Mittwoch, 30. Dezember 2009

Montag, 28. Dezember 2009

Flüchtige Notizen I

26. Juni 2001:

Handke. Das Bewusstsein des Gemeinschaftsgefühls und der Verantwortung „für’s eigene Land“ waren Kennzeichen des Faschismus wie des (real existierenden) Sozialismus. In einer Demokratie sterben jene Motive nach kurzer Zeit mangels klarer Identifikationsmöglichkeiten aus. Das ganze Leben wird kategorisiert – man existiert nicht mehr als Ich – alles sind Typen und Temperamente (oder Rassen). Man fühlt sich trotzdem frei, weil man, in diesem Schema einmal zurechtgefunden, Verantwortung von sich schieben kann:„Er ist halt ein verzogener Bauernlümmel“. Das Leben wird oberflächlich und langweilig, aber auch sicher und beherrschbar. Heimat? Apres-Skis die heutigen Dorffeste? Plötzlich ist man fast klassenlos, fühlt sich stark, Hauptsache man ist gesellig…

Nochmals Handke: „Das beweist nichts; ist jeder Beweiskraft entzogen durch das Vorteile-Nachteile-Denken, das böseste der Lebensprinzipien (…) - als Nachteil, der wiederum nichts als eine notwendige Eigenheit jedes Vorteils ist (…) Die Vorteile waren in der Regel nur mangelnde Nachteile: (…) kein Getrenntsein vom Haus und von den Kindern. Die tatsächlichen Nachteile wurden also durch die fehlenden aufgehoben (…); vor Mitgefühl für den anderen von ihr getrennten, fühlte sie sich selber nie einsam.“

Peter Handke - Wunschloses Unglück (1974)

Samstag, 26. Dezember 2009

Vergängliche Kunst

Was Ksenya Simonova hier mit ein wenig Vulkansand entstehen lässt ist mehr als beachtlich. Doch seht selbst:


Montag, 7. Dezember 2009

Rudi Dutschke im Gespräch mit Günter Gaus

Politische Diskussionen im Fernsehen? Zum Wegschalten! Statt über Themen wird über Personen, statt über Positionen wird über Zugehörigkeiten gestritten, nein, polemisiert. Dass auch zwischen politisch weit auseinanderliegenden Positionen ein sachliches Fernsehgespräch möglich ist, zeigt dieses gut vierzig Jahre alte Interview zwischen Günter Gaus - einem der besten Journalisten Deutschlands, Chefredakteur des Spiegels von 1969 und 1973, erster Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR und Wegbereiter der Entspannungspolitik, nach der Wende und bis zu seinem Tod Herausgeber des Freitag - und Rudi Dutschke, intellektuellem Kopf und Sprachrohr der revolutionären Studentenschaft.

Auch wenn vieles heutzutage etwas antiquiert klingen mag, und manchem schlauen linken Studenten Widersprüche in der Argumentation Dutschkes hätten auffallen müssen, so wird dem geneigten Zuschauer im Laufe des Gesprächs doch auch die Faszination dieser Person (gerade für Studenten) und der gegen ihn entstandene Hass (in großen Teilen der Bevölkerung) verständlicher. Sprache und Duktus bleiben stets akademisch, und Dutschke hat sichtlich Freude daran, seine Positionen vor einem intellektuell ebenbürtigen Gesprächspartner zu verteidigen. Seine Sätze sind meistens druckreif, oft verschachtelt und voller marxistischer Termini, welche seine Gedanken sehr elaboriert, aber wenig verständlich erscheinen lassen.

Und wenn er sich noch so sehr von Lenin, Stalin und dem ganzen Staatsozialismus abzugrenzen versucht, so benötigt er doch für seine Utopie eine Avantgarde, die intellektuell fähig und bereit ist, ihn zu verstehen und ihm zu folgen. Auf die kritischen, völlig berechtigten Fragen von Gaus, gibt er keine praktisch politischen, sondern philosophisch analytische Antworten. Er ist sich der Gefahren seiner Utopie durchaus bewusst - Dutschke war beleibe kein verblendeter, orthodoxer Marxist, was sein klares Bekenntnis zum Christentum verdeutlicht - blieb aber letztlich doch gefangen in einem Denksystem, das die Realität von der Philosophie und nicht umgekehrt die Philosophie von der Realität aus betrachtet.

Mittwoch, 2. Dezember 2009

Der junge Tom Waits...

...hatte schon ein erstaunlich gut entwickeltes Konzept seiner Künstlerfigur - und gehört bis heute zu den wenigen Musikern, die trotz Erfolg immer selbstbestimmt blieben, sich nicht an gängige Hörgewohnheiten anpassten, sondern sich von ihnen entfernten und einen sehr eigen(willig)en Stil entwickelten und es dabei nie an Humor und Selbstironie mangeln ließen.

Sonntag, 22. November 2009

Krautrock - The rebirth of a nation


Vor gut vierzig Jahren begab sich eine ganze Reihe von Musikern in Deutschland auf der Suche nach neuen musikalischen Ausdrucksformen jenseits angloamerikanischer Rockmusik, aber auch in Abgrenzung zur Nachkriegspopulärmusik der Bundesrepublik, um etwas zu erschaffen, das bis heute nur schwer einzuordnen ist. Die britische Musikpresse verpasste diesen doch so unterschiedlichen Bands wie Can, Faust, Amon Düül oder Kraftwerk das wenig aussagekräftige Etikett Krautrock. Was diese Bands damals erschufen, beeinflusste noch Generationen von Musikern - jedoch nur außerhalb von Deutschland. Seltsamerweise war ihr Einfluss auf die deutsche Musikszene wenig nachhaltig. BBC ging dem Phänomen des Krautrock unlängst in einer Dokumentation nach und bastelte daraus die These der Wiedergeburt der deutschen Nation aus dem Schoße des Krautrock. Auch wenn hier der Einfluss des Krautrock auf die Entwicklung Deutschlands maßlos überschätzt wurde, so ist der Film doch kurzweilig und recht aufschlussreich:

