Sonntag, 26. November 2017

Die schwierige Suche nach einem Atom-Endlager

Der Ausstieg aus der Kernkraft ist längst gesellschaftlicher Konsens. In fünf Jahren wird das letzte deutsche Atomkraftwerk abgeschaltet. Noch völlig ungeklärt ist hingegen die Frage, wo der Atommüll künftig gelagert wird. Über den aktuellen Stand bei der Endlagersuche sprach kürzlich Peter Hocke-Bergler, Experte für Technikfolgenabschätzung, unlängst in Schorndorf.

Eine Million Jahre: Dieser von der Bundesregierung festgelegte Sicherheitszeitraum sprengt die Grenze des menschlich Vorstellbaren. Doch genau so lange muss ein Endlager laut Gesetzgeber sicher sein. Ein Zeitraum, der nicht nur kaum fassbar, sondern auch mit so vielen Unabwägbarkeiten verbunden ist, dass eine wirklich sichere Lösung schier aussichtslos erscheint. Zumal der Müll selbst nach einer Million Jahren nicht völlig ungefährlich ist. Ein Erbe also darstellt, das noch lange nachstrahlen wird.

Wohin also mit dem Atommüll? Auch Peter Hocke-Bergler weiß darauf keine exakte Antwort. Der Sozialwissenschaftler arbeitet am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse in Karlsruhe und ist ein ausgewiesener Experte auf dem Gebiet. Eines zumindest sei seiner Ansicht nach sicher: „Keiner kommt gut raus aus dieser Kiste.“

Denn das Thema Atommüll sei doppelt vertrackt. Zum einen aufgrund der alles andere als trivialen technischen Herausforderungen: Der Müll lasse sich nicht wirklich recyceln, Transport und Lagerung seien aufwendig und gefährlich. Ein Endlager müsse deshalb extrem strengen Sicherheitskriterien entsprechen.

Zum anderen sei das Thema politisch höchst kontrovers. Mag sein, dass es einen Konsens über den Ausstieg gebe – über die Entsorgung sei bislang noch keiner gefunden. Die Endlager-Frage sei für die Politik auch höchst unattraktiv: „In einer Legislaturperiode ist das Problem nicht zu lösen. Es zahlt sich politisch nicht aus.“ Und dann gebe es ja noch die gut organisierte und immer noch mobilisierungsfähige Anti-Atom-Bewegung, die Transporte blockiere und Lagerung verhindern wolle.

Die offene Suche nach einem Endlager hat begonnen

Immerhin, so Hocke-Bergler, habe Deutschland zumindest über den Modus der Suche inzwischen einen politischen Konsens erreicht. Durch die Nuklearkatastrophe in Fukushima und den darauf folgenden endgültigen Ausstieg aus der Atomkraft habe sich die Chance für eine lagerübergreifende politische Lösung ergeben. 2013 wurde vom Bundestag schließlich das Standortauswahlgesetz verabschiedet, das in die Einsetzung einer Experten-Kommission und die Suche nach einem Endlager für radioaktive Abfälle mündete.

Eine Suche, die bewusst sehr offen gehalten wurde. Lediglich der Standort Gorleben galt als zur Prüfung gesetzt. „Extrem ungewöhnlich und gut“ sei dies gewesen, so Hocke-Bergler. Der Wissenschaftler hofft nun auf einen möglichst fairen Auswahlprozess.

Wichtig sei zunächst eine gute technische Lösung. Realistischerweise gebe es da nur drei Optionen: die wartungsfreie Lagerung in der Tiefe (im Salzstock, Ton- oder Granitboden), eine Tiefenlagerung mit Wartungsmöglichkeit oder die Langzeitlagerung an der Oberfläche. Hundertprozentige Sicherheit böte keine dieser Optionen. „Auch Salzstöcke sind nicht besonders sicher – nur tief unten.“ Und weil sie schon Millionen Jahre überdauerten, ginge man davon aus, dass dies auch in Zukunft so bleibe. Ein klassischer Analogieschluss und damit eine reine Wette auf die Zukunft.

Die schiere Menge - Greenpeace schätzt diese in Deutschland auf rund 15 000 Tonnen - sei nicht das Problem. Die große Herausforderung: Radioaktive Behälter strahlen und geben sehr viel Wärme ab. Was genau bei der Lagerung über die Jahrtausende passiere, könne daher niemand mit Sicherheit vorhersagen.

Was bekommt die Region, in der das Endlager schließlich stehen wird?

Bei der Endlager-Suche sei aber nicht alleine die Technik entscheidend. „Wichtig ist auch stets die Frage: Was bekommt die Region, in der das Endlager stehen wird?“ Die Politik müsse genau darauf schauen. Um einen verfestigten Konflikt, wie er in Gorleben seit 40 Jahren tobt, zu verhindern, sei Bürgerbeteiligung dringend erforderlich.

Insgesamt sieht Peter Hocke-Bergler Deutschland aber auf einem guten Weg. Vieles werde nun davon abhängen, wie sich die politische Kultur entwickle, und vor allem, mit welchem Selbstverständnis die Bürger dieser Herausforderung begegnen.

