Montag, 17. Dezember 2007

Das Klima wird rauer




Wilhelm Heitmeyer, einer der renommiertesten Pädagogen der Republik erforscht seit geraumer Zeit die „deutschen Zustände“ und veröffentlicht unter gleichem Namen empirische Studien über die Einstellungen und Lebensweisen der Menschen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen. In den letzten Tagen ist der sechste Band seiner Forschungen erschienen – und wie immer sind die Ergebnisse alles andere als erfreulich. Das Klima in der Republik wird zunehmend rauer.

Sicher, Berlin ist nicht Rio de Janeiro und Deutschland noch lange nicht Brasilien – im Guten wie im Schlechten, aber alle empirischen Studien kommen zum gleichen Ergebnis: die Schere der sozialen Ungleichheit öffnet sich mehr und mehr, und die gesellschaftliche Spaltung ist nur noch schwer aufzuhalten. Nicht, dass Deutschland – allen Unkenrufen à la Schelsky zum trotz – je eine sehr egalitäre Gesellschaft gewesen wäre, spätestens die vielen Analysen zu den verschiedenen PISA-Studien dürften den Klassencharakter der Republik eindrucksvoll unter Beweis gestellt haben. Aber spätestens seit der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Regierung und den konsensuell von allen Parteien (außer der LINKEN) beschlossenen Reformen der Agenda 2010 verschärfen sich die Gegensätze.

Sie alleine darauf zurückzuführen wäre sicher verkürzt, in vielerlei Hinsicht haben sie existierende soziale Ungleichheitsverhältnisse erst in ihrer Dramatik offenbart, de facto aber die Lage vieler Menschen am sozialen Rand verschlechtert. Viele kritische Faktoren (die sicher einer näheren wissenschaftlichen Analyse bedürfen) treffen vor allem (aber längst nicht nur) in den migrantisch geprägten Großstadtmilieus zusammen.

Dass sich jugendlichen Gewaltdelikte im Laufe der letzten zehn Jahre beinahe verdoppelt haben, kann deshalb kaum überraschen, ist jedoch angesichts der Abnahme der Gewaltverbrechen wie der Kriminalität insgesamt durchaus bemerkenswert. Nicht nur in Großstädten verbindet sich eine ungute Mischung aus einem sozial höchst ungerechten Bildungssystem, sozialer Deprivation, schlechten Familienverhältnissen, Perspektivlosigkeit und einem eklatanten Mangel an guten Vorbildern zu einem explosivem Gemisch, das zu einer Zunahme brutaler roher Gewalttätigkeit (auf dem Boden Liegende immer noch mit Schlägen traktieren) führt.

Einfache Gegenmittel sind schnell bei der Hand, aber weder eine Verschärfung des Jugendstrafrechts, noch aus gleicher Feder stammende Initiativen zu mehr moralischer Erziehung schlagen greift wirklich an der Wurzel des Problems an. Unkenrufe dieser Art sind stets dann zu beobachten, wenn der ethische Konsens einer Gesellschaft längst verloren gegangen ist – in der Postmoderne ein grundlegendes, doch durchaus lösbares Problem.

Denn die nötigen Diskussionen werden längst geführt, liegen z.T. schon weit zurück, doch an der konsequenten Umsetzung bzw. der ernsthaften Beachtung bereits geführter Diskurse hapert es – die Wiederkehr des immer gleichen eben…

Sonntag, 16. Dezember 2007

Demokratie durch Intervention?


Demokratisierungsprozesse sind komplex, langwierig und nur erfolgreich, wenn sie aus einer Gesellschaft heraus geschehen und nicht von außen mittels Zwang erfolgen. Sie sind komplex, da sie einer Diskussionskultur bedürfen, die verschiedene Ansichten (vorausgesetzt sie sind durch die Verfassung des jeweiligen Staates gedeckt) als prinzipiell gleichwertig akzeptiert. Dass dies selbst in gefestigten Demokratien problematisch sein kann, zeigen nicht zuletzt die hitzigen Diskussionen um die Ausübung der Religionsfreiheit europäischer Muslime in eigenen repräsentativen Gotteshäusern. Eine Demokratie ohne Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Bewegungsfreiheit ist ein Widerspruch in sich. Zur Gewährleistung dieser Rechte allerdings bedarf es (gerade in homogenen Gesellschaften) eines gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der abweichende Meinungen akzeptiert. Dass dieser Prozess langwierig ist, liegt an den offensichtlichen Nachteilen der Demokratie: langwierige Diskussionen und Entscheidungs- findungsprozesse verhindern bisweilen notwendige Reformprozesse und lassen in Krisensituationen ein autoritäres Herrschaftssystem als effizienter erscheinen. Und letztlich bedarf es einer Einbettung der Demokratie in die nationale, regionale und kulturelle Tradition der jeweiligen Gesellschaften. Eine von außen aufoktroyierte Herrschaftsform wird zumeist als fremd empfunden und erlangt weit weniger Akzeptanz (eine durch Krieg herbeigeführte verringert dabei die Wahrscheinlichkeit) als eine gewachsene, mit den spezifischen politisch-gesellschaftlichen Bedingungen zusammenhängende.

Marquis de Sades Fazit auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution: „Wenn ihr in eurem Inneren unüberwindlich und eurer wohlgeordneten Zustände und guten Gesetze wegen Vorbild aller Völker seid, werdet ihr alle Staaten der Welt dazu zwingen, euch nachzuahmen, und ein jeder wird es sich zur Ehre rechnen, mit euch verbündet zu sein; aber wenn ihr des eitlen Ruhmes wegen, eure Grundsätze in die Ferne zu tragen, die Sorge um eure eigene Glückseligkeit aufgebt, dann wird der bloß schlummernde Despotismus wiedererstehen, innere Zwistigkeiten werden euch zerrütten, eure Finanzen und Soldaten werden erschöpft sein, und all dies, um schließlich wieder die Ketten eurer Tyrannen zu küssen, die euch während eurer Abwesenheit unterjochten; alles, was ihr begehrt, könnt ihr erreichen, ohne eure Häuser zu verlassen; mögen sich dann die anderen (…) ein Beispiel nehmen und ebenso frei und einträchtig und glücklich sein wie wir, die wir ihnen durch unser mustergültiges, eines republikanischen Staates würdiges Verhalten die Bahnen hierfür vorschreiben.“

Freitag, 14. Dezember 2007

Mertesdorf


Seit nunmehr fast drei Monaten wohne ich in Mertesdorf. In einem SWR-Beitrag wird dieser (wahrscheinlich älteste deutsche) Weinort gewürdigt, in dem u.a. auch mein Vermieter vom alteingesessenen Weingut Grünhaus, Herr Schubert, zu Wort kommt...