 Krautrock - The rebirth of a nation

Montag, 16. November 2009

Meadow Meal


Faust - Meadow meal (1971)

Me is a meadow meal
and the guess I get it
and the gate I get it
and the game I get it
a wonderful wooden reason
to stand in line keep in line
line up
crash the sound
you lose your hand
to understand
the accident is red

you are a fruit fork
and the money you look up
and the madame you look up
and the middle you look up
a wonderful wooden reason
to stand in line keep in line
line up
crash the sound
you lose your hand
to understand
the accident is red

aus dem Debütalbum FAUST (1971)

Donnerstag, 5. November 2009

Zwischenruf

All die vollgestopften Taschen,
all die schönen, bunten Bilder,
all die noch nicht zerbrochnen Flaschen,
all die großen, grellen Schilder

sind nicht mehr als luftge Blasen,
diese Welt ist mehr als hohl.
Worte, Töne, Bilder rasen -
im Überfluss lebt es sich wohl.

Wer braucht schon Geist in dieser Welt,
in der sich alles kaufen lässt?
Alles was sie braucht ist Geld,
daraus ergibt sich dann der Rest.

Die Stille ist uns unerträglich,
sie ist uns wie ein kleines Sterben,
der Wirtschaft ist sie nicht zuträglich,
drum kauft, verkauft, lasst euch bewerben!

Dienstag, 3. November 2009

Essentielle Musikvideos Teil 2

Die Goldenen Zitronen - 0:30 Gleiches Ambiente (1996)
Regisseure: Ted Gaier/Deborah Schamoni

Hey, kühles Hemd
Ah, du kennst die?
Ja irgendwie, der Sänger geht immer in den selben Lebensmittelladen wie ich
Echt, das ist kühl
Du magst also auch Musik, was?
Ja ich liebe Musik
Auf was für Musik stehst du?
Alle Sorten
Also ich mag Easy-Listening
Ja, ich auch, Easy-Listening ist echt geil
Wohnst du hier in der Gegend
Ja, praktisch um die Ecke, ist ne gute Gegend zu wohnen
Ich mag es
Ich auch
Apropos, ich heiße Thomas
Hallo Thomas, ich bin Stefan
Nett dich kennenzulernen
Auch nett dich kennenzulernen
Weißt du was komisch ist? Hier ist dienstags immer ziemlich leer
Echt?
Diese Kneipe erinnert mich an eine Kneipe in meiner Heimatstadt
Echt? Das ist interessant
Ja, echt verrückt
Was machst du so?
Ich bin in der Werbung
Oh wow, das ist stark
Ja, ich mag Menschen
Ich auch, ich liebe Menschen
Kommst du oft hierher?
Jaja
Ich dachte ich hab' dein Gesicht schon mal gesehen hier
Kennst du vielleicht Katrin?
Kann sein
Wow, das ist super, ich liebe dieses Lied
Moby hat echt eine tolle Stimme

Hast du den neuen Quentin Tarantino schon gesehen?
Ja, ich mag Filme
Ernsthaft? Ich auch, ich leihe mir oft Filme aus
Wow, ich auch
Hör mal, ich muss jetzt los
Es war toll, sich mit dir zu unterhalten
Ja, es war nett dich kennengelernt zu haben
Nimm's locker, man!

Montag, 2. November 2009

Lichtspiel Opus IV (1925)

Der vierte Teil der experimentellen Lichtspiele des für Berlin -Sinfonie einer Großstadt bekannten Experimentalfilmers Walter Ruttmann (1925).

Sonntag, 1. November 2009

"Politikverachtung der Politik"

Dass die Ernennung von Dirk Niebel als Nachfolger von Wieczorek-Zeul im Amt des Entwicklungshilfeministers eine Fehlentscheidung sein würde, war abzusehen. Mit ihm wird ein Politiker dieses Amt bekleiden wird, der bisher lautstark die Abschaffung eben jenes Ministeriums, ja der gesamten Entwicklungszusammenarbeit forderte. Seine einzige Qualifikation für scheint sein vorheriger Posten als Generalsekretär der FDP zu sein, und als eben jener musste er eben einen Posten in der neuen Regierung bekommen. Einen Akt der "Politikverachtung durch die Politik" nannte das Heribert Prantl in seinem ausgezeichneten Kommentar zu dieser mehr als bizarren Entscheidung.

Dass die erste Amtshandlung von Minister Niebel, der bisher eher durch seinen schmierigen Gebrauchtwagenverkäufercharme als durch ernst zu nehmende politische Positionen oder gar Erfolge auffiel, nun das Beenden jeglicher Entwicklungszusammenarbeit mit Indien und China sein wird, ist mehr als fatal - und zwar in ökonomischer wie symbolischer Hinsicht.

Auch wenn das enorme Wirtschaftswachstum etwas anderes vermittelt: China und Indien sind weiterhin die beiden Länder, in denen die Mehrheit der Armen dieser Erde leben. Daher erscheint Entwicklungszusammenarbeit auch weiterhin sinnvoll, und zwar für beide Seiten. Denn es ist nicht zuletzt die deutsche Wirtschaft, die am Ende profitiert, zumal der überwiegende Teil der (nicht gerade üppigen) für technische und ökologische Zusammenarbeit verwendeten Gelder ohnehin den dort angestellten Deutschen zukommt. Dass gerade die Liberalen der zukünftige ökonomische Vorteil einer Zusammenarbeit mit aufstrebenden Wirtschaftsnationen entgangen zu sein scheint, sagt einiges über den Zustand des Liberalismus in der FDP.

Davon abgesehen könnte die Bundesregierung mit einer solch brüsken Beendigung den beiden, von enormen innenpolitischen Herausforderungen geplagten Ländern symbolisieren, dass sie deren Probleme nicht mehr für relevant erachte und in Zukunft nur noch mit dem Zeigefinger Politik betreiben möchte anstatt konkrete Unterstützung zu gewähren. Es bleibt zu hoffen, dass auch ein Dirk Niebel an seinem Amt wachsen kann. Denn um dieses strategisch wichtige Ministerium den Spielereien eines Populisten zu überlassen, ist es schlichtweg zu wichtig.

