebundene Errungenschaften – und den Arbeitnehmern in den, was soziale Standards anbelangt, am wenigsten entwickelten Ländern anheizt, gelingt es dieser Unsicherheit, unter dem Deckmantel vermeintlich naturgegebener Mechanismen, die sich schon dadurch selbst rechtfertigen, die Widerstände zu brechen und Gehorsam und Unterwerfung durchzusetzen.

Die von der Prekarität bewirkten Dispositionen der Unterwerfung bilden die Voraussetzung für eine immer erfolgreichere Ausbeutung, die auf einer Spaltung zwischen einerseits der immer größer werdenden Gruppe derer, die nicht arbeiten, und andererseits, die immer mehr arbeiten, fußt. Bei dem, was man ständig als ein von den unwandelbaren »Naturgesetzen« des Gesellschaftlichen regierten Wirtschaftssystemen hinstellt, scheint es sich meines Erachtens in Wirklichkeit vielmehr um eine politische Ordnung zu handeln, die nur mittels der aktiven oder passiven Komplizenschaft der im eigentlichen Sinne politischen Mächte errichtet werden kann. Gegen diese politische Ordnung kann ein politischer Kampf geführt werden. Und er kann sich, ähnlich wie karitative oder militant-karitative Bewegungen, zunächst zum Ziel setzen, die Opfer der Ausbeutung, all die gegenwärtigen oder potentiell Prekarisierten zu ermutigen, gemeinsam gegen die zerstörerischen Kräfte der Prekarität anzugehen (indem man ihnen hilft zu leben, »durchzuhalten«, einen aufrechten Gang und Würde zu bewahren, der Zersetzung und dem Verfall ihres Selbstbildes, der Entfremdung zu widerstehen). Darüber hinaus sollten sie vor allem auch ermutigt werden, sich auf internationaler Ebene, also auf derselben Ebene, auf der auch die Folgen der Prekarisierungspolitik wirksam werden, mit dem Ziel zu mobilisieren, diese Politik zu bekämpfen und die Konkurrenz zu neutralisieren, die sie zwischen den Arbeitnehmern erzeugen will.

Der politische Kampf kann aber auch versuchen, die Arbeitnehmer der Logik früherer Kämpfe mit ihrer Forderung nach Arbeit oder besseren Arbeitslöhnen zu entreißen, weil sich diese Logik einzig und allein auf die Arbeit versteift und dadurch sozusagen die Ausbeutung (oder Flexploitation) zuläßt. An deren Stelle könnte eine Umverteilung der Arbeit (z.B. über eine massive Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf europäischer Ebene) treten, eine Umverteilung, die untrennbar mit einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen der Zeit der Produktion und der Zeit der Reproduktion, der Erholung und der Freizeit verknüpft wäre. Eine solche Revolution müßte mit dem Verzicht auf die ausschließlich berechnende und individualistische Sichtweise beginnen, welche den handelnden Menschen auf ein kalkulierendes Wesen reduziert, das nur mit der Lösung von Problemen rein ökonomischer Art im engsten Sinn des Wortes befaßt ist. Damit das Wirtschaftssystem funktionieren kann, müssen die Arbeitnehmer ihre eigenen Produktions- und Reproduktionsbedingungen, aber auch die Bedingungen für das funktionieren des Wirtschaftssystems selbst einbringen, angefangen bei ihrem Glauben an das Unternehmen, an die Arbeit, an die Notwendigkeit der Arbeit usw. All diese Dinge klammern die orthodoxen Ökonomen a priori aus ihren abstrakten und verstümmelten Berechnungen aus und überlassen so die Verantwortung für die Produktion und Reproduktion all der verborgenen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für das Funktionieren der Wirtschaft, wie sie sie kennen, stillschweigend den Individuen oder paradoxer Weise dem Staat, dessen Zerstörung sie im übrigen predigen.“