Bis dahin dürften, so vermutet es der Experte, aber noch einige Jahrzehnte ins Land ziehen. Vor 2050 sei nicht mit der Inbetriebnahme eines Endlagers zu rechnen. Der Transport von den Zwischenlagern werde nochmals Jahrzehnte in Anspruch nehmen. „Die Geschichte der Kernenergie ist also noch lange nicht vorbei.“

(Eine andere Version dieses Textes erschien am 9.10.2017 in den Schorndorfer Nachrichten)

Freitag, 17. November 2017

Flüchtige Notizen IX: Democracy

4/9/2002:

Widerspiegelung

Ich seh mich wieder groß an meinen Grenzen
Aufgetaucht ich hatte mich vergessen.
Vogel, flugs die Grenzen zu verwunden,
Frohlocke ich, die Spiegelscherben glänzen.
Ich hungerte, jetzt will ich wieder essen:
Dies Manna der Verletzungen, die munden.

(Elke Erb, 1991)

Die 79-jährige Lyrikerin erhält in diesem Jahr den Mörike-Preis der Stadt Fellbach.

Montag, 13. November 2017

Mixtape No. 14: Low Life

1. The Tower - Motorpsycho (2017)
2. Star roving - Slowdive (2017)
3. Hey du - Tocotronic (2017)
4. Exalted - Thurston Moore (2017)
5. L.A. won't bring you down - Miles Mosley (2016)
6. Blue light - Kelela (2017)
7. Lift - Radiohead (1996)
8. Svefn-g-englar - Sigur Rós (1999)
9. Te Deum - Arvo Pärt (1984)
10. Trois gymnopédies - Eric Satie (1888)

...und hier die ganze Youtube-Playlist.



Mittwoch, 4. Oktober 2017

Hiobs Botschaft

"Aber warum dieses Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen - warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem nichts mich verbindet? Warum wir alle? Und keiner wußte Antwort. Selbst Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wußte keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn.

Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch diese rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen wird auf Erden."

Stefan Zweig in: Die Welt von Gestern (1944) über den Exodus der Juden Europas aus ihren Heimatländern Ende der 1930er Jahre.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Im ideologischen Zeitalter

Mit der Revolution im Jahre 1917 begann in Russland eine historische Entwicklung, die das gesamte 20. Jahrhundert prägen sollte. Die Spaltung der Welt in Ost und West nahm ihren Anfang. Bei einem Vortrag an der Schorndorfer VHS warf der Historiker Dr. Hartmut Jericke  einen kritischen Blick auf dieses epochale Ereignis, seine Hintergründe und Folgen.

Wer die verstehen wolle, müsse aber zuerst auf jenes Jahrhundert schauen, das Jericke als das „optimistischste, fortschrittlichste und friedlichste“ der modernen, europäischen Geschichte bezeichnet. Das 19. Jahrhundert, nach dem Wiener Kongress 1815 durch ein gesundes Mächtegleichgewicht geprägt, brachte aber nicht nur mit der industriellen Revolution einen „unglaublichen Entwicklungsschub“ für die Menschheit. Es war auch jenes Jahrzehnt, in dem die traditionelle Ständegesellschaft überworfen wurde, der Kapitalismus als Wirtschaftssystem aufblühte und mit ihm das Proletariat und seine Ausbeutung entstand.

Niemand habe die Verhältnisse im Frühkapitalismus dann so deutlich beschrieben wie Karl Marx. Klarsichtig habe der Ökonom das Wirtschaftssystem analytisch kritisiert und damit indirekt viel zur Verbesserung der sozialen Verwerfungen beigetragen, findet Jericke: „Wir haben Marx einiges zu verdanken.“ Zumindest dem Ökonom. Bei seinen philosophischen Betrachtungen „irrte Marx aber gewaltig“. Seine Utopie von der klassenlosen Gesellschaft hält der konservative Historiker durch die Geschichte der Sowjetunion für widerlegt.

Bauern statt Proletarier – wie Lenin den Marxismus neu interpretierte

Doch wieso war es überhaupt das Zarenreich, in dem die Ideen des Trierer Ökonomen als Erstes umgesetzt wurden? Denn was Marx als Subjekt der Revolution bezeichnete, machte im zaristischen Russland gerade mal drei Prozent der Bevölkerung aus. Über 90 Prozent der Russen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bauern. Formal freie Bauern zwar, die aber de facto immer noch in feudalen Abhängigkeitsstrukturen lebten.

So war es im Februar 1917 auch zunächst eine bürgerliche Revolution, die das Zarenreich hinwegfegte. Doch die Revolutionäre wollten keinen Frieden und Lenin erkannte die geschichtliche Chance. Er sah die Wut der Bauern und beschloss, diese in Russland zum Subjekt der Revolution zu machen. Lenin versprach ihnen Freiheit und eine eigene Scholle für den Fall, dass sie den Kommunisten folgten. Was sie dann bei der Oktoberrevolution schließlich auch taten.