Essentielle Musikvideos Teil 1


UNKLE - Rabbit in your headlight (1998)
Regisseur: Jonathan Glazer

I'm a rabbit in your headlights
Scared of the spotlight
You don't come to visit
I'm stuck in this bed

Thin rubber gloves
She laughs when she's crying
She cries when she's laughing

Fat bloody fingers are sucking your soul away...
(Away....away....away....)

I'm a rabbit in your headlights
Christian suburbanite
Washed down the toilet
Money to burn

Fat bloody fingers are sucking your soul away...

Rotworms on the underground
Caught between stations
Butterfingers
I'm losing my patience

I'm a rabbit in your headlights
Christian suburbanite
You got money to burn....

Fat bloody fingers are sucking your soul away.....
Away, away, away,
Away, away, away.

Sonntag, 25. Oktober 2009

Samstag, 24. Oktober 2009

Altlasten

Wenn tatsächlich stimmen sollte, was Thomas Avenarius in der gestrigen SZ berichtete, dann dürfte auch der letzte Rest an moralischer Integrität im "Kampf gegen den Terror" endgültig verloren sein. Das missionarische Sendungsbewusstsein der Neokonservativen bestimmte bekanntlichermaßen die längste Zeit das außenpolitische Handeln unter Bush. Ziel war es, die Welt mit den westlichen Werten von Demokratie und Menschenrechten zu beglücken, unter US-amerikanischer Führung und mit kriegerischen Mitteln, das versteht sich. Soweit, so bekannt.

Denn nach Abu Ghraib, Guantanamo, Bagram, gesetzlich genehmigter Folter, über 100.000 toten Zivilisten im Irak und einem alles andere als befriedeten und demokratischen Afghanistan, kann von einem irgendwie gearteten moralischen Überlegenheitsanspruch - den ja außer den USA nie wirklich jemand anerkannt hat - natürlich keine Rede mehr sein. Auch dies ist leidlich bekannt.

Dass jetzt allerdings die USA, während sie im Irak und Afghanistan Krieg gegen Dschihadisten führten, gleichzeitig im Iran viel Geld in die Dschundullah (die Soldaten Allahs), eine sunnitisch-islamistische Terrororganisation steckte, die just einen Anschlag gegen die iranischen Revolutionsgarden zu verantworten hatte, ist jedoch der Gipfel der Heuchelei.

Das amerikanische Jahrhundert ist lange vorbei, Bush war sein Totengräber und Obama gibt sich alle Mühe als Nachlassverwalter. Doch mit solch einer schweren Bürde wird es ihm schwer fallen, nicht zu scheitern.

Samstag, 10. Oktober 2009

Was tun?



Es sind stürmische Zeiten, in denen wir leben. Sie zu beschreiben ist eine der größten Herausforderungen für alle wachen Geister. Alles zerstäubt, zerfällt, zerfasert. Die alten Begriffe taugen nichts mehr. Die alten Lösungen noch weniger. Neue, innovative, ehrliche Ideen sind gefragt, doch kaum in Sicht. Die alten Bindungen sind nichts mehr wert, nur hohle Formeln, an der steilen Klippen der Realität zerberstend. Nichts ist von Dauer, nichts von Wert, wie leben den unendlichen, immer verfügbaren Shuffle-Modus.

Doch wie kann in einer sich atomisierenden Gesellschaft überhaupt noch sinnvoll kommuniziert werden? Mediale Inszenierungen von Diskursen laufen zumeist ins Leere, da noch nicht einmal die grundlegenden Prämissen offengelegt werden. Der akademische Diskurs hingegen verläuft weitestgehend jenseits der Öffentlichkeiten in eigenen, schwer durchdringbaren, selbstreferentiellen Sphären. Das begriffliche Instrumentarium der Sozialwissenschaften ist kaum in der Lage. die komplexen Realitäten zu fassen.

Die viel beschworene Mitte gibt es nicht (mehr). Der Partikularismus hat schon längst Überhand genommen: Maximale Ansprüche bei minimalem Selbsteinsatz, uneingeschränkte Bedürfnisbefriedigung, grenzenlose kapitalistische Haben-Orientierung und ein verkümmertes Sein-Bewusstsein verstellen uns den Blick aufs Wesentliche.

Weshalb dieser Kulturpessimismus? Weil die Fortschrittsideologien gescheitert sind, die den Menschen das Versprechen gaben, alles Leiden sei nur vorübergehende Notwendigkeit auf dem Weg zur Veredelung des Menschengeschlechts. Nein, niemand gibt sich mehr ernsthaft Illusionen über dessen moralische Fähigkeiten hin. Und der Glaube, einst erkämpfte zivilisatorische Errungenschaften seien für die Ewigkeit und nicht in ihr Gegenteil umkehrbar, ist naiv. Doch was tun? Nicht-Handeln?

Pflege des Lebens

Der SINN erzeugt.
Das LEBEN nährt.
Das Wesen gestaltet.
Die Kraft vollendet.
Also auch:
unter allen Geschöpfen ist keines,
das nicht den SINN ehrt
und das LEBEN werthält.
Wird der SINN geehrt und das LEBEN gewertet,
so bedarf es keiner Gebote:
und alles geht beständig von selber.
Darum, laß den SINN erzeugen,
nähren, vermehren,
bilden, vollenden,
reifen, aufziehen, schützen:
Erzeugen und nicht besitzen,
wirken und nicht behalten,
mehren und nicht beherrschen:
Das ist geheimes LEBEN.

(Laozi)

Manifeste

Wo bleiben die Manifeste?
Die rauschenden Feste
der Freiheit und des Glücks?
Sind sie verstohlen und hinterrücks

zur Tür hinaus und übern Berg?
Unsre Probleme gleichen dem Zwerg,
der vor dem Riesen steht und schweigt.
Wo ist der Weg, der aus dem Dunkel zeigt?