Samstag, 7. Oktober 2006

Meister der Melancholie Teil 1










In der weiten Welt da draußen gibt und gab es einfach schon immer viel zu viele unglückliche, traurige und melancholische Menschen. An die meisten wird sich leider kaum jemand mehr erinnern, sollten sie einmal freiwillig oder unfreiwillig aus dieser Welt getreten sein. Manche aber hinterlassen etwas, eine Familie, Kinder, Freunde. Und einige wenige bleiben auch im kollektiven Gedächtnis – durch ihre Taten, ihre Ideen, ihre Worte, ihre Musik. Einem dieser Menschen namens Nick Drake, dem die seltene Gabe gegeben war, seine Melancholie in Kreativität verwandeln zu können und der zu Unrecht in Vergessenheit geriet, bin ich in den letzten Wochen durch seine Musik näher gekommen und er wurde mir so zu einem tröstlichen Begleiter. Dass es gerade seine wunderschöne, tröstliche Musik war, an der er letztlich zu Grunde ging – und viel zu früh an einer Überdosis Antidepressiva starb – ist nicht minder tragisch wie der Werdegang eines seiner größten Bewunderer, dem ebenfalls mehr als begnadeten Songwriter Elliott Smith, der ein ähnliches Schicksal nahm, viel zu früh verstarb und dessen Tod bis heute nicht ganz eindeutig geklärt ist. Über eben jenen Elliott Smith gelangte ich nun auch zu Nick Drake, dessen letztes, sparsam instrumentiertes und vielleicht schönstes Album Pink Moon es mir seitdem besonders angetan hat. Er starb 1974 mit gerade mal 26 Jahren und brachte es in dieser Zeit auf ganze drei Alben von solcher Wirkungsmächtigkeit und Schönheit, dass die meisten Musiker davon Zeit ihres Lebens lediglich träumen können. Der River Man aus dem ersten Album Five Leaves Left sei hier stellvertretend angeführt für ein musikalisches Vermächtnis, das hoffentlich noch lange ausstrahlen wird:


RIVER MAN
Betty came by on her way
Said she had a word to say
About things today
And fallen leaves.

Said she hadnt heard the news
Hadnt had the time to choose
A way to lose
But she believes.

Going to see the river man
Going to tell him all I can
About the plan
For lilac time.

If he tells me all he knows
About the way his river flows
And all night shows
In summertime.

Betty said she prayed today
For the sky to blow away
Or maybe stay
She wasnt sure.

For when she thought of summer rain
Calling for her mind again
She lost the pain
And stayed for more.

Going to see the river man
Going to tell him all I can
About the ban
On feeling free.

If he tells me all he knows
About the way his river flows
I dont suppose
Its meant for me.

Oh, how they come and go
Oh, how they come and go

Diskografie

1969 Five leaves left



1970 Bryter Later



1972 Pink Moon

Mittwoch, 4. Oktober 2006

Adams Äpfel














Ein verrückter, lakonischer Film über Hoffung, Verzweiflung und die Herausforderungen, die das Leben einem Menschen abverlangt. Kein Meisterwerk, beileibe nicht, aber eine Ode an das Leben, ein seltsames, tragikomisches dänisches Stück Filmgeschichte – eine „Komödie über Gutmenschen und Unverbesserliche“.

Die grobe Handlung: ein Neonazi kommt aus dem Knast und wird dazu verdonnert, drei Monate auf dem Land bei einem Pfarrer zu verbringen, um dort seine Reue unter Beweis zu stellen und trifft dort auf weitere gescheiterte Existenzen. Neben einem schießwütigen, verbitterten, aber nichtsdestotrotz urkomischen Saudi trifft er noch auf einen ehemaligen Tennisprofi und Triebtäter, der sich inzwischen dem Alkohol und der Völlerei verschrieben hat. Zusammen müssen sie nun ihr Leben meistern.

Die einzige Herausforderung: jeder hat sich einer selbst gewählten Aufgabe zu stellen, die er zu meistern hat. Der etwas verdutzte und zunächst völlig desinteressierte Adam wählt die Option, sich um den hofeigenen Apfelbaum zu kümmern, und von seinen, eben Adams Äpfeln, einen Apfelkuchen zu backen. Was dann passiert ist manchmal absurd, bisweilen traurig, meistens komisch, mitunter (im ursprünglichen Wortsinne) fantastisch, aber durchaus mit Tiefgang. Das fanatisch christliche Weltbild des Pfarrers Iwan, der alles Böse aus der Welt zu verbannen versucht, wie die nationalsozialistische Ideologie Adams, die nur das Böse zulässt, werden im Laufe des Films auf die Probe gestellt.