Doch Lenins Versprechen gegenüber den Bauern blieb letztlich unerfüllt. Er dekretierte zwar die Verteilung von Grund und Boden an sie. Doch der Traum von der eigenen Scholle wurde für sie nur kurz wahr. Im Gegenteil: Unter seinem Nachfolger Stalin wurden sie schließlich zwangskollektiviert und als Kulaken massenhaft verfolgt. Die Opferzahlen gehen in die Millionen.

Und dennoch war mit der Russischen Revolution jener folgenreiche Gedanke in der Welt, dass ein besseres Leben im Hier und Jetzt - und zwar überall - machbar sei. Dies schürte im Westen die Angst vor einer Weltrevolution. Die Arbeiterklasse spaltete sich, auch in Deutschland, wo seit Dezember 1918 eine Kommunistische Partei neben der SPD den Alleinvertretungsanspruch für die Arbeiterklasse beanspruchte.

Es begann das Zeitalter der Ideologien und damit auch der Aufstieg des Faschismus in Europa, der sich das Feindbild Kommunismus zunutze machte.

„Nach 1918 war die liberale bürgerliche Gesellschaft am Ende“, sagt Jericke. Eine misslungene Friedensordnung, die Russland und Deutschland nicht einband, sondern isolierte, tat ihr Übriges dazu.

Und während Stalin den Agrarstaat Sowjetunion mit aller Gewalt industrialisierte, übernahmen in immer mehr europäischen Ländern Faschisten die Macht, bis 1939 kaum ein Land mehr liberal regiert wurde.

Die Tragödie gipfelte im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Kaum ein Land hatte mehr Opfer zu beklagen, doch die Sowjetunion gewann den Krieg und besiegte damit den Faschismus. „Die Entscheidung über die Ideologie von Karl Marx blieb aus.“ Nun begann der Kalte Krieg, das Wettrüsten der Großmächte, mithin jene Spaltung der Welt, die sie zeitweise an den Rand des Atomkriegs trieb.

Ohne Russland kein Frieden: Eine wichtige geschichtliche Lektion

Bekanntermaßen verlor die Sowjetunion diesen Wettstreit, ging 1991 sang- und klanglos unter – und mit ihr auch die Attraktivität des Marxismus.

Was bleibt, ist folgende Erkenntnis: „Wer glaubt, dass man die Russen außen vor lassen kann, der irrt.“ Eine Friedensordnung in Europa könne es deshalb nur mit Russland geben.

Das ideologische Zeitalter, es ist noch nicht an sein Ende gekommen.

(Dieser Artikel erschien bereits in den Schorndorfer Nachrichten.)

Mittwoch, 20. September 2017

Kunstnacht Schorndorf

 Im Namen der Dose (Hardy Zürn): Auf den ersten Blick geht es um profane Dosen und wie sie Form und Zustand verändern. Doch als  rostige, plattgefahrene und kaputte Objekte werden sie dann zu stimmigen Erzählungen geflochten.

Zellformationen (Jenny Winter-Stojanovic): Eine Performance, die das Suchen, Finden und Entstehen, das Abstreifen von Häuten in verschiedenen Lebensphasen thematisiert.

Das Röhm-Areal: In der blauen Stunde entfaltet das Gelände eine faszinierende Aura zwischen Industriearchitektur und modernem Kreativquartier.

Kesselhaus: Ist an diesem Abend in rotes und blaues Licht getaucht. Rote Laserpunkte schwirren durch den Raum. Dazu Musik aus einem Modularsynthesizer.

Abgrenzung Ausgrenzung Eingrenzung (Bernard E.A. Czychi): Auf welcher Seite stehen wir? Wovon grenzen wir uns ab? Sind neue Grenzen oder Abgrenzungen tatsächlich die richtige Lösung?

Landliebe II - Homines et bestias (Annette Schock): Handwerklich starke Porträts von Tieren und Menschen, so präzise wie bizarr.

Kleine Kriegsserie (Bertold Becker): Kriegs-Erinnerungen aus zweiter Hand. Hier: Die Verhaftung. „Mit dem Abstand zu den realen Geschichtsereignissen scheinen die Bilder, die wir uns davon machen oder bewahrt haben einerseits blasser zu werden. So, als würden sie ihre (traumatisierend-bedrängende) Kraft endlich verlieren, sich dem vielleicht herbeigesehnten allmählichen Vergessen anverwandeln. Als ob es nie gewesen sei. (…) Andererseits aber werden die Bilder Beckes durch die bewusste ästhetische Entscheidung zur Unschärfe auch wieder gespenstischer und damit gefährlich. Behaupten sie so doch den Tat-Ort als so real wie gefährdet. Die materiellen Spuren mögen verwischt sein. Anders die unlöschbaren mentalen. Fixiert zu tränenverschleierten Erinnerungsfetischen werden sie als unheimliche Widergänger zurückkehren.“ (Thomas Milz)

Q Galerie: Tausende Stunden Klang, geschmolzen, verfremdet und zu neuer Kunst gewoben. 

...aufgenommen am 16. September in Schorndorf.

Dienstag, 29. August 2017

Impressionen No. L: Folk

Volksdorf.