Freitag, 28. August 2009

"Ich bin sehr stolz auf unsere Geschichte"



Chinesen in Blauen Augen

von
Jay & dem Zeittotschläger

Zunächst eine Definition für Blaue Augen: Gemeint sind nicht die blauen Augen, die man nach einer Prügelei bekommen kann, sondern ein Symbol für Ausländer in chinesischen Augen. Ich bin schon fast drei Jahre in Deutschland, aber weiß immer noch nicht, wie die Chinesen überhaupt in deutschen Augen aussehen. Sind die Chinesen nur freundlich, höflich und fleißig? Bin ich überhaupt eine typische Chinesin oder eher untypisch? Eine kleine Diskussion zwischen dem Zeittotschläger und mir:

Wieso ist es so schwer, in das Innere der Chinesen zu blicken?

Es ist sehr einfach, diese Frage zu beantworten. Zuerst würde ich sagen, dass die Chinesen ungern ihr wahres Gesicht zeigen. Oder wir haben Angst, von anderen Leute durchschaut zu werden. Wie immer sind wir Chinesen eher zurückhaltend.

Ihr seid bescheiden, aber zugleich doch sehr stolz. Wovor habt ihr denn Angst?

Ich bin sehr stolz auf das Wirtschaftswachstum, unsere Kultur, die lange Geschichte. Aber ehrlich gesagt, weiß ich selbst zu wenig darüber. Wir haben Angst, unterworfen zu werden, Angst zu verlieren, Angst davor, Vergangenheit zu sein. Naja, was ich aus unserer Geschichte gelernt habe, ist, dass die Chinesen sich immer als Opfer darstellen, oder?

Das stimmt. Ihr wart groß und seid sehr tief gefallen. Manchmal scheint es mir, als wolltet ihr die Schmach der letzten 150 Jahre so schnell wie möglich vergessen machen, indem ihr uns in allem zu übertrumpfen versucht: der Wirtschaft, der Wissenschaft, dem Sport. Niemand will schließlich immer Opfer sein. Aber seid ihr nicht inzwischen auch Täter? Und wieso reagiert ihr so gereizt, wenn euch das jemand sagt?

William Shakespeare sagte: "To be or Not to be!" Manchmal glaube ich, dass unsere Opferrolle eine Motivation für uns ist. Täter? Was haben wir gemacht? Haben wir auch andere Volker ermordet?

Man muss ja nicht gleich Völker ermorden... Ich meinte nur, dass die Chinesen große Patrioten sind und daher ungern Fehler zugeben. Schließlich lebt ihr immer noch in einer Diktatur, die viele Meinungen, Kulturen und Lebensweisen unterdrückt. Tucholsky sagte einmal in den 1930er Jahren "Im Übrigen gilt in Deutschland derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht". Ist das nicht auch ein Sinnbild für das heutige China?

Sprichst du echt vom heutigen China? Ich glaube, dass im heutigen China die Leute folgendes fragen würden: Kann man Tucholsky essen? Oder welche Währung ist das? Ist er schon an der Börse notiert? Wie sieht der Wechselkurs aus zwischen chinesischem Yuan und Tucholsky?

Die Chinesen denken also sehr materialistisch. Sie arbeiten gerne und viel, um sich und ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen. Dazu muss man sich eben anpassen, und wer das nicht tut, ist selbst schuld...

Die Deutschen haben das Leben, das wir gerne wollen, weil in unseren Augen alles was von außen kommt immer besser ist, als das was wir haben! "Good good study, day day up" hat doch Mao gesagt. Daran glauben wir immer noch. Aber manchmal denke ich, dass wir auch an etwas anderes glauben sollten, nicht nur an das Geld.

Zum Beispiel an die Zukunft. Ihr Chinesen seid pragmatische Optimisten. Da könnten wir Deutschen uns eine gute Scheibe davon abschneiden. Was muss passieren, dass die Chinesen den Glauben an sich selbst verlieren?

Wenn die Chinesen nicht mehr auf der Welt sind... oder wenn der Aktienkurs sinkt. Ich weiß es echt nicht:-)

Danke für das Gespräch.

Donnerstag, 27. August 2009

Schwarze Lippen



Mein erstes Konzert

von Jay aus China

20. August, es ist schwül, trüb, das Wetter scheint schlechte Laune zu haben. Es lässt die Leute nicht in Ruhe. Aber mein Herz ist sowieso wie ein springendes Reh. Drei Ritter sind unterwegs auf meinem ersten Konzert. Oh nein, nur ich bin unterwegs zu meinem ersten Konzert.

Stuttgart war noch nie ein Fremdwort für mich, aber eine fremde Stadt. Ich weiß nicht, wie diese Stadt entstanden ist. Nach fünf Minuten rumlaufen stelle ich fest, dass Stuttgart aus türkischen Dönerläden, Musik, Ausländern und Wirtschaft besteht. Es gibt wahrscheinlich viele Dönerläden hier, aber der Preis wurde nicht aus Sicht der Makroökonomie, nach Angebot und Nachfrage, definiert.

Naja, es ist auch völlig unwichtig. Oh, jetzt kommen wir zu den drei Rittern: der Zeittotschläger, der Salamander und ich. Wir sind keine normalen Ritter. Zeittotschläger, ein hinter seinem unaußergewöhnlichen Gesicht echt zurückhaltender Mann mit mannigfaltigem Musikgeschmack. Salamander, ein geheimnisvoller Regisseur, der nicht genau weiß, womit er anfangen soll - seinem Leben, seiner Musik... Und ich, eine Frau, die nicht aufhören kann, unendlich zu reden, kein Musiktalent, splitternackter Musikgeschmack, eine Musikrichtung wie Kraut & Rüben.