Mein Ruin


Mein Ruin

Mein Ruin das ist zunächst
Etwas das gewachsen ist
Wie eine Welle die mich trägt
Und mich dann unter sich begräbt
Mein Ruin ist was mich zieht
Wiederholung als Prinzip
Ein Zusammenbruch
Ein Fall
Ein Versuch
Ein Donnerhall
Mein Ruin ist Heiligtum
Diebstahl und Erinnerung
Geboren aus Unsicherheit
Freude und Zerbrechlichkeit
Mein Ruin ist Unverstand
Kein Märtyrer
Kein Komödiant
Nur aus Kälte und Distanz
Verleih ich mir den Lorbeerkranz
Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin nicht einer von euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich zerstäubt
Mein Ruin das ist mein Ziel
Die Lieblingsrolle die ich spiel
Mein Ruin ist mein Triumph
Empfindlichkeit und Unvernunft
Eine Befreiung
Eine Pracht
Sanfter als die tiefste Nacht
Die ab jetzt für immer bleibt
Und ihre eigenen Lieder schreibt
Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin nur einer von euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich betäubt
Mein Ruin ist weiterhin
Eine Arbeit ohne Sinn
Etwas das man nie bereut
Eine Abgeschiedenheit
Mein Ruin ist nur verbal
Feigheit vor dem Feind
Der Qual
Der Trauer und der tiefen Not
Mein größtes Glück
Ein tiefes Rot
Mein Ruin ist mein Bereich
Denn ich bin einer unter euch
Mein Ruin ist was mir bleibt
Wenn alles andere sich zerstäubt
Mein Ruin das ist zunächst
Etwas das gewachsen ist
Wie eine Welle die mich trägt
Und mich dann unter sich begräbt

(Tocotronic, 2007)

Samstag, 8. Dezember 2007

Das Mindeste


Nicht nur von Liberalen wird der Mindestlohn nur allzu gerne als populistisch und kontraproduktiv, da Arbeitsplätze vernichtend angesehen. Und siehe da: kaum vereinbart die Regierung einen Post-Mindestlohn, erklärt eine der Öffentlichkeit bisher kaum bekannte Konkurrenzfirma namens PIN massiven Stellenabbau. Die wirtschaftsliberale Logik scheint sich also zu bewahrheiten. Doch bei näherer Betrachtung ergibt sich ein etwas anderes Bild.

Zu allererst zeigt dieser Fall nämlich eines: Mindestlöhne können Dumping-Geschäftsmodelle verhindern. Um nichts anderes handelt es sich nämlich bei der PIN-Group, hinter der mit einem Aktienanteil von 71,6% niemand geringeres als die berüchtigte Axel Springer AG steckt. Um mit der Deutschen Post AG in Konkurrenz treten zu können, wurden dort bisher die Löhne so weit nach unten gedrückt, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil der Mitarbeiter auf eine Aufstockung des Einkommens durch den Staat angewiesen war – das Kombilohnmodell von Frau Merkel quasi in Reinform.
 
Des weiteren beträgt der Durchschnittslohn der Postzusteller bei der Deutschen Post AG sage und schreibe 16 €. Mit einem Mindestlohn von 9,80 € kann sie mehr als gut leben, aber nicht nur das: sie hat sogar Potenzial für zusätzliche Mitarbeiter und deshalb unlängst angekündigt, von PIN entlassene Mitarbeiter zu „vernünftigen Löhnen“ einzustellen. Die pauschale Behauptung, Mindestlöhne würden automatisch Arbeitsplätze vernichten, lässt sich zumindest hier nicht aufrechterhalten.

Was sich an diesem Beispiel aufzeigen lässt: nicht die Forderung nach einem Mindestlohn, die polemische Kritik an ihm ist verkürzt. Der Postmarkt mag sicherlich ein spezieller Fall sein, aber die Ausbreitung des Beschäftigungsmodells Dumpinglohn + ALG II-Aufstockung bzw. Zweit- oder Drittjob, und damit die Entstehung sog. „working poor“ ist in vollem Gange. Wer sich also gegen einen Mindestlohn ausspricht sollte gleichzeitig auch die sozialen Folgen einer solchen Polarisierung von Arbeitsmarkt und Gesellschaft offen benennen und nicht von sozialer Marktwirtschaft reden, wo doch letztlich nur Marktliberalismus gemeint ist.
 
Deutschland zählt zu den wenigen Industrieländern, die noch keinen Mindestlohn eingeführt haben – selbst die durch den Thatcherismus von jeglichem Staatsinterventionismus entwöhnten, staatlichen Eingriffen von jeher skeptisch gegenüberstehenden Briten haben ihn seit 1999. Und mit umgerechnet 7,96 € liegt er momentan sogar über den von SPD und Gewerkschaften geforderten (und von Wirtschaftsverbänden, CDU und FDP als fatal bezeichneten) 7,50 €. Ein einfacher Blick auf die Wirtschaftsdaten des Landes offenbart: die Einführung des Mindestlohnes zeitigte keine signifikanten Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau, stattdessen erhöhte sich nicht nur das reale wie relative Lohnniveau, nein, es verringerte sich zudem die Lohndifferenz zwischen Männern und Frauen.

Auch der Vergleich mit anderen Mindestlohn-Ländern zeigt: aus der Einführung eines Mindestlohnes folgt zunächst – außer einer Verbesserung der Lebenslagen von im Niedriglohnsektor Beschäftigten – recht wenig. Die ständig wiederholte Litanei von damit automatisch verknüpften Arbeitsplatzverlusten in gigantischem Ausmaße, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als reine marktliberale Ideologie. Entscheidend sind letztlich die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen, und unter liberalen Regimen gewinnen dabei stets nur zwei: die Ungleichheit und die ohnehin Privilegierten…

Dienstag, 4. Dezember 2007

Don't eat the yellow snow



Frank Zappa mit einem seiner vielen Klassiker aus dem Jahre 1974 - animiert für das 21. Jahrhundert. Spricht für sich selbst...