Volkspalast.

Völkerkunde.

Wählervolk.

Folkstum.

Kunstvolk.

Donnerstag, 3. August 2017

Verliebt ins Scheitern

Lenin Riefenstahl und Christian Rottler beim Auftritt im Merlin

Bleischwer lag die Kohl-Ära über der Republik, als Christoph Schlingensief die „Chance 2000“ gründete. Er nannte sie die „Partei der letzten Chance“ und verpasste ihr das programmatische Motto „Scheitern als Chance“. Für Schlingensief war die Partei „ein in jeder Hinsicht unbegrenztes Theaterstück“, ein „Appell, selbstbewusster zu leben“, mit Richtungslosigkeit als oberstem Prinzip.

Scheitern als Chance

In den Randständigen, Überflüssigen, Arbeitslosen sah er die kommende Avantgarde. Mit Aktionskunst wollte er nicht nur die dröge Ära Kohl überwinden, sondern den Neoliberalismus endlich produktiv und radikal für die Kunst nutzen. „Alles aufgeben! Fehler machen! Scheitern ist Chance! Nicht Wandel, sondern Revolution, nicht Revolution, sondern permanente Revolution, Unsicherheit!“ Gerade in der Sphäre der im kapitalistischen Sinne Nicht-Produktiven werde schließlich gearbeitet, werde Sinn produziert wird. Schlingensiefs Projekt wendete das gesellschaftliche Scheitern seiner Protagonisten in eine künstlerische Chance und begab sich auf die Suche nach dem guten Leben.

Auch Christian Rottler, Absolvent der Weimarer Bauhaus-Universität, ließe sich in diesem Sinne als Gescheiterter beschreiben. Beinahe wäre ihm der Sprung in die professionelle Künstlerexistenz gelungen. Hörspiele im Kulturradio, ein Song auf Motor-FM-Dauerschleife, drei Jahre später dann fast ein Plattenvertrag bei einem Major-Label. Doch der Sprung misslang. Und Rottler geriet in eine künstlerische Krise, aus der er sich nur langsam wieder befreit.

Vom Willen, zu scheitern

Das Scheitern durchzieht sein gesamtes Werk. Im Hörspiel „Nahkampf oder telefonieren“ soll ein letztes Telefonat zwischen den einst Liebenden alles kitten – und kann das Unausweichliche doch nicht verhindern. Die Begegnung mit den Jugendhelden Rottlers gerät zur offenen Therapiesitzung des von Selbstzweifeln geplagten Künstlers. Immer im Hintergrund mitschwingend: Thomas Bernhard, an dessen Werk „Holzfällen“ sich der Titel des Hörspiels anlehnt. Über das Scheitern schrieb der Österreicher einst in „Ja“: „Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.“ 

Kommando Ödipus - live im Merlin

Und dann ist da natürlich Marcel Proust und sein Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, an der Rottler scheitert. Der Literatur-Fresser, dessen Stolz auf die prall gefüllten Bücherwände jeder sofort spürt, der sich mit ihm über Literatur unterhält, muss sich die abgebrochene Lektüre zunächst selbst erklären.

In einem dichten Essay verarbeitet er sein Scheitern an Proust. Und kommt dabei zu folgender These: Frei nach Pierre Bourdieu produziert die Lektüre solcher Wälzer eine Art kulturelles Kapital im Paarungsverhalten gebildeter Schichten. Inhalt oder literarische Bedeutung des Werks sind dabei zweitrangig. Entscheidend sei vielmehr, dass der Leser den Stoff überhaupt bewältigt, das Buch zu Ende liest – und damit im intellektuellen Kampf der Geschlechter sexuelle Attraktivität erlangt. Seit Jahren reibt Christian Rottler stolz jedem, dem er gewisse intellektuelle Fähigkeiten attestiert, den Essay unter die Nase.

Um das Scheitern geht es auch in dem Song „Schlichte Perfektion“. Ja, heute mag alles grau und trüb erscheinen, aber „ab morgen überrasch‘ ich dich täglich mit schlichter Perfektion“. Was natürlich nie passieren wird – und letztlich auch nicht entscheidend ist.

Ein künstlerischer Sieg

Auch Christoph Schlingensief scheiterte mit seinem Projekt „Chance 2000“ gleichermaßen planmäßig wie grandios. Und doch erwuchs ihm daraus ein künstlerischer Sieg. 1998 war Schlingensief auch jenseits avantgardistischer Kreise plötzlich ein Name. Als der Künstler dann einige Jahre später an Krebs erkrankte, machte er seine Krankheit kurzerhand zum Kunstbesitz, deutete das Scheitern des Körpers als künstlerische Chance. Sein letztes, noch unvollendetes Projekt – der Aufbau eines Operndorfes in Burkina Fas – setzte die Kunst schließlich als Kontrapunkt zu Kapitalismus, Kolonialismus und Armut. Und immer im Hintergrund mitschwingend die Frage: Was ist das, das gute Leben?

Dieses existenzielle Thema treibt auch Christian Rottler in seinem noch unvollendeten Werk um. Der undogmatische Linke hat mithin noch viele Fragen an sich selbst und die Welt. Und zum Glück keine Angst vorm Scheitern.