Jetzt kommt die Band: Black Lips. So wie sie angekommen sind, mit verschlafener Frisur und Gesichtsausdruck. Ehrlich gesagt hat mir das nicht gefallen. Nach meiner Definition spielt Arbeitsdisziplin eine unheimlich wichtige Rolle, egal wie spät die Arbeit auch anfängt. Ein Durcheinander im Leben bringt auch chaotische Musik hervor. Ich bin wieder am Zweifeln. Gegen 10 Uhr haben sie endlich angefangen, Musik zu spielen. Das Schocken hat sein Ziel schon erreicht. Niemand weiß, wie viele Getränke schon über die Theke gingen...

Die Musik war gut, aber es fehlt die Kontroverse, die Leidenschaft. Es sind nur Noten, Klänge, Schreie, blitzende Lichter, eine verrückt tanzende Meute, schweißnasse Klamotten, mehr nicht mehr! Ich habe nur Unzufriedenheit gehört. Musik ist ein zivilisiertes Instrument, um den Missmut heraus zu lassen. Aber für mich bedeutet Musik noch mehr. Ich bin nicht betrunken von dieser Musik.

Musik kann uns nicht einfach abfaulen, Musik zieht uns körperlich und geistig in sie hinein. Musik ist wie Wasser im Fluss, sie ist gekommen, ohne uns Bescheid zu sagen. Sie ist auch gegangen, ohne Spuren zu hinterlassen. Musik ist wie Feuer im Wald, sie ist warm, so dass jeder sie fühlen und merken kann. Sie ist auch gefährlich, jeder kann sich an ihr verbrennen.

Musik ist wie Essen auf dem Tisch, sie wird nur gegessen, wenn sie lecker ist. Und was ist mit schlechter Musik? Wer definiert überhaupt schlechte Musik? Ich bin völlig durcheinander. Ich habe mich endgültig in der Musik verlaufen.

Ist Musik auch die Lösung? Ich weiß es nicht mehr.

Sonntag, 16. August 2009

Beende deine Jugend


Die Boxhamsters zählen zu den unterschätztesten Bands dieses Landes. Seit mehr als 20 Jahren liefern sie in regelmäßigen Abständen lyrische Punkmeisterwerke ab, von denen die angeblich so wichtigen und großen deutschen Punkbands weiter entfernt nicht sein könnten. Ihre Songs sind unprätentiös, ehrlich und bisweilen satirisch. In der Entwicklung zwischen dem Debüt "Wir Kinder von Bullerbü" und dem letzten, sehr ruhigen und eingängigen "Demut & Elite" spiegelt sich stets das Leben der Hessen wie der Zustand dieser Republik. Und da nächsten Monat ein neues Album (das mittlerweile achte) der vielleicht besten Punkrocker zwischen Flensburg und Oberstdorf erscheint sei an dieser Stelle noch einmal mit "Beende deine Jugend", neben "Unfallflucht" dem einzigen Video in der Bandgeschichte, an diese sehr spezielle Band aus Gießen erinnert.


Beende deine Jugend

Du bist ein einsamer Wurm - so steht es niedergeschrieben
aus einer anderen Zeit - da bist Du übrig geblieben
bist an Orten gewesen wo die Tränen wohnen
durch die Fratze der Hässlichkeit sich die Menschen belohnen

Du hast Geschichte erlebt - hast um dein Leben getanzt
und Geschichten erzählt - dich an der Bar verschanzt
deine Welt alter Helden, aufgeschrieben in Sagen
oder sind es bloß Märchen die nicht mal Kinder ertragen

Die Zeit läuft weiter und soll ich dein schärfster Richter sein?
halt sie nicht an, spring einfach auf sonst bleibst Du ganz allein
schau dich nur um wieviele Menschen dir die Hände reichen

Im dunklen Todesstreifen hast du die Liebe genossen
und durch rosarote Wolken auf die Engel geschossen
doch das Leben geht weiter und du hast schlecht gezielt
und für wen hast du dir deine Finger blutig gespielt?

die falschen Bücher im Schrank - du bist studiert und frustriert
bis zum Grunde deines Glases völlig emanzibiert
durchs Labyrinth der Gefühle bist du einfach gerannt
den Rest erspar'n wir uns - es ist doch alles bekannt

Donnerstag, 16. Juli 2009

Die Finanzkrise nach Marx



aus der taz vom 14.01.2009:

Die Finanzkrise nach Karl Marx
Die Spielregeln, nicht die Spieler

Profitmaximierung und Konkurrenz werden immer wieder Krisen wie die gegenwärtige hervorbringen. Eine Verstaatlichung tauscht lediglich die Akteure aus, ohne die Strukur anzutasten. VON MICHAEL HEINRICH

MICHAEL HEINRICH, 51, ist Mathematiker und Politologe. Er ist Redakteur von Prokla - Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft und lehrt an der Berliner Fachhochschule für Technik und Wirtschaft. Er schrieb “Die Wissenschaft vom Wert” (Westfälisches Dampfboot, 2003) und “Wie das Marxsche Kapital lesen?” (Schmetterling, 200 8) u. a.

Der Kapitalismus ist ein tückisch buntes Riesenrad, in dem es immer wieder nach unten geht.

Nicht nur Politiker, auch Ökonomen haben ihre Not mit der Finanzkrise. Die an Universitäten und in Beratergremien vorherrschende neoklassische Wirtschaftstheorie kennt in ihren Marktmodellen überhaupt keine Krisen. Wenn es doch zu “Störungen” komme, dann nur durch Eingriffe von außerhalb des Marktes. Daher haben die Neoklassiker jahrein, jahraus den angeblich so effizienten Markt angepriesen, der, wenn man ihn nur ließe, alle unsere Probleme lösen würde - von der Arbeitslosigkeit bis zu den Kosten von Altersrente und Gesundheit.

Inzwischen sind die Auftritte der radikalen Marktverfechter nur noch peinlich. So behauptet nun der aus unzähligen Talkshows bekannte Hans-Werner Sinn - derselbe Mann, dem in der Vergangenheit jede noch so niedrige Lohnforderung der Gewerkschaften zu hoch erschien -, er sei schon immer für mehr Regulierung des Finanzsektors gewesen und im Übrigen würden sich jetzt die Nachteile einer Lohnpolitik zeigen, die für den schwachen Binnenmarkt verantwortlich sei.