Montag, 3. Dezember 2007

Die neuen Nazis

Dass die NPD nun schon ein gutes Jahr im Schweriner Landtag sitzt, war dem NDR eine durchaus umstrittene Doku wert. "Die neuen Nazis" rief, vor etwa einem Monat erstmals ausgestrahlt, nicht zuletzt deshalb Kritik hervor, weil (so war es vor allem aus den Mündern der einschlägigen Politiker zu vernehmen) der Film zu undistanziert gewesen und Udo Pastörs, das wohl größte Polittalent der Rechtsextremen, zu gut dabei weggekommen sei. Nun ist es ja durchaus eine umstrittene Frage, wie ein Dokumentarfilmer die von ihm porträtierten Gegebenheiten darstellen soll:
Sollte eine Dokumentation einen möglichst unverstellten Blick auf die Realität haben, diese kritisch reflektieren oder einseitig Position beziehen? Unabhängig vom jeweiligen Thema, das sicher einen Einfluss auf die Art und Weise der Berichterstattung hat – und das aus gutem Grunde – ist doch gerade bei gesellschaftlich heiklen Themen (und um ein solches handelt es sich nun einmal bei dem Phänomen des parlamentarischen Rechtsextremismus) Vorsicht angebracht. Allerdings: wer davon ausgeht, dass ein durchaus kritischer, aber vorrangig dokumentarischer Bericht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen von den Bürgern nicht selbst kritisch reflektiert werden kann, der hat wahrlich das nötige Vertrauen in die Demokratie verloren. Und da liegt doch letztlich auch das entscheidende Problem: einer Demokratie, die sich vor der offenen, argumentativen Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Rändern scheut, droht irgendwann auch der Verlust der viel beschworenen Mitte.

Dass es sich bei Pastörs um einen durchaus bürgernahen und rhetorisch begabten Politiker handelt macht die Sache sicher nicht leichter, gerade in jenem Bundesland, das wohl am wenigsten von der Wiedervereinigung profitiert und am meisten unter Abwanderung zu leiden hat. Die Augen vor der Realität zu verschließen – und der parlamentarische Rechtsextremismus ist das nun mal leider – wäre aber fatal. Deshalb sind möglichst unverstellte Dokumentationen kompetenter Journalisten unabdingbar. In den letzten Jahren (nicht zuletzt verursacht durch die unsäglichen Filme eines gewissen Herrn Moore) ist jedoch eine deutliche Tendenz zur Verflachung und Verkürzung zu beobachten, eine Verschiebung von der Reflexion zur Unterhaltung, die nicht nur politische Dokumentationen betrifft, aber bei ihnen besonders negativ zu tragen kommt. „Die neuen Nazis“ hebt sich davon wohltuend ab (und wird entgegen anders lautender Kritik letztlich doch deutlich). Doch seht selbst: Die neuen Nazis – ein Film von Anke Hahns und Felix Pankow

Freitag, 30. November 2007

Bunny



Bunny war 1998 einer der ersten Animationsfilme - und setzte damit Standards. Der nur siebenminütige Film gewann über 25 internationale Preise, darunter gar einen Oscar. Er handelt von Liebe und Tod, aber auch von Wiedervereinigung und einem möglichen Leben nach dem Tod. Die Musik stammt von Tom Waits, Regie und Drehbuch von Chris Wedge. Viel Spaß damit!

Welk



Ein heller, warmer Sonnenstrahl,
ein klares, kleines Licht,
doch meine Welt ist grau und fahl,
und faltig mein Gesicht.

Ich schau ins Grün, seh all das Leben,
auch wenn es sichtbar bald verwelkt
von seiner Kraft kann es nichts geben,
bevor es in sich selbst zerfällt,

seh beständig nur das Dunkle,
weil dunkel es auch ist in mir,
dass mein Auge wieder funkle,
wünsche ich mir im Jetzt und Hier.

Lang ist es her, dass Sterne strahlten
über meinem Haupt so klar,
die Tage waren gleich gemalten,
alle Nächte frei und wahr.

Heute gleichen sie grauen Ratten,
die Tage halt ich kaum noch aus,
denk an den Glanz, den sie einst hatten,
geh selten in die Welt hinaus.

Sie ist mir fremd, ein dunkles Grau,
beweg mich in ihr ungelenk,
verschanz mich stets in meinem Bau,
was immer ich auch mach und denk:

noch selten komm ich da heraus,
aus den Zweifeln und den Ängsten –
wär ich nur keine graue Maus
könnte ich noch selbst den längsten

Weg alleine und erfolgreich gehn,
niemand hielt mich dann noch auf,
die Welt im Innersten auch verstehn
dann bei meinem Lebens-Lauf.

Noch strauchle ich, bin viel zu träge,
noch steigt kein Fünkchen Hoffnung auf,
noch seh ich nichts, und doch erwäge
bald ich schon einen neuen Lauf.

Dinge, die ich vor mir seh,
Wege, die zu gehen sind,
die ich dann alsbald versteh
kommen schließlich nicht geschwind.

Das Leben, es braucht seine Zeit,
neue Wege zu entfalten,
ich hoffe ich bin dann bereit,
mein Leben auch zu erhalten.

Bis dahin bleibt vieles grau,
das muss ich leider akzeptieren,
und ein neues, tiefes Blau
auch weiterhin nur fantasieren.

(Herbst 2007)

Samstag, 24. November 2007

Jenseits gängiger Klischees


Mein erstes richtiges Konzert seit einem halben Jahr - früher ein undenkbarer Zustand, bei den gegenwärtigen Preisen und angesichts meines bisherigen, nicht gerade konzertfreundlichen Wohnortes leider Realität. Aber nicht nur deshalb ist meine Vorfreude auf den Abend enorm, schließlich haben sich mit Boban und Marco Markovic zwei der besten Balkantrompeter angekündigt. So war ich auch zunächst etwas irritiert, in der Trierer Tufa einen bestuhlten Saal vorzufinden, der immerhin noch ein paar Meter vor der Bühne Platz für etwaige Tanzfreudige ließ.

Als schließlich zwölf unscheinbare Herren (neun Bläser, drei Schlagzeuger) die Bühne betreten und mit einem extrem langsamen, melancholischen Stück beginnen, bleibt das gut durchmischte Publikum auch zunächst recht ruhig. Zunächst ist nur der Applaus stürmisch, was sich erst ändern sollte, als die Musiker nach und nach das Tempo anziehen.