Diese kleine, nachdenkliche Geschichte des Regisseurs von „In China essen sie Hunde“ und „Dänische Delikatessen“ ist ihr Geld auf jeden Fall wert und die Fabel über Mangel (oder Übermut) an religiösem Glauben, menschlichen Schwächen und der Frage, wie viel Güte (oder Leiden) ein Mensch ertragen kann, dürfte meines Wissens im Moment auch noch in ausgewählten Qualitätskinos zu bestaunen sein...

Freitag, 29. September 2006

Safarinachmittag



















Vor wenigen Jahren betrat mit PeterLicht eine sehr eigenwillige Künstlerpersönlichkeit die Bühnen der deutschen Musiklandschaft. Von mir nur am Rande wahrgenommen, da zwar für nett, aber (fälschlicherweise) nicht sonderlich wichtig erachtet, errichtete er seit seinem Semi-Hit "Sonnendeck" im Sommer 2001 nach und nach sein eigenes kleines, verschrobenes musikalisches Universum, bevor er mit seinen "Liedern vom Ende des Kapitalismus" - laut SZ "beste deutsche Platte seit sehr langer Zeit", die für die "Nullerjahre das werden könnte, "was Fehlfarben für die verkorksten Achtziger und Blumfeld für die rastlosen Neunziger waren: Pamphlet, Manifest, Programm" - plötzlich wieder in mein Bewusstsein trat. Im Februar 2006 präsentierten die Münchener Kammerspiele die Uraufführung von "Wie werden siegen. Und das ist erst der Anfang", das auf der Musik und Texten von PeterLicht basiert. Diesmal begann ich ich mich etwas näher mit diesem Künstler zu beschäftigten, der seine Verweigerungshaltung so weit trieb, dass es lange Zeit nicht mal ein Foto von ihm gab und er bei Konzerten hinter einem Bettlaken auftrat, meine Gehirnwindungen öffneten sich Stück für Stück, bis ich schließlich eines schönen Tages mit dem Safarinachmittag Bekanntschaft machte. Die Musik wusste mich sofort zu begeistern, auf den ersten Blick wirkte der Text jedoch reichlich absurd, mit der Zeit ergaben sich dann Zusammenhänge, Bilder entstanden, die sich nicht in Worte fassen ließen, so dass er mir seitdem im Kopf herum schwirrt, mich nicht mehr verlässt und immer wieder aufs neue fröhlich und zugleich melancholisch stimmt:


Safarinachmittag

an einem hundsgewöhnlichen safarinachmittag
fuhr ich raus in die steppe
in die steppe vor der stadt
irgendwann muss ich dich dann getroffen haben
irgendwann saßt du dann im safariwagen
irgendwann begannen wir zu lachen
das ging auf kosten unsrer rachen
und da das lachen immer lauter wurde
bekamen wir davon gehirnerschütterungen

deshalb ließen wir die hirne ruhen
und fuhren weiter im safariwagen
durch die steppe vor der stadt,
an einem hundsgewöhnlichen safarinachmittag

und wir führten gespräche über unsre fragen
welche tiere wir gerne wären
wenn wir mal wieder tiere wären
ich wünschte mich als savannenbewohner,
du wünschtest dich als paarhufer oder so
wir einigten uns auf termiten,
für die wir uns dann hielten

wir tranken presssaft aus purpursonnenhutkraut
in unseren augen gingen sonnen auf
sonnen aus purpur, sonnen aus purpur
einen himmel gab es nicht
safari - die braucht das nicht in der steppe vor der stadt
an einem hundsgewöhnlichen safarinachmittag

über uns flog ein archaeopterix
wir sahen ihm nach und sagten nix
er selber wollte auch nicht reden
was sollte er auch sagen
er war ja schon ausgestorben
auf seinem flug nach norden
doch selbst das sollte uns nicht daran hindern
jedermannes ausgestorbenheit zu lindern

insgesamt bleibt festzustellen
aussterben ist langweilig, sowas, das macht man nicht
damit kommt man weiter nicht
aber weiter kommt man im safariwagen
in dem wir sitzen und durch die steppe jagen
durch die steppe vor der stadt
an einem hundsgewöhnlichen safarinachmittag
an einem hundsgewöhnlichen safarinachmittag...