Sonntag, 30. Juli 2017

Meine Brüder und Schwestern im Norden




Ein Heimatfilm über Nordkorea von Sung-hyong Cho (leider nicht mehr in Gänze frei verfügbar, daher nur der Trailer...)

Dienstag, 13. Juni 2017

Impressionen No. XLIX: Bildhauer-Symposium

Street sign #1


Street sign #2

Werkstatt #1

 Lederfabrik #1

Werkstatt #2

Street sign #3

 
Planetary prince (Cameron Graves)

Werkstatt #3

Lederfabrik #2

Freitag, 26. Mai 2017

Kinski, Trump und Herzog

"Trump auf Staatsbesuch - das erinnert ein wenig an Werner Herzogs Film "Fitzcarraldo". Klaus Kinski spielt darin mit irren Augen einen Europäer, der im Amazonas-Dschungel einen Dampfer über einen steilen Bergrücken hinweg von einem Fluss in einen anderen schleppen lässt. Trump gleicht diesem an Land gezogenen Flussdampfer - ein großes, in seiner Wucht unberechenbares und deswegen gefährliches Objekt, das in einem Element unterwegs ist, für das es weder gedacht ist, noch gebaut wurde. Da betet man, dass keines der Haltetaue reißt."

(Daniel Brössler & Hubert Wetzel in der SZ, 26.5.17)



Burden of dreams - Kurzfilm über das Wahnsinnsprojekt von Werner Herzog

Der Revoluzzer

War einmal ein Revoluzzer,
Im Zivilstand Lampenputzer;
Ging im Revoluzzerschritt
Mit den Revoluzzern mit.

Und er schrie: ‚Ich revolüzze!‘
Und die Revoluzzermütze
Schob er auf das linke Ohr,
Kam sich höchst gefährlich vor.

Doch die Revoluzzer schritten
Mitten in der Straßen Mitten,
Wo er sonsten unverdrutzt
Alle Gaslaternen putzt.

Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
Aus dem Straßenpflaster aus,
Zwecks des Barrikadenbaus.

Aber unser Revoluzzer
Schrie: ‚Ich bin der Lampenputzer
Dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!

Wenn wir ihn’ das Licht ausdrehen,
Kann kein Bürger nichts mehr sehen,
Laßt die Lampen stehn, ich bitt!
Denn sonst spiel’ ich nicht mehr mit!‘

Doch die Revoluzzer lachten,
Und die Gaslaternen krachten,
Und der Lampenputzer schlich
Fort und weinte bitterlich.

Dann ist er zuhaus geblieben
Und hat dort ein Buch geschrieben:
Nämlich, wie man revoluzzt
Und dabei doch Lampen putzt.

(Erich Mühsam, 1907, gewidmet der deutschen Sozialdemokratie)

Dienstag, 16. Mai 2017

Mixtape No. 13: Lieder am Rande der Zuversicht


1. Találkozás egy régi szerelemmel - Kati Kovács, Gabor S. Pál (1975)
2. Ain't no love in the heart of the city - Bobby "Blue" Band (1980)
3. They won't go when I go - Stevie Wonder (1974)
4. Fascination street - The Cure (1989)
5. Love will tear us apart - Joy Division (1980)
6. Freefall - A Mountain of One (2008)
7. That's why I'm lonesome - Arthur Crudup (1947)
8. Feel like going home - Muddy Waters (1948)
9. Too much on my mind - The Kinks (1966)
10. Freedom - Richie Havens (1969)
11. Tell her to come back home - John Fahey (1965)
12. Cortez the killer - Neil Young (1975)
13. The night we met - Lord Huron (2015)

...und hier wie immer das ganze als Youtube-Playlist.

Sowie als Spotify-Playlist (leider ohne Lied No. 6):



Mittwoch, 3. Mai 2017

Global Jukebox

 

Eines der größten Archive an Field Recordings ist seit einigen Wochen im Internet frei verfügbar. Die "Association for Cultural Equity" hat in der Global Jukebox mehr als 17 000 Aufnahmen des 2002 verstorbenen Musikforschers Alan Lomax freigegeben.

Sie reichen von bayerischen Gstanzl über US-Folksongs aus der Zeit der Depression bis zu zentralafrikanischen Stammesgesängen in Kanioka, versehen mit Hintergrund-Texten und Anmerkungen. Es lassen sich auch "musical journeys" durch bestimmte Zeiten und Regionen unternehmen. Wer sich für nicht-klassische Musikgeschichte interessiert, wird damit sicher seine Freude haben.

Weitere musikhistorische Aufnahmen von Lomax, darunter Interviews, Witze oder persönliche Geschichten sind übrigens hier verfügbar.

Bild: Screenshot von theglobaljukebox.org

Der Anhalter, Teil 2

Heinrich Kurzrock, der vor einiger Zeit an dieser Stelle bereits erwähnte Anhalter, hat nun ein Porträt in unserer Lokalzeitung bekommen. Kollege Schwarz hat den eigenwilligen Lebenskünstler in seiner "Zelle" auf der Erlacher Höhe besucht.