Dass die Deutschen nicht zu den begabtesten Tänzern zu zählen sind, ist sicher kein Geheimnis, wurde uns (und den sichtlich amüsierten Roma) aber wieder einmal exemplarisch an den ersten wagemutigen Tänzern vorgeführt. Fehlendes Rhythmusgefühl gepaart mit einer Prise Bewegungslegasthenie – die Band scheint es nur zu noch vertrackteren Rhythmen und –wechseln animiert zu haben…

Denn Boban und sein Sohn Marco Markovic sind zwei der begnadetsten Trompeter nicht nur des Balkans. Sie sind die zwei besten Trompeter, die ich je live erleben durfte. Zusammen mit den anderen sieben Bläsern fabrizieren sie eine Blasmusik, wie man sie sich angesichts der hiesigen verschnarchten Blaskapellen nur schwer vorstellen kann. Die dabei entstehende Lärmkulisse wirkt durchaus wild, entgeht dabei aber geschickt den gängigen Balkan-Klischees. Am besten sind sie dabei immer dann, wenn Boban Markovic mal nicht singt (was durchaus auch seinen Reiz hat) und beide sich einen Wettstreit an den Trompeten liefern.

Und da die Herren aus Vladicin Han, dem serbischen Zentrum des Gypsy Brass, das traditionelle Repertoire mit Elementen aus Jazz, lateinamerikanischer Musik und etwas Pop anreicherten, verharren sie auch nicht in reiner Folklore – ihre Musik wird dadurch universell (womit sich auch die unheimliche momentane Beliebtheit dieser Musik erklären könnte). Das merkt in der Tufa irgendwann auch der letzte – und so fordert das nach anderthalb Stunden und einer stetig schneller und lauter gewordenen Musik heftig in Wallung geratene Publikum auch lautstark nach Zugaben.

Einige Zugaben für den interessierten Leser: Über Guča, seit 1961 Ort des wohl wichtigsten und größten Musikfestivals auf dem Balkan, gibt es sowohl einen gleichnamigen Kinofilm, in dem Marco Markovic eine Hauptrolle als einer von zwei um die "Goldene Trompete konkurrierenden Trompetern spielt, sowie eine gleichnamige Doku, die das „serbische Woodstock“ mit seinen bis zu 300.000 Zuschauern unter die Lupe nimmt. Gute Videos von Boban Markovic selbst habe ich leider keine gefunden, nur den schon recht bekannten Bukovina Dub, in dem Shantel ein Stück von Markovic etwas überarbeitet (und vereinfacht) hat...

Sonntag, 28. Oktober 2007

SPD - wohin?

Der in den letzten Wochen ungewohnt deutlich und öffentlich ausgetragene Richtungsstreit in der SPD thematisierte das vielleicht wichtigste und gleichsam umstrittenste Reformpaket in der wiedervereinigten Bundesrepublik, und täuscht doch über das größte Problem der ältesten deutschen Partei hinweg: ihre weitgehende Profillosigkeit.
 
Zwischen einer links überholenden CDU und einer, alte sozialdemokratische Positionen besetzenden Linkspartei ist der Platz dünn geworden für die alte Tante SPD. Keine Partei leidet wohl momentan unter einer schlechteren öffentlichen Wahrnehmung, keine leidet so sehr unter der Parteiverdrossenheit auch und gerade der jüngeren Deutschen und keine weiß wohl momentan schlechter, wo sie sich nun eigentlich selbst verorten soll. Wer oder was ist die SPD nach Schröder?

Die Identitätsfrage stellt sich jedoch nicht erst seit dem recht unsouveränen Abgang des einstigen Basta-Kanzlers. Im Prinzip befindet sich (nicht nur) die deutsche Sozialdemokratie schon seit bald dreißig Jahren in einer veritablen Identitätskrise. Und rückblickend sind ihre Wahlerfolge unter Schröder weniger politischer Attraktivität als Überdruss nach 16 Jahren Kohl (1998) und weltpolitischen wie nationalen Verwerfungen (die Oderflut und der sich anbahnende Irakkrieg anno 2002) zu verdanken.

Die Sozialdemokratie ist dabei nicht zuletzt Opfer ihres eigenen Erfolges: den Errungenschaften der organisierten Arbeiterschaft (deren Heimat von Beginn an bei den Erben Lasalles zu finden war), welche im Laufe des 20. Jahrhunderts das begründeten, was heute bisweilen verächtlich als Wohlfahrtsstaat bezeichnet wird. Dass die Klassenstruktur dieser Gesellschaft sich zudem hin zu einer verstärkt individualisierten Milieustruktur wandelte, so etwas wie Klassenidentität oder –solidarität nur noch in Geschichtsbüchern stattfindet, schlug sich auch in Programmatik und Auftreten der Partei nieder.

Die Linke hat sich deshalb auch schon lange abgewendet von Deutschlands ältester Partei, zu oft hat sie sich gewandelt, zu sehr ist sie in der ominösen Mitte der Gesellschaft angekommen, zu oft hat sie (neben all den Erfolgen) versagt: schon als sie für den 1. Weltkrieg votierte, als sie in der Weimarer Republik die Demokratie nicht stabilisieren konnte, als sie während der ersten Großen Koalition für die Notstandsgesetze votierte, als 1982 der NATO-Doppelbeschluss abgesegnet wurde, als sie 1992 den umstrittenen Asylkompromiss mittrug, als sie Deutschland in den ersten Kriegseinsatz nach dem 2. Weltkrieg (zudem ohne UN-Mandat) führten – die Agenda 2010 nicht zu vergessen… „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“

Was also ist zu erwarten von dieser SPD, die selten weniger attraktiv war als jetzt? Nicht viel, denn neben charismatischem Führungspersonal mangelt es der einstigen Volkspartei vor allem an Ideen. Sicher, Politik in der Postmoderne mag komplexer, weniger eindeutig und glücklicherweise auch weniger ideologisch sein als noch zu Zeiten von Marx und Lasalle. Aber etwas mehr als Mehrwertsteuererhöhung, Rente mit 67, Senkung von Unternehmenssteuern, Kriegseinsätze oder die just abgesegnete Bahnprivatisierung dürfte selbst für eine solch bräsige Vereinigung wie jene in die Jahre gekommene SPD drin sein. Ansonsten dürfte es der Partei bald in der ganzen Republik gehen wie in Sachsen, wo sie unlängst in Umfragen gar von der NPD überholt wurde…

Samstag, 27. Oktober 2007

Dem Abgrund bedrohlich nahe




Nicht, dass man es als Kickers-Fan je leicht gehabt hätte, aber was der gemeine Fan diese Saison durchmachen muss, ist schon als äußerst grenzwertig zu bezeichnen. Denn diese Saison wird über das Schicksal des Vereins bestimmen: ab nächster Saison gibt es eine dritte bundesweite Profiliga, welche die Regionalligen ersetzen wird. Platz 10 ist dabei minimales Saisonziel, ansonsten droht der Abstieg in die Bedeutungslosigkeit, Schulden, gar Insolvenz. Und die glorreichen Zeit der Degerlocher liegen bekanntermaßen schon geraume Zeit zurück, seit nunmehr fünf Jahren spielt der Vizemeister der ewigen 2. Bundesliga in der (finanziell wie spielerisch) wenig attraktiven Regionalliga Süd mit dementsprechend durchwachsenen Leistungen. Schien vor etwa einem Jahr der Aufstieg in die 2. Liga noch greifbar, so spielt sich die Mannschaft seitdem mehr und mehr in die Krise.