PeterLicht-Diskografie:

2000: EP - 6 Lieder



2001 14 Lieder





2003 Stratosphärenlieder
(worauf auch der Safarinachmittag zu finden ist)





2006 Lieder vom Ende des Kapitalismus



Die NPD und Du

Wahlsonntag in Mecklenburg-Vorpommern – das gleiche Bild wie vor knapp zwei Jahren in Sachsen: Eine scheinbar aus dem Nichts ins Parlament aufgestiegene NPD, völlig unvorbereitete Demokraten und äußerst ungeschickt agierende Journalisten. Anstatt den Verfassungsfeinden der NPD mit Gelassenheit und Souveränität zu begegnen, agieren Politiker wie Medienvertreter hektisch, fallen den braunen Spitzenkandidaten ins Wort und brechen die Interviews vorzeitig ab. Wovor scheuen sich die Demokraten? Etwa vor besseren Argumenten? Oder vor Klischees, denen sie nichts entgegenzusetzen wissen? Ist es ihnen denn gar nicht bewusst, dass sie mit ihrer undemokratischen Umgangsweise den braunen Herrschaften genau die Bühne geben, die sie ihnen doch eigentlich zu verweigern suchen? Letztlich liegen die Ursachen des Problems in der Krise unserer Demokratie und in der totalitären Vergangenheit Ostdeutschlands.

Betrachten wir daher zunächst die National-„Demokraten“: Die einst kapitalistische Partei wandelte sich spätestens Anfang der 90er Jahre zu einer antikapitalistischen, revolutionären Partei. Erfolg war ihr dadurch zunächst nicht beschieden, denn nach der Wende wussten zunächst andere, noch radikalere Organisationen das rechtsextreme Potenzial im Osten der Republik zu bündeln. Aufgrund einer Reihe von Verbotsverfahren gegen rechtsextreme Organisationen, einer breiten Öffnung der Partei hin zu rechten Skinheads und Kameradschaften und einem gleichzeitig moderateren, professionalisierten und beinahe bürgerlichen Auftreten konnte sich die NPD langsam in der rechtsextremen Szene etablieren.

Kämpfen gegen das „Schweine-System BRD“

Ironischerweise ist der wirkliche Aufstieg der selbst ernannten Retter des deutschen Volkes ausgerechnet dem Verfassungsschutz zu verdanken. Das gescheiterte Verbotsverfahren gegen die NPD im Jahre 2000 erlaubte zwar keinerlei Aussage über die Verfassungstreue der Partei, es machte sie aber auf einen Schlag in der ganzen Republik bekannt. Die NPD bastelte daraus für ihre Anhänger das Image eines Märtyrers und stellte die BRD als illegitimes „System“ dar, das es zu überwinden gilt. Außerhalb der Parteikreise kam das gescheiterte Verbot einem Persilschein gleich, der die Wählbarkeit der Partei als angeblich legitime, demokratische Alternative implizierte.

Der parlamentarische Erfolg ist für die „nationalen Sozialisten“ lediglich Mittel zum Zweck im Kampf um die Überwindung des „Systems BRD“. Neben dem Kampf um die Parlamente hat der Parteivorsitzende und diplomierte Politikwissenschaftler Udo Voigt den Kampf um die Köpfe und den Kampf um die Straßen ausgerufen. Mit durchaus beachtlichem Erfolg – zumindest in vielen ländlichen, von den demokratischen Parteien vernachlässigten Regionen. Hier die Parteistrategie: Neben der Besetzung sozialer Themen wie Hartz IV versucht die NPD, möglichst bürgerlich und seriös aufzutreten, sich auf kommunaler Ebene als bürgernahe, aktive Partei zu präsentieren, Auseinandersetzungen nicht zu scheuen und im Zweifelsfall pragmatisch zu handeln. Sie veranstaltet scheinbar harmlos anmutende „Volks“-Feste mit Bratwurst und Blasmusik, organisiert nationalistische Krabbelgruppen, betätigt sich rege in Bürgerinitiativen und hilft Langzeitarbeitslosen bei der Jobsuche.

Im sächsischen Parlament agiert die NPD geschickt. Sie hat sich fleißig in die Regeln des von ihr so verabscheuten parlamentarischen Alltags eingearbeitet und weiß die Schwächen der demokratischen Parteien für sich zu instrumentalisieren. Da ihre Kritik nicht selten einen wahren Kern hat, wussten die Demokraten zunächst nicht, wie sie reagieren sollten. So boten sie der NPD zunächst viel Raum für Propaganda, und nur so konnte es dieser wiederum gelingen, ihr rein instrumentelles Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie zu kaschieren.

