Freitag, 20. Januar 2017

High Fidelity No. 8: Granulate


Meine Bücher des Jahres 2016
1. Jonathan Franzen – Die Korrekturen 
2. Christoph Kucklich – Die granulare Gesellschaft 
3. Thees Uhlmann – Sophia, der Tod und ich 
4. Riad Satouff – Der Araber von morgen 
5. Roger Willemsen – Das hohe Haus

BELLETRISTIK:

Thees Uhlmann – Sophia, der Tod und ich: Das Buch hat mich (nach Distelmeyers Totalreinfall Otis) sehr positiv überrascht. Zumal Uhlmanns Songtexte nicht annähernd solch ein Format haben. Ein Buch mit Tiefgang und Witz, definitiv kurzweilig.

Rainald Goetz – Johann Holtrop: Ein Roman so kalt wie der Kapitalismus und seine Folgen, weshalb die Lektüre nicht immer Freunde bereitete. Spitzenmanager wie Middelhof (nach dem Goetz seinen Hauptdarsteller geformt hat) führen im Grunde ein schreckliches Leben.

Anton Tschechov – Taugenichts: Schöne russische Erzählung, bei der, anders als bei Eichendorff, nichts literarisch überhöht wird.

Riad Satouff – Der Araber von morgen: Der Comic behandelt in harten Bildern Satouffs eigene Kindheit als Kind einer Französin und eines Arabers zwischen Frankreich, Libyen und Syrien in den 80er Jahren. Witzig und tiefgängig zugleich. Der Autor zeichnet dabei ein gerade aus der kindlichen Perspektive ziemlich düsteres Bild des Nahen Ostens.

Jonathan Franzen – Die Korrekturen: Seit „Der unendliche Spaß“ habe ich keinen so guten amerikanischen Roman mehr gelesen.

Christian Siglinger – Alles nur ein Spiel: Bubeck und Siglinger arbeiten seit mehreren Jahren an Kunstprojekten, die Text und Bild kombinieren: Lyrik mit Fotos („Gespräche mit dem Tod“, Erzählung mit Gemälde („Ich heiße“). Bei „Alles nur ein Spiel“ haben die beiden gleich ein komplettes Universum mit eigener Sprache und eigenen Regeln entworfen, das natürlich Fantasy ist, ohne aber in den üblichen eskapistischen Kitsch zu fallen. Das Projekt steht noch am Anfang, der erste Text ist schon mal sehr vielversprechend.

Wolfgang Herrndorf – Tschick: Toller Jugendroman mit klarer Sprache, eigenem Sound und einer guten Geschichte.

SACHBÜCHER:

Misha Glenny – König der Favelas: Kenntnisreiche, gut recherchierte Reportage über eine Favela in Rio und ihren langjährigen Drogenboss Nem. Das Buch bietet einen guten Einblick in die brasilianische Gesellschaft. Glenny hat dafür ein knappes Jahr selbst in der Favela gelebt und ist den Protagonisten sehr nahe gekommen. Fast etwas zu nahe, fällt doch das Porträt Nems ziemlich wohlwollend aus.

Wolfram Lüders – Wer den Wind sät: Das Buch bietet keine wirklich neuen Erkenntnisse, aber einen guten Überblick über all die Sauereien und Dummheiten der Außenpolitik des Westens im Nahen Osten, beginnend mit dem Sturz Mossadeghs im Jahr 1953. Die harsche Israel-Kritik des Autors teile ich nicht, ansonsten ist der Blick recht realistisch.

Christoph Kucklich – Die granulare Gesellschaft: Mit der die Digitalisierung verschwindet allmählich das Verbindende, das Gesellschaften im Kern ausmacht. Die Menschen vereinzeln und werden zugleich sichtbarer, ansprechbarer, identifizierbarer für Politik und Wirtschaft, wodurch die Ungleichheit radikal zunimmt. So zumindest die These von Kucklichs nüchtern geschriebener Zeitdiagnose, die ich weitestgehend für korrekt halte.

Albrecht von Lucke – Die Schwarze Republik: Blätter-Herausgeber Lucke analysiert das Scheitern der politischen Linken in Deutschland. Sein (wenig überraschendes) Rezept: Die SPD sollte wieder gesellschaftskritisch links werden und Rot-Rot-Grün regieren. Im Moment wohl eher Wunschdenken.

Stefan Schulz – Redaktionsschluss: Schulz, früher mal Mitarbeiter der FAZ, diagnostiziert das Ende der Zeitung, sieht die Schuld dafür einzig und alleine bei den Journalisten, geizt aber mit praktischen Vorschlägen, wie es besser zu machen wäre, arbeitet gerade übrigens an einem Zeitungsprojekt und hat mich nur teilweise überzeugt.

Roger Willemsen – Das hohe Haus: Kluges Buch eines sehr guten Beobachters, der ein Jahr lang jede Sitzung des Bundestages besuchte und dessen Stimme nun leider fehlt.

Ilija Trojanow – Meine Olympiade: Der Schriftsteller absolviert im Selbstversuch alle olympischen Einzeldisziplinen. Liest sich interessanter als es klingt, denn Trojanow entdeckt dabei die unter Leistungsdruck und Rekordsucht verborgene Poesie des Sports.

Claude Levi-Strauss – Mythos und Bedeutung: Die fünf Radiovorträge bieten eine gute Einführung in das Denken des Strukturalisten.

Patrick Kingsley – Die neue Odyssee: Für diese Reportage über die jüngste Flüchtlingskrise hat der Migrations-Korrespondent des Guardian 17 Länder auf drei Kontinenten besucht. Er führt dabei eindrucksvoll vor Augen, dass die Menschen nicht zu stoppen sind.

Harald Welzer – Die smarte Diktatur: Während Kucklich sachlich über die Folgen der digitalen Revolution schreibt, argumentiert Welzer polemisch. Wie schon in „Selbst denken“ greift er dabei gerne auf das Mittel der Publikumsbeschimpfung zurück. Die Digitalisierung führt zur freiwilligen Selbstentmündigung und bedroht damit die Grundlagen unserer liberalen Demokratie, so die Kernthese des Soziologen. Nach der Lektüre möchte man am liebsten sein Smartphone aus dem Fenster schmeißen

Cigdem Akyol – Erdogan: Gute, differenzierte Biografie, die noch vor dem Putschversuch erschien, allerdings etwas darunter leidet, dass Akyol nicht mit Erdogan, seiner Familie und seinem Umfeld reden konnte. Die Journalistin sieht in dem türkischen Präsidenten weniger einen Islamisten als einen Machtpolitiker, der aus dem Bauch heraus handelt und dessen Agenda schlicht "Recep Tayyip Erdogan" heißt.

Till Reiners – Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen: Linker Nachwuchskabarettist begibt sich auf die Spuren von AfD, Pegida & Co, um zu verstehen, woher all die Furcht und der Hass kommen. Hätte ich wohl nie gelesen, wäre Reiners nicht Kommilitone von mir gewesen. War dann positiv überrascht, dass er diese Einstellungen ernsthaft verstehen wollte, seine eigenen Unzulänglichkeiten offen gelegt und als studierter Politikwissenschaftler sein Handwerk nicht verlernt hat.

Armin Riller / Heike Holdingshauen – Wir konsumieren uns zu Tode: Es handelt sich um eine Binse, dass unser jetziges Konsum- und Wirtschaftsverhalten nicht nachhaltig ist. In diesem Buch erklären ein Professor für Ressourcenmanagement und eine taz-Redakteurin auf sachlich-informative Weise, warum wir unseren Lebensstil verdammt noch mal ändern sollten.

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