Aktueller Tabellenplatz: 10. Allerdings: nach unten ist kaum mehr Luft und der mediokre Tabellenstand entspricht in keinster Weise den katastrophalen Leistungen der Mannschaft, die nur mit viel Glück zu vier Siegen kam und immer noch auf den ersten Heimsieg wartet. Dass sie zudem aus dem WFV-Pokal, den sie in den beiden vorherigen Jahren souverän gewann, schon früh mit einem miserablen 0:3 gegen die Amateurkicker aus Kirchheim ausschied, bildete den vorläufigen Tiefpunkt. Eine ungesunde Trainerdiskussion vergiftet die Stimmung auf der Waldau, auch wenn sich Vereinsführung und Mannschaft unlängst hinter den erfolglosen und unbeliebten Zeidler stellte. Ob das nach diesem Wochenende auch noch der Fall sein wird ist fraglich, da sich die Situation deutlich zuspitzt. Ein wieder einmal unnötig verlorenes Spiel gegen die schwache zweite Mannschaft der 60er (zu dem gerade einmal 40 Fans angereist waren) und laute Rufe der Fans nach einem Trainerwechsel lassen es fraglich erscheinen, dass Zeidler nächste Woche noch Trainer der Degerlocher ist.

Allerdings: die Finanzsituation ist äußerst angespannt, die neue Vereinsführung agiert ungeschickt und Gerüchte um eine mögliche Nichtzulassung zur 3. Liga (die Finanzsituation ist äußerst angespannt, manche sprechen gar von einer drohenden Insolvenz) machen die Runde. Dass zudem die Oberligamannschaft abgeschlagen auf dem letzten Platz steht, wird da fast schon zu einer vernachlässigbaren Fußnote. Es geht um nichts geringeres, als die Zukunft des Vereins!

Samstag, 6. Oktober 2007

Kinder

Olaf Schubert mag sicher etwas gewöhnungsbedürftig sein, für manche gar gänzlich unlustig, ich aber bin von seiner herrlich pseudo-intellektuellen Art, seiner gestelzten Art der Bühnenpräsenz, seinem hässlichen immergleichen Pollunder und der ewig griesgrämigen Mimik inzwischen recht angetan.

was sie dir tun können


was können sie dir tun?
dir die zunge ausreißen.
ein besonderer redner warst du nie.
dir die augen ausstechen.
hast du nicht genug gesehen?
dich deiner mannbarkeit berauben.
viel hast du als mann nicht gegolten.
deine finger abtragen.
du solltest ohnehin nicht in der nase bohren.
dir die füße abhacken.
in deinem alter wird man seßhaft.
dich bis zum irrsinn foltern,
für verrückt wurdest du schon längst gehalten.

(Ernst Jandl)

Freitag, 5. Oktober 2007

High Fidelity Teil 3: Elliott Smith




Teil III meiner nerdigen Audiophilen-Kategorie ist einem meiner liebsten Songwriter gewidmet, der auch schon in der Kategorie “Meister der Melancholie” gewürdigt wurde. In den etwa zehn Jahren seines musikalischen Schaffens als Solokünstler hinterließ er nicht nur sechs reguläre Studioalben (incl. des posthumen „From a basement on the hill“, kurz: FABOTH), sondern auch eine ganze Reihe unveröffentlichter Songs, von denen eine Reihe auf dem kürzlich erschienenen „New Moon“ versammelt sind. Smiths musikalische Entwicklung führte von den ersten beiden sehr reduzierten Akustikalben über die deutlich lauteren und ausgefeilteren mittleren Werke hin zum leicht psychedelischen und am schwersten zugänglichen „From a basement on the hill“. Dabei schuf Elliott (der unter nicht ganz geklärten Umständen vor vier Jahren mehreren Messerstichen erlag – wahrscheinlich war es Selbstmord) eine ganze Reihe von lyrischen wie musikalischen Meisterwerken, deshalb hier der Versuch, eine Rangliste seiner Studioalben zu erstellen:

6. Roman Candle (1994): Das Debütalbum lasst schon vieles erahnen, ist aber insgesamt noch sehr zurückhaltend. Dennoch versprühen die lediglich neun Lieder einen eigenen Charme, der vielen Erstlingswerken innewohnt. Deutlich erkennbar ist dies noch ein Soloalbum des Heatmiser-Sängers, der Songwriter Smith ist noch auf der Suche…

5. Figure Eight (2000): Für viele sein bestes, weil vielleicht am leichtesten zugängliches, für mich ein solides, aber mit wenigen wirklich bewegenden Liedern versehenes Album. Son of Sam, Somebody that I used to know, Everything reminds me of her, I better be quiet now und Can’t make a sound überzeugen, der Rest ist gut, aber eine Spur zu rockig und beinahe Beach-Boys-mäßig insziniert.

4. From a basement on the hill (2004): Das posthum erschienene Werk wirkt nicht nur beim ersten Hören schwierig, etwas unzugänglich und stellenweise zerfahren. Deutlich spürbar ist die Verzweiflung, welche Elliott letztlich in den Selbstmord trieb und den Perfektionisten sein Werk nicht mehr zu Ende führen ließ. FABOTH ist sein pompösestes, komplexestes, am schwersten verdaulichstes Werk, klingt psychedelisch, von einigen Ausnahmen abgesehen laut und gipfelt im programmatischen „A distorted reality is now a necessity to be free“, Elliotts letztem Song.

3. Either/Or (1997): erweitert das Repertoire des vorherigen Werks dezent, bildet den Abschluss der frühen, akustischen Phase, deutet stellenweise schon an, wohin der musikalischen Weg noch führen sollte und beinhaltet das vielleicht beste Lied, das er je auf eine Platte pressen ließ: Angeles.