Die personelle Decke innerhalb der NPD ist jedoch äußerst dünn. Die sächsische Landtagsfraktion versammelt beinahe die gesamte Parteielite. Mehr als die Hälfte der Gehaltsempfänger im Landtag stammt nicht aus Sachsen, sondern setzt sich aus altgedienten Parteikadern zusammen. Auch Versuche, eine so genannte „Dresdner Schule“ zu begründen, die eine intellektuelle rechtsextreme Elite formieren und eine ähnliche gesellschaftliche Breitenwirkung wie die Frankfurter Schule zeitigen soll, hatte bisher eher bescheidene Effekte zur Folge. Das Einflusspotential einer mit 6000 Mitgliedern durchaus als Splittergruppe zu bezeichnenden Partei sollte daher weder über- noch unterbewertet werden. Vielmehr sollten die bisherigen Auswirkungen als Alarmsignal für die zunehmende Akzeptanz einer sich etablierenden rechtsextremen Kultur verstanden werden. In manchen Regionen Ostdeutschlands lässt sich schon von einer regelrechten Hegemonie der modernen Nazis sprechen. Nur ein Beispiel: Nachdem die NPD „aktive Teilnahme“ androhte, wurde im März ein Benefizkonzert des Liedermachers Konstantin Wecker in Halberstadt abgesagt.

Rechtsextremismus aus der Mitte des Volkes

Rechtsextreme Denkmuster an sich sind in Deutschland quer durch alle Schichten und Generationen zu finden, also kein spezifisch ostdeutsches Phänomen. Doch warum gerade diese außergewöhnlich starke Attraktivität und Akzeptanz des Rechtsextremismus in den ostdeutschen Bundesländern? Gemeinhin wird auf die kollektive Frustration breiter Bevölkerungsteile verwiesen, auf die hohen Arbeitslosenzahlen und die geringen Zukunftsperspektiven der sozial Benachteiligten. Ein Zusammenhang zwischen Prekarisierung breiter Bevölkerungsschichten und Hang zum Rechtsextremismus ist sicher nicht von der Hand zu weisen. Doch diese Erklärung greift – meiner Ansicht nach – zu kurz. Strukturschwache Regionen gab und gibt es im gesamten Bundesgebiet, aber trotzdem konnte sich in Westdeutschland (noch) keine rechtsextreme Partei dauerhaft etablieren; und wo sie es doch zeitweise in die Parlamente schaffte, dort hatte sie stets mit starken zivilgesellschaftlichen Strukturen zu kämpfen.

Die wesentlichen Strukturen des Rechtsextremismus in Ostdeutschland scheinen schon zu Zeiten der DDR gelegt worden zu sein. Drei Faktoren halte ich dabei für ausschlaggebend: das zentrale Prinzip der Gleichheit, den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit von Seiten der Einheitspartei und die fehlende Zivilgesellschaft.

Zur Gleichheit: Der „Arbeiter- und Bauernstaat“ hatte sich als zentrales Ziel gesetzt, Gleichheit herzustellen: Gleich sollten die Einkommen sein, der Wohlstand, das Denken und die Art der Lebensführung. Konformität, Strebsamkeit und Anpassung waren die Schlüssel zum Erfolg. Orientierung an der Masse, nicht Individualität und Distinktion, war die Voraussetzung für soziale Akzeptanz. So wurden nicht nur Nonkonformisten wie Punks oder Hippies stigmatisiert und verfolgt. Auch die wenigen Ausländer, die die DDR aus den sozialistischen Bruderländern anwarb, wurden staatlich benachteiligt und sozial segregiert. Wie tief die Empfindung des „Ihr gehört nicht dazu“ sich eingeprägt hatte, war nicht zuletzt an den Pogromen von Rostock-Lichtenhagen 1991 erkennbar, als die Wut des Mobs auch auf die seit Jahrzehnten ansässigen vietnamesischen Gastarbeiter überschwappte.

Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit: Obgleich sich die DDR als antifaschistischer Staat rühmte, verpasste sie die Chance einer intensiven gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die in der Bundesrepublik spätestens in den Sechziger Jahren mit den Auschwitz-Prozessen und den Studentenrevolten einsetzte. Den Denkern der sozialistischen DDR zufolge lag die Wurzel des Faschismus im Kapitalismus. In der antikapitalistischen DDR konnte es nach diesem Verständnis per se keine Faschisten geben. Gefährlich waren stattdessen immer die Anderen, vorzugsweise die BRD. Ihr wurde als direktem Nachfolgestaat des NS-Regimes nicht nur die alleinige Verantwortung für die Vergangenheit zugewiesen. Sie, und nur sie, stand unter dem Verdacht, jederzeit wieder in ein faschistisches System umschlagen zu können. Daher rührt auch die absurde Bezeichnung der Berliner Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“, und aus demselben Grund kam es zur Diffamierung des Arbeiteraufstands des 17. Juni 1953 als faschistischen, konterrevolutionären, vom Westen gelenkten Aufstand.

Insgesamt mangelte es der DDR an zivilgesellschaftlichen Strukturen. Während sich in der BRD mit wachsendem Wohlstand die Gesellschaft demokratisierte, wurde in der DDR jegliche Selbstorganisation als verdächtig betrachtet und verfolgt. Die kritischen Sensoren der Bürger stumpften so mit der Zeit ab. Im Zuge des schleichenden Untergangs entstanden Ende der Achtziger durch mutige Bürger nach und nach zarte basisdemokratische, zivilgesellschaftliche Strukturen. Diese wurden jedoch nach der Wiedervereinigung schnell von den gefestigten, eingespielten politischen Strukturen der Bundesrepublik erdrückt. Die positive Erfahrung mit dem demokratischen System, welche die westdeutschen Bürger in den Erfolgsjahren der Bundesrepublik machten, blieb vielen Ostdeutschen verwehrt. Die einstige Erfolgsgeschichte West begann schon vor der Wiedervereinigung zu kriseln und so kam für nicht wenige die Wende einem sozialen Abstieg gleich.

Demokratie in Gefahr?

Doch auch im Westen bröckelt allmählich das Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Demokratie und in das Politische System. Laut dem aktuellen Deutschland-Trend der ARD sind 51 % der Deutschen unzufrieden mit der Demokratie – der höchste jemals gemessene Wert in der Geschichte der Bundesrepublik! Zudem gaben zwei Drittel der Befragten an, in Deutschland gehe es eher ungerecht zu. Die Solidarität sinkt, und damit auch die Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft zu engagieren – die Zivilgesellschaft ist in Gefahr. Die Art des gesellschaftlichen Diskurses über islamischen Fundamentalismus, Kopftuch, Rütli-Schule und Ehrenmorde schafft zudem eine Atmosphäre, in der ausländerfeindliche Ressentiments zunehmend akzeptiert werden. Für die Rechtsextremen ist es so ein Leichtes, sich als die Vollstrecker des Willens der Mehrheit zu präsentieren und die demokratischen Parteien als vermeintliche Papiertiger zu entlarven. Traumhafte Verhältnisse für eine populistische Partei, die sich die Abschaffung des „Systems BRD“ auf die Fahne geschrieben hat!

Argumentieren – nicht verbieten!

Was also tun gegen die modernen Nazis? Verbote sind – gerade in einer Demokratie – das falsche Mittel und die Diskussion darüber ist spezifisch deutsch. Stattdessen bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Auseinandersetzung, der sich auch und gerade die Journalisten nicht entziehen dürfen. Die Demokratie muss ihre Überlegenheit dadurch beweisen, dass sie sich nicht vor der Auseinandersetzung mit Extremisten scheut, sondern ihnen ihre größte Stärke demonstriert: die des Arguments. Das muss gelernt und praktiziert werden. Hier kommt den Schulen eine entscheidende Rolle zu. Es sollte dort aufgeklärt und diskutiert werden, auch und gerade über die modernen Nazis und ihre Argumente. Die Politik darf sich nicht davor scheuen, auch in den peripheren Regionen das Gespräch mit den Bürgern zu suchen. Die Zivilgesellschaft muss gestärkt werden, um den Braunen die Themen streitig zu machen, sich mit ihnen auseinander zu setzen und ihre Argumente zu widerlegen. Die Jugendkultur muss stärker gefördert werden, um etwaigen rechten Hegemonien entgegenzutreten. Und letztlich liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen, rechtsextremen Einstellungen, Denkmustern und Kulturen in seiner Umgebung entgegenzutreten. Denn eine Zivilgesellschaft braucht Individuen, die an sie glauben.