Keynesianer haben es etwas besser. Sie hatten schon immer auf die Grenzen des Marktes hingewiesen und betont, dass auch Lohnsenkungen nicht automatisch zu Vollbeschäftigung führten. Kapitalismus würde immer wieder Arbeitslosigkeit hervorbringen, da die Investitionen in der Regel nicht ausreichten, um alle Arbeitskräfte zu beschäftigen. Mit einem unerschütterlichen Vertrauen in die Möglichkeiten staatlichen Handelns forderten sie, dass der Staat mit Investitionsanreizen und Konjunkturprogrammen Krisen entgegenwirken solle.

Wer die Wirtschaftskrisen nicht ignorierte oder auf prinzipiell kontrollierbare Störungen reduzierte, war Karl Marx. Dass er jetzt wieder öffentliche Aufmerksamkeit erfährt, überrascht nicht. Zwar ist sein “Kapital” schon mehr als 140 Jahre alt, doch analysierte Marx nicht bloß den englischen Kapitalismus seiner Zeit. Dieser, so betonte er, diene ihm nur als “Illustration” der “theoretischen Entwicklung”. Was er darstellen wolle, sei nicht eine bestimmte Entwicklungsphase des Kapitalismus, sondern dessen grundlegende Strukturen und Mechanismen.

Allerdings müssen die Marxschen Einsichten von den starken Simplifizierungen abgegrenzt werden, die man sowohl bei manchen Marxisten als auch bei vielen Marx-Kritikern findet. Oft wird Marx’ Ansatz auf eine bloße Arbeitswert- und Ausbeutungstheorie reduziert, wobei seine Untersuchungen zu Geld und Kredit ignoriert werden. Dabei war die Arbeitswerttheorie bereits Bestandteil der klassischen Schule von Adam Smith und David Ricardo, auf deren Grundlage etwa die ricardianischen Sozialisten eine Theorie der Ausbeutung formulierten.

Marx kritisierte an all diesen Theorien, dass sie nur die Austauschrelationen betrachten würden, aber nicht den Charakter der “wertbildenden” Arbeit. Er selbst fragte nach der Art und Weise des gesellschaftlichen Zusammenhangs in einer auf Warentausch beruhenden Gesellschaft. Einerseits sind nämlich die produzierenden Einheiten (Einzelproduzenten wie auch ganze Betriebe) aufgrund der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sachlich aufeinander angewiesen, andererseits erfolgt die Produktion “privat”, das heißt unabhängig von den anderen. Erst im Nachhinein, auf dem Markt, zeigt sich, inwieweit diese private Produktion als Bestandteil der gesellschaftlichen Gesamtarbeit anerkannt wird, indem ihre Produkte nachgefragt werden.

Wo klassische und neoklassische Ökonomen mit den Wirkungen von Angebot und Nachfrage argumentieren, hält Marx zunächst einmal fest, dass sich am Markt die Tauschenden nur über ihre Produkte aufeinander beziehen und sich die gesellschaftlichen Charaktere ihrer Arbeiten daher nur als gegenständliche Eigenschaften der ausgetauschten Waren zeigen. Mit diesen gesellschaftlichen Eigenschaften ausgestattet, entfalten die Waren ein Eigenleben, dem die Menschen ausgeliefert sind: Gebannt starren die Produzenten auf die Entwicklung der Güterpreise, entsetzt blicken die Aktionäre auf die Kursstürze, als handle es sich um Naturereignisse.

Dieser Verselbstständigung des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die Marx unter dem Stichwort “Fetischismus” analysiert, folgt er die drei “Kapital”-Bände hindurch in ihre Verästelungen und deckt eine Reihe “mystifizierter” und “verrückter” Formen auf. In der herrschenden Ökonomie werden die von diesen verrückten Formen ausgehenden “Sachzwänge” bewusstlos reproduziert (”Der Markt verlangt …”, “Die Globalisierung erfordert …”).

Allseitig aufeinander beziehen lassen sich die Waren nur durch Geld. Marx betont den grundsätzlichen Unterschied zwischen geldvermittelter Warenzirkulation und Produktentausch: Beim unmittelbaren Tausch A gegen B ist der Verkauf von A mit dem Kauf von B identisch. Beim geldvermittelten Tausch folgt aus dem Verkauf aber nicht automatisch die Verwendung des eingenommenen Geldes für einen Kauf. Die Zirkulationskette kann reißen. Mit der Geldvermittlung ist die “Möglichkeit der Krise” gegeben. Die Neoklassik hingegen reduziert Geld auf eine bloße Recheneinheit. De facto geht sie damit von einem nicht geldvermittelten Tausch aus und “beweist” dann, dass es in dieser Fantasiewelt keine Krisen geben kann.

Kapital ist zudem nicht einfach eine Wertsumme, sondern Wert, der sich verwertet, Mehrwert hervorbringt - durch die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft. Diese Verwertung kennt keine innere Grenze, sie ist maßlos. Der Druck der Konkurrenz zwingt den einzelnen Kapitalisten diese Maßlosigkeit auf, ob sie individuell besonders gierig sind oder nicht, spielt dabei keine große Rolle.

Die unmittelbaren Produzenten, die Arbeiter und Arbeiterinnen, sind in dieser auf immer mehr Verwertung ausgerichteten Produktion ein Kostenfaktor, den es zu reduzieren gilt, während gleichzeitig die Produktivität dieses Faktors immer weiter gesteigert werden soll. Diese Konstellation hat nicht nur äußerst zerstörerische Konsequenzen für die Arbeitskraft (wie auch für die Natur), sie bildet auch eine wesentliche Ursache der Krisenhaftigkeit der kapitalistischen Produktionsweise.