2. XO (1998): XO ist eine Art Übergangsplatte und vereint den akustischen wie den rockigen Smith und schafft es, beide zu etwas Gesundem, Rundem und sehr Ansprechendem zu formen. Was bei Figure Eight zu sehr ins rockige abdriftet und bei FABOTH völlig im kreativen Chaos endet, fügt sich hier organisch zu einem logischen und schnell erschließbaren Ganzen.

1. Elliott Smith (1995): Klang das Debüt noch unsicher und suchend, so wirkt sein Zweitlingswerk leicht, souverän und schlüssig. Vom ersten bis zum letzten Lied ist hier alles vorhanden, was eine gute, melancholische Akustikplatte benötigt. Die ruhige Atmosphäre und die eindringlichen, melancholischen (oft nur mit einer leisen Gitarre vorgetragenen) Lieder gehören zum Besten, Reduziertesten, was die Songwritergilde an akustischen Alben zu bieten hat und reiht sich locker in eine Reihe ein mit Nick Drakes „Pink Moon“ oder Bob Dylans „The freewheelin“.

Zu guter letzt allerdings noch ein paar Wort zu Relativierung: seine Musik und vor allem seine Texte sind so ergiebig und langlebig, dass solche Ranglisten nie mehr als Momentaufnahmen bleiben werden. Jedes einzelne Werk hat seinen eigenen Reiz und jedes einzelne ist so speziell (Elliott hat sich nie wirklich wiederholt), dass sie immer wieder aufs Neue entdeckt werden können…


P.S. Die dazugehörigen Texte findet der geneigte Hörer auf der Fanseite www.elliottsmith.de

Donnerstag, 4. Oktober 2007

Trierer Platt

Kein Kommentar...

Samstag, 22. September 2007

Islam & Demokratie I


In der Diskussion um Demokratiedefizite in islamischen Ländern ist oftmals die Rede von einer grundlegenden Unvereinbarkeit von Islam und Politik, nicht selten gar von einem kulturellen Kampf der westlichen Zivilisation gegen die orientalisch-muslimische Barbarei (à la Huntington). Ein oberflächlicher Blick auf den islamischen Kulturkreis scheint dieses Vor-Urteil zunächst auch zu bestätigen: kein islamisches Land – vom Sonderfall Türkei und dem äußerst fragilen Indonesien einmal abgesehen – ist demokratisch.

Auf der anderen Seite jedoch sind es nicht zuletzt die westlichen Regierungen, die vermehrt auf Demokratisierung islamischer Länder mittels kriegerischer Mittel setzen. Mit welchen Problemen solche missionarischen Demokraten zu kämpfen haben, zeigen nicht zuletzt die Zustände in Afghanistan und im Irak. Und wiederum sind es in diesen Ländern – wie es scheint – religiös motivierte Kämpfer, die der Etablierung einer Demokratie entgegen treten, auch wenn die Motive und Rechtfertigungen ihres als solchen bezeichneten Befreiungskampfes in der westlichen Welt kaum vernommen und noch weniger verstanden werden. So wird aus mangelndem Wissen Ablehnung – die Vorurteile gegen den Islam, die Muslime (und damit auch gegen die eigenen Mitbürger) verhärten sich: Islam und rechtsstaatliche Demokratie seien nicht vereinbar. Dabei ist fundiertes Wissen über die äußerst heterogene islamische Staatenwelt und deren Gesellschaften selbst in der Wissenschaft schwer zu finden. Stattdessen dominieren Vorurteile, Arroganz und Angst.

Dabei schließe ich mich durchaus selbst in diese Kritik mit ein, doch mein Vor-Urteil ist äußerst ambivalent. Problematisch erscheint mir einerseits die kriegerische Geschichte Mohammeds, der den Islam zu einer weitaus politischeren Religion als etwa das Christentum gemacht hat und den einigenden Glauben als Mittel zur Vereinigung der zerstrittenen arabischen Stämme nutzte und in Folge dessen zu einer Blütezeit islamischer Großreiche führte. Auch sprechen eine Reihe von Suren – vor allem die medinischen, die oft in deutlichem Widerspruch zu den mekkanischen stehen – eine strenge und intolerante Sprache. Doch fehlt dem Islam eine einigende Instanz, bleibt es letztlich jedem selbst überlassen, ihn zu interpretieren. Zudem hält das Hocharabische, in dem die Originaltexte verfasst sind, einige Tücken für Leser wie Übersetzer bereit, da (wie im Hebräischen) die Vokale nicht geschrieben werden. So bleiben viele Stellen selbst im Original in unterschiedlichster Weise interpretierbar. Gleiches gilt für die Scharia, die eine Vielzahl zum Teil widersprüchlicher Traditionen in sich vereint.

Deshalb bin ich jenen gegenüber äußerst misstrauisch, die stets von DEM Islam reden, da es eben nicht eine, sondern viele Spielarten des Glaubens gibt und diese Religion genauso widersprüchlich ist, wie alle anderen Schriftreligionen. Dennoch wäre es an der Zeit, sich näher mit den Grundlagen jenes Glaubens - dem doch immerhin geschätzte 1,4 Milliarden Menschen anhängen - auseinanderzusetzen...

Montag, 17. September 2007

Der ideelle Konsument




Herr Tournier
von Feridun Zaimoglu


Galaxy: Herr Wilfried Tournier. Sie bezeichnen sich als ideellen Konsumenten. In Funk, Film und Fernsehen singen Sie das Loblied auf den Kaufsouverän in der magischern Warenwelt und werden dafür von Vertretern der Kirchen und Gewerkschaften als Ultra-Economy-Monster, Konsumjubelposer oder auch als analrenitenter Ordnungsfuzzi beschimpft. Was heißt überhaupt analrenitent?


Herr Tournier: Laut Duden bedeutet Renitention die Zurückhaltung auszuscheidender Flüssigkeiten. Wenn ich die Polemik richtig verstehe, bin ich in den Augen der Hysteriker, die eine Gegnerschaft zu mir konstruieren wollen, ein Mensch, der keine Toilette aufsucht, wenn ihn der große Stuhlgang plagt. Was sie damit aussagen wollen, ist wahrscheinlich auch ihnen selbst schleierhaft.


G: Ohne Zweifel haben Sie diese Leute auf die Palme gebracht. Haben Sie dafür eine Erklärung?


T: Das ist eine künstliche Aufregung. Nicht mehr und nicht weniger.