Die Lektüre des Artikels über diesen außergewöhnlichen Menschen von klarem Verstand, der 44 Jahre seines Lebens auf der Straße verbracht und dabei eine ganz eigentümliche schlitzohrige Lebensweisheit erlangt hat, sei hiermit ausdrücklich empfohlen.

Mittwoch, 12. April 2017

Impressionen No. XLVIII: April

Hazel

Right off, Mr. Miles Davis!

Zufall

Ein Anfang.

Trio.

Weit schweifend.

Oh, beetlebum.


Aus einem April

Wieder duftet der Wald.
Es heben die schwebenden Lerchen
mit sich den Himmel empor, der unseren Schultern schwer war;
zwar sah man noch durch die Äste den Tag, wie er leer war,-
aber nach langen, regnenden Nachmittagen
kommen die goldübersonnten
neueren Stunden,
vor denen flüchtend an fernen Häuserfronten
alle die wunden
Fenster furchtsam mit Flügeln schlagen.

Dann wird es still. Sogar der Regen geht leiser
über der Steine ruhig dunkelnden Glanz.
Alle Geräusche ducken sich ganz
in die glänzenden Knospen der Reiser. 
(Rainer Maria Rilke, 1902)

Freitag, 17. März 2017

Ein Bild steht nie nur für sich selbst

Der Schrifsteller Teju Cole ("Open City", "Jeder Tag gehört dem Dieb") ist seit geraumer Zeit auch als Fotografie-Kritiker der New York Times tätig. In seiner neusten Kolumne "A photograph never stands alone" beschäftigt sich Cole mit Danny Lyons ikonischem “The Cotton Pickers”.

Das Bild zeigt schwarze Gefangene, die als Baumwollpflücker Ende der 60er Jahre auf einem Feld in Texas arbeiten müssen. Es ist Teil eines lang angelegten Projekts über texanische Gefängnisse und bildete später die Basis des Buchs "Conversations with the dead".

"This photograph has an extraordinary sense of rhythm, a rhythm that makes it (...) visually arresting", schreibt Cole, der bekennt, das Foto zugleich zu hassen und zu lieben. Zu hassen, weil es eine demütigende Situation zeigt. Zu lieben aufgrund der kompositorischen Harmonie. Eine Harmonie, die in Kontrast zum Gezeigten steht - und zugleich auf eine Reihe ikonischer Fotografien zu dem Thema verweist.

Damit deutet Cole auf ein Problem hin, mit dem heute angesichts der Bilderflut jede Fotografie konfrontiert ist: Ein Bild steht nie nur für sich selbst. "Images make us think of other images. Photographs remind us of other photographs, and perhaps only the earliest photographs had a chance to evade this fate."

Jedoch: "Even the earliest photographs are themselves now burdened by this reality, because when we look at them, we do so in the knowledge of everything that came after. All images, regardless of the date of their creation, exist simultaneously and are pressed into service to help us make sense of other images. This suggests a possible approach to photography criticism: a river of interconnected images wordlessly but fluently commenting on one another." 

Dienstag, 14. März 2017

Immer weiter nach rechts

Die WDR-Doku "Das braune Netzwerk" mag zwar etwas reißerisch inszeniert sein, liefert aber zahlreiche Hinweise dafür, wie stark AfD, alte Rechte, Neue Rechte, Identitäre Bewegung, Holocaust-Leugner und Reichsbürger inzwischen miteinander vernetzt sind.

Ob sich daraus wohl bis zur Bundestagswahl (und darüber hinaus) tatsächlich eine gemeinsame Agenda ergibt oder sich die rechte Szene (was zu hoffen wäre) einmal mehr selbst zerfleischt?

Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten

Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten:
Wer alles will, will sich vor allen mächtig;
Indem er siegt, lehrt er die andern streiten,
Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;
So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,
Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig,
Und der Geburten zahlenlose Plage
Droht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.

Der Dichter sucht das Schicksal zu entbinden,
Das, wogenhaft und schrecklich ungestaltet,
Nicht Maß, noch Ziel, noch Richte weiß zu finden
Und brausend webt, zerstört und knirschend waltet.
Da faßt die Kunst, in liebendem Entzünden,
Der Masse Wust, die ist sogleich entfaltet,
Durch Mitverdienst gemeinsamen Erregens,
Gesang und Rede, sinnigen Bewegens.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Dienstag, 7. März 2017

Mixtape No. 12: Alternative Songs statt alternativer Fakten

1. A Tribe Called Quest - We the people... (2016)
2. Solange - Don't touch my hair (2016)
3. Thundercat - Show you the way feat. Michael McDonald & Kenny Loggins (2017)
4. Flying Lotus - Never catch me feat. Kendrick Lamar (2014)
5. Omar Sosa - Cha-amarillo (2000)
6. Gil Scott-Heron - The bottle (1974)
6. Stevie Wonder - Too high (1973)
7. Marvin Gaye - Inner city blues (1971)
8. Thelonious Monk - Don't blame me (1963)
9. Charles Mingus - Moanin (1960)
10. Miles Davis - So what (1959)

...und hier das ganze als Youtube-Playlist.