Der permanenten Steigerung der Produktivität, die meist eine Produktionsausweitung erfordert, steht eine Tendenz zur Beschränkung der Konsummöglichkeiten gegenüber, da aus Kostengründen Lohnhöhe und Beschäftigtenzahl gering bleiben sollen. Es ist, als ob man beim Autofahren Gaspedal und Bremspedal stets gleichzeitig betätigt, was auf Dauer nicht gut gehen kann. Nicht äußere Störungen, sondern das Ziel kapitalistischer Produktion, die beständige Steigerung der Kapitalverwertung, liegt der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus zugrunde.

Etablierte Wirtschaftswissenschaftler wie linke Kritiker gehen häufig davon aus, dass es sich bei der kapitalistischen Produktion einerseits und den Finanzmärkten andererseits um völlig verschiedene Welten handle. Hier die solide Produktion, dort die windige Spekulation. Dabei wird aber vergessen, dass auch die kapitalistische Produktion auf Spekulation beruht: Auch der Autoproduzent spekuliert beispielsweise darauf, dass die teuren Benzinfresser genug Abnehmer finden - eine Spekulation, die genauso schiefgehen kann wie die Spekulation auf steigende Aktienkurse.

Unzureichend sind auch die momentan gängigen Krisenerklärungen, dass es sich bei den Finanzmärkten um Einrichtungen handle, die der kapitalistischen Produktion zwar äußerlich seien, die aber durch zu viel Spekulation und zu große Risikobereitschaft der Banken und Fonds erheblichen Schaden anrichten könnten.

Derlei Erklärungen hält Marx entgegen, dass eine entfaltete kapitalistische Produktion ohne entwickeltes Kreditsystem gar nicht möglich sei. Was oft mit Bezug auf den Konsumgütermarkt gesagt wird, dass “Autos keine Autos kaufen können”, lässt sich auf den Produktionsmittelsektor übertragen: “Maschinen kaufen keine Maschinen.” So wie die Arbeitskräfte Löhne benötigen, um ausreichend Konsumgüter nachfragen zu können, benötigen auch kapitalistische Unternehmen Verkaufseinnahmen, um selbst kaufen zu können. Bei einer stark wachsenden Wirtschaft muss zumindest ein Teil dieser Einnahmen in Gestalt von Krediten vorgeschossen werden. Eine entfaltete kapitalistische Ökonomie ist nur bei sich ausdehnenden Kreditbeziehungen möglich. Ein entwickeltes Kreditsystem funktioniert aber nur, wenn der Kredit selbst, das heißt die verbrieften Schulden, zur handelbaren Ware werden, wenn es Finanzmärkte gibt.

Diese handelbaren Finanzprodukte (Aktien, Anleihen, Optionen etc.) bezeichnet Marx treffend als “fiktives Kapital”. Während das “industrielle Kapital” für Produktionsanlagen und Löhne verausgabt wird, sodass Produkte oder Dienstleistungen produziert werden, die dann mit Gewinn verkauft werden können, stellt das “fiktive Kapital”, kein wirkliches, irgendwo vorhandenes Kapital dar, sondern lediglich einen Anspruch auf bestimmte Zahlungen: bei Anleihen den Anspruch auf Zins- und Tilgungszahlungen, bei Aktien den auf Dividendenzahlung.

In den Börsenkursen werden diese Ansprüche “bewertet”: Steigen die Gewinnerwartungen eines Unternehmens, steigt sein Aktienkurs. Erwartungen können sich in kürzester Zeit ändern, daher können auch Kurse so enorm schnell steigen oder fallen. Das fiktive Kapital entwickelt damit ein Eigenleben, das zwar immer auf die Verwertung des industriellen Kapitals bezogen bleibt, aber nicht als Abbild seiner gegenwärtigen Lage, sondern als Ausdruck der Erwartung seiner zukünftigen Entwicklung.

Daran wird deutlich, dass Finanzmärkte nicht viel mit Spielkasinos gemeinsam haben, wie in der scheinbar plausiblen Forderung “Das Kasino schließen” unterstellt wird. In einem Spielkasino sind Wahrscheinlichkeiten und Risiken weitgehend bekannt. So übersichtlich geht es an den Finanzmärkten nicht zu. Vor allem aber ist das Spiel im Kasino ein Nullsummenspiel: Dem Gewinn des einen Spielers stehen gleich große Verluste der anderen gegenüber. Im Kasino wird die Summe des Geldes nicht verändert, sondern nur umverteilt.

Anders sieht es mit den Kurswerten an der Börse aus. Habe ich gestern eine Aktie für 100 Euro gekauft, die heute für 110 Euro gehandelt wird, dann ist der Kurswert meines Aktienvermögens um 10 Euro gestiegen, ohne dass ein anderer 10 Euro verloren hätte. Zwar handelt es sich bei den Kurswerten zunächst nur um einen Buchwert; würden alle Aktienbesitzer versuchen, ihre Kursgewinne zu Geld zu machen, würden die Kurse sofort fallen. Trotzdem haben diese Kurssteigerungen ganz reale Auswirkungen. Die Aktienbesitzer sparen weniger und konsumieren mehr, was die Nachfrage belebt und die Unternehmen zur Ausdehnung der Produktion oder zu Preisaufschlägen veranlasst. Vor allem aber können die im Kurs gestiegenen Aktien in höherem Umfang beliehen werden, was häufig zum Kauf neuer Aktien genutzt wird. Das sind jene “Hebelgeschäfte”, die die Eigenkapitalrendite und die Aktienkurse in so schwindelerregende Höhen treiben.

Die Welt des Kapitals scheint völlig in Ordnung zu sein, und nicht wenige Ökonomen bemühten sich darum, dies mit immer neuen mathematischen Modellen der Risikoberechnung auch zu “beweisen”. Wenn aber schließlich zu viele Aktienbesitzer den Buchwert ihrer Aktien in hartes Geld verwandeln wollen, wofür es eine Vielzahl von Anlässen gibt, kehrt sich der ganze Prozess um. Ein guter Teil des “Werts” des fiktiven Kapitals verschwindet ins Nichts, die Aktienbesitzer verlieren, ohne dass andere gewinnen. Zusätzlich werden jetzt die Kredite, die wegen des Sinkens der Aktienwerte nicht mehr gedeckt sind, von den Banken zurückgefordert und treiben so manchen Aktionär in den Ruin und die Bank eventuell gleich mit, wenn sie zu viele Kredite abschreiben muss.