G: Anscheinend lassen auch Sie sich davon anstecken. Einen Gewerkschaftsfunktionär als „stinkendes Element“ zu beschimpfen, zeigt auch nicht von ausgesuchter Höflichkeit.


T: Ich bin nicht sehr glücklich über diese meine Entgleisung…


G: Machen wir einen harten Schnitt und kommen auf ihre Thesen und Theorien. Was genau wollen Sie und verkaufen, Herr Tournier?


T: Ich behaupte mit gewissem Recht, dass der Konsum eine Sichtachse in die Wildnis geschlagen hat. Und es ist meine feste Überzeugung, dass dem Konsum, in all seinen Variationen, die optimale Platzausnutzung des Glücksterrains innewohnt.


G: Das haben Sie schön gesagt, wir haben es trotzdem nicht verstanden…


T: Die freie Marktwirtschaft ist die beste aller Welten, und auch die Subversiven, die vor gar nicht so langer Zeit die Systemfrage gestellt hatten, haben sich wie Parasiten im großen Wirtschaftskörper eingenistet. Kritik gilt in unserem Lande als Zeichen der Intelligenz. Deshalb will niemand mit der ganzen Wahrheit herausrücken, die da heißt: In der kapitalistischen Gesellschaft wird jeder glücklich! Der Konsum ist keine kranke Sucht, auch der Kauf von entbehrlichen Luxusgütern gibt uns das bisschen Freude, auf das wir alle ein Anrecht haben. Also weg mit dem schlechten Gewissen!

G: So weit so gut. Sie fordern aber alle Bevölkerungsschichten dazu auf, noch mehr noch schneller zu kaufen. Reicht Ihnen die immense Verschuldung der Haushalte nicht?


T: Es gibt Menschen, die sind derart weltfremd, dass sie sich als Touristen vorkommen, wenn sie kurze Zeit vor die Tür gehen.


G: Wie sollen wir das jetzt bitteschön verstehen?


T: Wir leben in paradiesischen Verhältnissen. Um das feststellen zu können, muss man sich jedoch anbequemen, die eigene Stube zu verlassen.


G: Gut, wir haben also die Wohnung verlassen, haben auch hinter uns abgeschlossen und sind jetzt an der frischen Luft. Was erwartet uns also Ihrer Meinung nach?


T: Was wir sehen, ist der Kalte Krieg der Logos, ist die Logo-Inflation, sind die Logoträger. Die Botschaft lautet: Ich bin markiert und habe einen langen kommerziellen Atem. Meine Markierung gegen die deine. Die Jagd nach der Konsummarke, nach dem Unikat, treibt die Massen an. Was die kommunistische Doktrin unter Zwang versucht, jedoch nicht geschafft hat, ist Wirklichkeit geworden: Mit der Selbstbedienung haben alle Volksmassen das Glück auf Erden gefunden.


G: Es fällt auf, dass Sie in der Tonlage eines religiösen Eiferers reden.


T: Der Konsum macht Nächstenliebe möglich. Er hilft mir, meine hässlichen Mitmenschen, wenn nicht zu lieben, so doch in gewisser Weise zu ertragen. Meine Vitalität nimmt über meine Kauffreude zu.


G: Kaufen macht frei?


T: Eine schönere Korrespondenz wie zwischen dem Kaufgebildeten und dem Produkt kann es nicht geben. Gott nimmt man nicht in einer Einkauftüte mit nach Hause. Das Gespür für das begehrte Objekt ist eine ungleich feinere Geistesausstattung als sie jede Religion ihren Gläubigern zu geben vermochte.


G: Das könnte aber auch als Blasphemie durchgehen!


T: Sie fragen mich danach, ob der Konsum selig macht. Und ich sage: Nieder mit dem Verzichtsdogma! Nieder mit der Konsumaskese! Es lebe die Logo-Inflation! Es lebe…


G: Ist ja gut! Lassen Sie uns doch bitteschön aus dem Nebel der Philosophie heraustreten. Sie haben vorhin den Ausdruck „Kaufgebildeter“ benutzt. Was meinen Sie damit?


T: Die Shopper-Primitiven wissen nicht um die in den Gebrauchsdingen kondensierte Dingseele. Sie sind unendlich dumm und können nur Ware als Ware kaufen. Ein Konsumaristokrat dagegen springt nicht unbedingt auf ein plausibles Preisschild an.


G: Konsum bildet, ich verstehe. Aber was macht Sie, der Sie ja wie wir Normalsterblichen Ihren Einkaufswagen zur Kasse fahren und für dessen Inhalt zahlen müssen, so besonders?


T: Wir sprechen vom Prinzip Konsum, von der Idee darin und dahinter. Im Konsum haben wir zweifelsohne ganz flache Hierarchien, und Kaufhäuser gibt es in allen zivilisierten Ländern. Jeder kann kaufen. Jeder soll kaufen. Ich persönlich bin zutiefst kaufkonservativ. Im Gegensatz zu der Rinderherde der gemeinen Konsumenten gehe ich strikt nach Einkaufszettel vor. Ich kaufe Produkte und Luxuswaren, die zu meinem Glück tatsächlich fehlen. Ich sehne mich nach dem Einzelstück, und kurz bevor ich an meiner Konsummelancholie verzweifle, kaufe ich es. Also bin ich ein Finanzsouverän, ein Ritter der gebremsten Geldverschwendung.


G: Sie schönen und veredeln ihr Biedermeierglück


T: Sie wollen doch wohl nicht der Mangelwirtschaft der DDR das Wort reden, oder?


G: Ich glaube einfach, Sie unterwerfen sich der Totalstimulation der Warenwelt und bezeichnen ihr Elend als Privileg. Das ist so, als wenn Plantagensklaven ein dreifaches Lebewohl auf den Massa skandierten.

T: Sie sind ideologisch verblendet. Ich habe ein klares Credo und es lautet: Ja, ich bin gebrauchswertintendiert! Ja, ich fühle mich wohl dabei! Ja, die Waren sind Inventarstücke meiner Existenz!

G: In einer Anzeige für Möbeldesign ist von so einem „souveränen Sofa“ und einem „vollwertigen Bett“ die Rede. Finden Sie es nicht bedenklich, dass erwachsene Menschen einem Sofa Souveränität und einem Bett Vollwertigkeit andichten?


T: Die Werbung kann auch in Gagapropaganda umschlagen.