Sonntag, 5. März 2017

Impressionen No. XLVII: New Mayflower

 Youmin wishes.
Nanchang laocheng.
Lost in translation.
Youmin Tempel.
 Jiangxi.
Street life.
My dear friend, I'm coming now.

Donnerstag, 26. Januar 2017

Jaki Liebezeit (1938-2017)

Jaki Liebezeit, ehemals Drummer von Can, der wichtigsten deutschen Band der 70er Jahre, ist kürzlich im Alter von 78 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben. Warum Can und die anderen "Krautrock-Bands" so wichtig waren (und in Deutschland heute fast vergessen sind), erklärt die an dieser Stelle schon einmal empfohlene Doku "Krautrock - The rebirth of Germany" ganz gut.



Der Drummer mit seinem unverwechselbar mechanischen Stil - Holger Czukay sagte einst „Jaki spielt wie eine Maschine. Bloß besser.“ - war aber auch jenseits von Can gefragt und geschätzt. Er arbeitete unter anterem mit Brian Eno, Depeche Mode oder Michael Rother. Und ist nebenbei auch noch verantwortlich für den treibenden Schlagzeug-Beat beim "Goldenen Reiter". Bei Pitchfork gibt es eine kleine Zusammenstellung mit Jakis wichtigsten Drum-Parts ohne Can.

Seinen vielleicht besten Schlagzeug-Part als Mitglied von Can hatte Liebezeit wohl bei Vitamin C, dem eingängigsten Stück des Albums Ege Bamyasi (1972):

Freitag, 20. Januar 2017

High Fidelity No. 8: Granulate


Meine Bücher des Jahres 2016
1. Jonathan Franzen – Die Korrekturen 
2. Christoph Kucklich – Die granulare Gesellschaft 
3. Thees Uhlmann – Sophia, der Tod und ich 
4. Riad Satouff – Der Araber von morgen 
5. Roger Willemsen – Das hohe Haus

BELLETRISTIK:

Thees Uhlmann – Sophia, der Tod und ich: Das Buch hat mich (nach Distelmeyers Totalreinfall Otis) sehr positiv überrascht. Zumal Uhlmanns Songtexte nicht annähernd solch ein Format haben. Ein Buch mit Tiefgang und Witz, definitiv kurzweilig.

Rainald Goetz – Johann Holtrop: Ein Roman so kalt wie der Kapitalismus und seine Folgen, weshalb die Lektüre nicht immer Freunde bereitete. Spitzenmanager wie Middelhof (nach dem Goetz seinen Hauptdarsteller geformt hat) führen im Grunde ein schreckliches Leben.

Anton Tschechov – Taugenichts: Schöne russische Erzählung, bei der, anders als bei Eichendorff, nichts literarisch überhöht wird.

Riad Satouff – Der Araber von morgen: Der Comic behandelt in harten Bildern Satouffs eigene Kindheit als Kind einer Französin und eines Arabers zwischen Frankreich, Libyen und Syrien in den 80er Jahren. Witzig und tiefgängig zugleich. Der Autor zeichnet dabei ein gerade aus der kindlichen Perspektive ziemlich düsteres Bild des Nahen Ostens.

Jonathan Franzen – Die Korrekturen: Seit „Der unendliche Spaß“ habe ich keinen so guten amerikanischen Roman mehr gelesen.

Christian Siglinger – Alles nur ein Spiel: Bubeck und Siglinger arbeiten seit mehreren Jahren an Kunstprojekten, die Text und Bild kombinieren: Lyrik mit Fotos („Gespräche mit dem Tod“, Erzählung mit Gemälde („Ich heiße“). Bei „Alles nur ein Spiel“ haben die beiden gleich ein komplettes Universum mit eigener Sprache und eigenen Regeln entworfen, das natürlich Fantasy ist, ohne aber in den üblichen eskapistischen Kitsch zu fallen. Das Projekt steht noch am Anfang, der erste Text ist schon mal sehr vielversprechend.

Wolfgang Herrndorf – Tschick: Toller Jugendroman mit klarer Sprache, eigenem Sound und einer guten Geschichte.

SACHBÜCHER:

Misha Glenny – König der Favelas: Kenntnisreiche, gut recherchierte Reportage über eine Favela in Rio und ihren langjährigen Drogenboss Nem. Das Buch bietet einen guten Einblick in die brasilianische Gesellschaft. Glenny hat dafür ein knappes Jahr selbst in der Favela gelebt und ist den Protagonisten sehr nahe gekommen. Fast etwas zu nahe, fällt doch das Porträt Nems ziemlich wohlwollend aus.

Wolfram Lüders – Wer den Wind sät: Das Buch bietet keine wirklich neuen Erkenntnisse, aber einen guten Überblick über all die Sauereien und Dummheiten der Außenpolitik des Westens im Nahen Osten, beginnend mit dem Sturz Mossadeghs im Jahr 1953. Die harsche Israel-Kritik des Autors teile ich nicht, ansonsten ist der Blick recht realistisch.