An dem grundlegenden Charakter des von Marx analysierten fiktiven Kapitals hat sich seither nichts geändert. Allerdings haben sich die Formen dieses Kapitals vervielfacht. Längst gibt es nicht nur Ansprüche auf Zahlungen, sondern davon abgeleitete Ansprüche (”Derivate”), also Ansprüche auf andere Ansprüche auf Zahlungen. Die Anspruchsketten lassen sich beliebig verlängern und komplizieren, wodurch die Bewertung eines Papiers von einer Vielzahl von Faktoren abhängig wird.

Zudem sind die Finanzmärkte in den letzten drei Jahrzehnten erheblich schneller gewachsen als die Produktion. Dieses enorme Wachstum ist unter anderem die Folge enormer Umverteilungsprozesse in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Während die Reallöhne seit den Achtzigerjahren nur mäßig gestiegen sind, haben Unternehmensgewinne und die Einkommen aus selbstständiger Arbeit enorm zugenommen. Zugleich wurden viele Schwellen- und Entwicklungsländer zu Nettokapitalexporteuren. In Form von Zins- und Tilgungszahlungen exportierten sie weit mehr Kapital in die entwickelten Länder, als sie von dort in Gestalt von Direktinvestitionen und sogenannter Entwicklungshilfe erhalten haben. Immer größere Teile der wachsenden Unternehmensgewinne, der steigenden Einkommen der oberen Einkommensklassen und des den Drittweltländern entzogenen Kapitals flossen in die seit den Siebzigerjahren zunehmend deregulierten Finanzmärkte.

Wenn nun gefordert wird, die Banken und Finanzinstitutionen sollten sich doch auf ihre “eigentliche” Aufgabe konzentrieren, nämlich die Unternehmen mit Kapital zu versorgen, und sich nicht einer ausufernden Spekulation hingeben, dann gerät das Entscheidende aus dem Blick. Genauso wenig wie der Zweck der Automobilindustrie darin besteht, Mobilität herzustellen, besteht der Zweck des Bankensystems in der Kapitalversorgung. Die Automobilindustrie stellt Autos her, um damit Profit zu machen, Banken vergeben Kredite, um Gewinn zu machen. Beide versuchen ihre Geschäfte so einzurichten, dass der Gewinn maximal wird - nur damit können sie ihr ökonomisches Überleben sicherstellen.

Zu kurz gegriffen ist auch die Forderung nach einer Verstaatlichung des Bankensektors. Wenn eine staatliche Bank nicht permanent mit Steuergeldern unterstützt werden soll, kann sie sich im kapitalistischen Markt auch nicht viel anders verhalten als eine Privatbank. Nicht die jeweiligen Spieler (ob öffentlich oder privat) sind das Problem, sondern die Spielregeln. Soll versucht werden, über ein verstaatlichtes Bankensystem die kapitalistische Produktion in gesellschaftlich sinnvolle Bereiche zu lenken oder sie wenigstens weniger krisenhaft zu machen, dann muss auch in den kapitalistischen Charakter dieser Produktion eingegriffen werden. Die Verstaatlichung einiger Schlüsselindustrien (die sogar vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy in die Diskussion gebrachtwurde) würde nicht viel ändern.

Im Unterschied zu manchen Marxisten hatte Marx kein naives Vertrauen in Verstaatlichungen. Um die Spielregeln zu ändern, müsste die Produktion nämlich nicht nur gesellschaftlicher Kontrolle unterworfen werden (was etwas anderes ist als staatliche Kontrolle), vor allem müssten die Ziele und Mittel der Produktion neu bestimmt werden. Solange jedoch Profitmaximierung und Konkurrenz vorherrschen, werden wir immer wieder Krisen wie die gegenwärtige erleben.

Montag, 26. Januar 2009

Die drei Schätze


Aus Tao Te King - dem Buch vom Sinn und Leben (Laotse):

Die drei Schätze

Alle Welt sagt, mein SINN sei zwar großartig,
aber er scheine für die Wirklichkeit nicht geschickt.
Aber gerade das ist ja seine Größe,
dass er für die Wirklichkeit nicht geschickt erscheint.
Denn die Geschicklichkeit führt auf die Dauer zu Kleinlichkeit.
Ich habe drei Schätze,
die ich schätze und hüte:
Der eine ist die Liebe,
der zweite ist die Genügsamkeit,
der dritte ist die Demut.
Die Liebe macht, dass man mutig sein kann,
die Genügsamkeit macht, dass man weitherzig sein kann,
die Demut macht, dass man fähig wird zu herrschen.
Heutzutage ist man mutig unter Preisgabe der Liebe,
weitherzig unter Preisgabe der Genügsamkeit,
den andern voran unter Preisgabe der Demut:
das ist der Tod.
Denn die Liebe siegt im Kampfe,
ist fest in der Verteidigung.
Wen der Himmel retten will,
den schützt er durch die Liebe.

Le chien andalou


Le chien andalou - ein surreales Meisterwerk von Salvador Dalí und Louis Buñuel aus dem Jahre 1929. Die Bilder sind traumhaft, scheinbar unzusammenhängend, verstörend, nichts erscheint logisch, angefangen beim Titel. Doch seht selbst…


„Der Film erzielte die von mir erwarteten Resultate. Er machte an einem einzigen Abend zehn Jahre pseudointellektuellen Nachkriegsavantgardismus zunichte. Dieses schändliche Zeug, das man abstrakte Kunst nannte, fiel uns auf den Tod verwundet vor die Füße, um nie wieder aufzustehen, nachdem sie gesehen hatten, wie das Auge eines Mädchens von einer Rasierklinge durchschnitten wird. In Europa war kein Platz mehr für die manischen kleinen Rechtecke von Herrn Mondrian“ (Dalí)