Mittwoch, 4. Oktober 2017

Hiobs Botschaft

"Aber warum dieses Schicksal ihnen und immer wieder ihnen allein? Was war der Grund, was der Sinn, was das Ziel dieser sinnlosen Verfolgung? Man trieb sie aus den Ländern und gab ihnen kein Land. Man sagte: lebt nicht mit uns, aber man sagte ihnen nicht, wo sie leben sollten. Man gab ihnen Schuld und verweigerte ihnen jedes Mittel, sie zu sühnen. Und so starrten sie sich an auf der Flucht mit brennenden Augen - warum ich? Warum du? Warum ich mit dir, den ich nicht kenne, dessen Sprache ich nicht verstehe, dessen Denkweise ich nicht fasse, mit dem nichts mich verbindet? Warum wir alle? Und keiner wußte Antwort. Selbst Freud, das klarste Ingenium dieser Zeit, mit dem ich oft in jenen Tagen sprach, wußte keinen Weg, keinen Sinn in diesem Widersinn.

Aber vielleicht ist es gerade des Judentums letzter Sinn, durch diese rätselhaft überdauernde Existenz Hiobs ewige Frage an Gott immer wieder zu wieder zu wiederholen, damit sie nicht völlig vergessen wird auf Erden."

Stefan Zweig in: Die Welt von Gestern (1944) über den Exodus der Juden Europas aus ihren Heimatländern Ende der 1930er Jahre.

Sonntag, 1. Oktober 2017

Im ideologischen Zeitalter

Mit der Revolution im Jahre 1917 begann in Russland eine historische Entwicklung, die das gesamte 20. Jahrhundert prägen sollte. Die Spaltung der Welt in Ost und West nahm ihren Anfang. Bei einem Vortrag an der Schorndorfer VHS warf der Historiker Dr. Hartmut Jericke  einen kritischen Blick auf dieses epochale Ereignis, seine Hintergründe und Folgen.

Wer die verstehen wolle, müsse aber zuerst auf jenes Jahrhundert schauen, das Jericke als das „optimistischste, fortschrittlichste und friedlichste“ der modernen, europäischen Geschichte bezeichnet. Das 19. Jahrhundert, nach dem Wiener Kongress 1815 durch ein gesundes Mächtegleichgewicht geprägt, brachte aber nicht nur mit der industriellen Revolution einen „unglaublichen Entwicklungsschub“ für die Menschheit. Es war auch jenes Jahrzehnt, in dem die traditionelle Ständegesellschaft überworfen wurde, der Kapitalismus als Wirtschaftssystem aufblühte und mit ihm das Proletariat und seine Ausbeutung entstand.

Niemand habe die Verhältnisse im Frühkapitalismus dann so deutlich beschrieben wie Karl Marx. Klarsichtig habe der Ökonom das Wirtschaftssystem analytisch kritisiert und damit indirekt viel zur Verbesserung der sozialen Verwerfungen beigetragen, findet Jericke: „Wir haben Marx einiges zu verdanken.“ Zumindest dem Ökonom. Bei seinen philosophischen Betrachtungen „irrte Marx aber gewaltig“. Seine Utopie von der klassenlosen Gesellschaft hält der konservative Historiker durch die Geschichte der Sowjetunion für widerlegt.

Bauern statt Proletarier – wie Lenin den Marxismus neu interpretierte

Doch wieso war es überhaupt das Zarenreich, in dem die Ideen des Trierer Ökonomen als Erstes umgesetzt wurden? Denn was Marx als Subjekt der Revolution bezeichnete, machte im zaristischen Russland gerade mal drei Prozent der Bevölkerung aus. Über 90 Prozent der Russen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bauern. Formal freie Bauern zwar, die aber de facto immer noch in feudalen Abhängigkeitsstrukturen lebten.

So war es im Februar 1917 auch zunächst eine bürgerliche Revolution, die das Zarenreich hinwegfegte. Doch die Revolutionäre wollten keinen Frieden und Lenin erkannte die geschichtliche Chance. Er sah die Wut der Bauern und beschloss, diese in Russland zum Subjekt der Revolution zu machen. Lenin versprach ihnen Freiheit und eine eigene Scholle für den Fall, dass sie den Kommunisten folgten. Was sie dann bei der Oktoberrevolution schließlich auch taten.

Doch Lenins Versprechen gegenüber den Bauern blieb letztlich unerfüllt. Er dekretierte zwar die Verteilung von Grund und Boden an sie. Doch der Traum von der eigenen Scholle wurde für sie nur kurz wahr. Im Gegenteil: Unter seinem Nachfolger Stalin wurden sie schließlich zwangskollektiviert und als Kulaken massenhaft verfolgt. Die Opferzahlen gehen in die Millionen.

Und dennoch war mit der Russischen Revolution jener folgenreiche Gedanke in der Welt, dass ein besseres Leben im Hier und Jetzt - und zwar überall - machbar sei. Dies schürte im Westen die Angst vor einer Weltrevolution. Die Arbeiterklasse spaltete sich, auch in Deutschland, wo seit Dezember 1918 eine Kommunistische Partei neben der SPD den Alleinvertretungsanspruch für die Arbeiterklasse beanspruchte.

Es begann das Zeitalter der Ideologien und damit auch der Aufstieg des Faschismus in Europa, der sich das Feindbild Kommunismus zunutze machte.

„Nach 1918 war die liberale bürgerliche Gesellschaft am Ende“, sagt Jericke. Eine misslungene Friedensordnung, die Russland und Deutschland nicht einband, sondern isolierte, tat ihr Übriges dazu.

Und während Stalin den Agrarstaat Sowjetunion mit aller Gewalt industrialisierte, übernahmen in immer mehr europäischen Ländern Faschisten die Macht, bis 1939 kaum ein Land mehr liberal regiert wurde.

Die Tragödie gipfelte im „Großen Vaterländischen Krieg“, wie der Zweite Weltkrieg in Russland genannt wird. Kaum ein Land hatte mehr Opfer zu beklagen, doch die Sowjetunion gewann den Krieg und besiegte damit den Faschismus. „Die Entscheidung über die Ideologie von Karl Marx blieb aus.“ Nun begann der Kalte Krieg, das Wettrüsten der Großmächte, mithin jene Spaltung der Welt, die sie zeitweise an den Rand des Atomkriegs trieb.

Ohne Russland kein Frieden: Eine wichtige geschichtliche Lektion

Bekanntermaßen verlor die Sowjetunion diesen Wettstreit, ging 1991 sang- und klanglos unter – und mit ihr auch die Attraktivität des Marxismus.

Was bleibt, ist folgende Erkenntnis: „Wer glaubt, dass man die Russen außen vor lassen kann, der irrt.“ Eine Friedensordnung in Europa könne es deshalb nur mit Russland geben.

Das ideologische Zeitalter, es ist noch nicht an sein Ende gekommen.

(Dieser Artikel erschien bereits in den Schorndorfer Nachrichten.)