Christoph Kucklich – Die granulare Gesellschaft: Mit der die Digitalisierung verschwindet allmählich das Verbindende, das Gesellschaften im Kern ausmacht. Die Menschen vereinzeln und werden zugleich sichtbarer, ansprechbarer, identifizierbarer für Politik und Wirtschaft, wodurch die Ungleichheit radikal zunimmt. So zumindest die These von Kucklichs nüchtern geschriebener Zeitdiagnose, die ich weitestgehend für korrekt halte.

Albrecht von Lucke – Die Schwarze Republik: Blätter-Herausgeber Lucke analysiert das Scheitern der politischen Linken in Deutschland. Sein (wenig überraschendes) Rezept: Die SPD sollte wieder gesellschaftskritisch links werden und Rot-Rot-Grün regieren. Im Moment wohl eher Wunschdenken.

Stefan Schulz – Redaktionsschluss: Schulz, früher mal Mitarbeiter der FAZ, diagnostiziert das Ende der Zeitung, sieht die Schuld dafür einzig und alleine bei den Journalisten, geizt aber mit praktischen Vorschlägen, wie es besser zu machen wäre, arbeitet gerade übrigens an einem Zeitungsprojekt und hat mich nur teilweise überzeugt.

Roger Willemsen – Das hohe Haus: Kluges Buch eines sehr guten Beobachters, der ein Jahr lang jede Sitzung des Bundestages besuchte und dessen Stimme nun leider fehlt.

Ilija Trojanow – Meine Olympiade: Der Schriftsteller absolviert im Selbstversuch alle olympischen Einzeldisziplinen. Liest sich interessanter als es klingt, denn Trojanow entdeckt dabei die unter Leistungsdruck und Rekordsucht verborgene Poesie des Sports.

Claude Levi-Strauss – Mythos und Bedeutung: Die fünf Radiovorträge bieten eine gute Einführung in das Denken des Strukturalisten.

Patrick Kingsley – Die neue Odyssee: Für diese Reportage über die jüngste Flüchtlingskrise hat der Migrations-Korrespondent des Guardian 17 Länder auf drei Kontinenten besucht. Er führt dabei eindrucksvoll vor Augen, dass die Menschen nicht zu stoppen sind.

Harald Welzer – Die smarte Diktatur: Während Kucklich sachlich über die Folgen der digitalen Revolution schreibt, argumentiert Welzer polemisch. Wie schon in „Selbst denken“ greift er dabei gerne auf das Mittel der Publikumsbeschimpfung zurück. Die Digitalisierung führt zur freiwilligen Selbstentmündigung und bedroht damit die Grundlagen unserer liberalen Demokratie, so die Kernthese des Soziologen. Nach der Lektüre möchte man am liebsten sein Smartphone aus dem Fenster schmeißen

Cigdem Akyol – Erdogan: Gute, differenzierte Biografie, die noch vor dem Putschversuch erschien, allerdings etwas darunter leidet, dass Akyol nicht mit Erdogan, seiner Familie und seinem Umfeld reden konnte. Die Journalistin sieht in dem türkischen Präsidenten weniger einen Islamisten als einen Machtpolitiker, der aus dem Bauch heraus handelt und dessen Agenda schlicht "Recep Tayyip Erdogan" heißt.

Till Reiners – Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Linker Nachwuchskabarettist begibt sich auf die Spuren von AfD, Pegida & Co, um zu verstehen, woher all die Furcht und der Hass kommen. Hätte ich wohl nie gelesen, wäre Reiners nicht Kommilitone von mir gewesen. War dann positiv überrascht, dass er diese Einstellungen ernsthaft verstehen wollte, seine eigenen Unzulänglichkeiten offen gelegt und als studierter Politikwissenschaftler sein Handwerk nicht verlernt hat.

Armin Riller / Heike Holdingshauen – Wir konsumieren uns zu Tode: Es handelt sich um eine Binse, dass unser jetziges Konsum- und Wirtschaftsverhalten nicht nachhaltig ist. In diesem Buch erklären ein Professor für Ressourcenmanagement und eine taz-Redakteurin auf sachlich-informative Weise, warum wir unseren Lebensstil verdammt noch mal ändern sollten.

Montag, 16. Januar 2017

Impressionen No. XLVI: Total noise

Schaffenskrise.

"Part of our emergency is that it's so awfully tempting to do this sort of thing right now, to retreat to narrow arrogance, preformed positions, rigid filters, the "moral clarity" of the immature. The alternative is dealing with massive, high-entropy amounts of info and ambiguity and conflict and flux; it's continually discovering new vistas of personal ignorance and delusion. In sum, to really try to be informed and literate today is to feel stupid nearly all the time, and to need help. 

(...) What free, informed adulthood might look like in the context of Total Noise: not just the intelligence to discern one’s own error or stupidity, but the humility to address it, absorb it, and move on and out there from, bravely, toward the next revealed error." (David Foster Wallace, 2007)
 
Störrisches Kind.

Insomnia.


Europe is lost.