G: Schön, dass Sie mir zustimmen. Um in Ihren Worten zu reden: Wieso bitteschön sollten wir Ihnen etwas abkaufen, wenn wir den Verdacht haben, dass Sie uns also mit Gagapropaganda ein nutzloses Produkt andrehen wollen?


T: Sehen Sie, die Art von Kapitalismuskritik, mit der Sie mich und Ihre Leserschaft agitieren, ist auch nichts anderes als Ware. Im emotional gestörten, linken Chaoten von heute erkenne ich meines Geistes zukünftiges Kind. Er wird allen oppositionellen Kräften folgen und sich ebenso dem Kaufhausindividualismus ergeben. Beuys hat den Begriff der sozialen Physik geprägt, ich spreche von der Warenausstellungsfläche Deutschland.


G: Herr Wilfried Tournier, in ihrer schönen neuen Warenwelt scheint es die Armen nicht zu geben.

T: Der Arme ist ein potenzieller Aufsteiger. Seine knappen Ressourcen bremsen ihn noch. Er kann sich trotzdem noch zu einem Besserverdiener hoch entwickeln. Seine Kaufzurückhaltung wird sich dann geben. Ich spreche natürlich nicht von den professionellen Opiumessern, die uns allen auf der Tasche liegen. Dieses Gevölk braucht die harte Medikation.

G: Haben Sie Ambitionen, in die Politik einzusteigen?


T: Nein.


G: Na, Gott sei Dank. Herr Tournier, sie wohnen und leben in Kiel. Kiel gilt zwar als Landeshauptstadt, ist aber meines Wissens als Metropole nicht so recht in Erscheinung getreten. Sind Sie dort als Konsumaristokrat nicht vielleicht doch fehlplatziert?


T: Die Marktdynamik entfaltet sich allerorten, sie erfasst sozusagen alle Standorte. Ihre Frage entbehrt insofern jeglichen Hintersinns, als dass das tropische Konsumklima, wie ich das heiß temperierte Kaufverhalten bezeichne, in jeder noch so kleinen Siedlung vorherrscht. In Kiel wie in Konstanz wird die Marktplatzierung nicht nur des Produkts, sondern auch des Einzelverbrauchers vorgenommen.


G: Wenn man Sie so reden hört, wird man das Gefühl nicht los, dass Sie sich mit einer Litfasssäule verwechseln.


T: Mein Stilmuster gehört mir. Das ist der Effekt.


G: Ich will mich plakatieren, wie ich will, um frei nach einer Margarinewerbung zu sprechen…

T: Der Vergleich hinkt. Ich habe einen freien Willen und ich bin, wie alle Menschen, total komfortfunktional ausgerichtet. Dieser totale Wille setzt sich durch und es liegt einzig und allein an mir, für die für meinen Lebensstil gebräuchlichen Warenmuster aufzukommen. Was für mich als Komfortindividualisten gilt, hat auch seine Gültigkeit bei einem Polit-Rocker, der sich mit seinesgleichen zusammenrottet, um Sachschäden zu verursachen. Man muss ihn mit dem Kostenverursachungsprinzip konfrontieren.

G: Von Konsum zu law and order – ein gewagter Spagat…


T: Ich gehe sogar einen Schritt weiter. Das Sozialsystem wird belastet von den Aussaugern. Wir, ein Volk aus anständigen Steuerzahlern, brauchen für die notorischen Faulenzer in den lower classes Einzelbetreuung und ein individuell zugeschneidertes Aussteigerprogramm.

G: Der Arme als Chaot und Sozialparasit – damit machen Sie sich keine Freunde.

T: Ich bin unbedingt dafür, den Sumpf der sozial nicht tragbaren Elemente trocken zu legen. Früher gab es Kriege, um das Arbeitslosenheer einer alternativen Beschäftigungspolitik zuzuführen. Auch wenn man sich unbeliebt macht, es wird Zeit, über ungewöhnliche Maßnahmen laut nachzudenken.

G: Sie propagieren allen Ernstes den Krieg als Wunderwaffe gegen die Arbeitslosigkeit?

T: Ich mache nur unkonventionelle Vorschläge. Manchmal ist es nicht damit getan, den Paradedegen zu ziehen.

G: Eine allerletzte Frage: Was ist ihre Lieblingsspeise?

T: Polenta auf Tomatenlauch!

Freitag, 14. September 2007

Durch jede Stunde...


Durch jede Stunde,
durch jedes Wort
blutet die Wunde
der Schöpfung fort,

verwandelnd Erde
und tropft den Seim
ans Herz dem Werde
und kehret heim.

Gab allem Flügel,
was Gott erschuf,
den Skythen die Bügel
dem Hunnen den Huf -

nur nicht fragen,
nur nicht verstehn;
den Himmel tragen,
die weitergehn,

nur diese Stunde
ihr Sagenlicht
und dann die Wunde,
mehr gibt es nicht.

Die Äcker bleichen,
der Hirte rief,
das ist das Zeichen:
tränke dich tief,

den Blick in Bläue,
ein Ferngesicht:
das ist die Treue,
mehr gibt es nicht,

Treue den Reichen,
die alles sind,
Treue dem Zeichen,
wie schnell es rinnt,

ein Tausch, ein Reigen,
ein Sagenlicht,
ein Rausch aus Schweigen,
mehr gibt es nicht.

(Gottfried Benn, 1933)

Donnerstag, 13. September 2007

Moderne Nazis im Fokus


Rechtsextremismus ist ein scheinbar dankbares Thema für Dokumentarfilmer: ein paar Glatzköpfe, dumme Sprüche, schrille Musik, ein moralisierender Kommentator und jede Menge Allgemeinplätze bestimmen so auch die meisten Dokus in den Politmagazinen der öffentlich-rechtlichen wie privaten Sender. Dennoch gibt es daneben auch Filmemacher, die sich ernsthaft mit diesem Phänomen befassen und ein realitätsnaheres Bild der Szene zeichnen. Einige exemplarische, gute Dokus (die jedoch letztlich auch nicht ganz den üblichen Klischees entrinnen können) möchte ich an dieser Stelle empfehlen:

Jung, rechts, gewaltbereit ist schon etwas älter (1998) und thematisiert die Methoden der Nachwuchsrekrutierung der zu jenem Zeitpunkt wiederauferstehenden NPD.

…und morgen die ganze Welt (2001) berichtet (wenn auch etwas reißerisch) von den Allmachtsfantasien europäischer Neonazis und ihrem Kampf um die Bewahrung der weißen Rasse. Alle zentralen Köpfe (Straßenkämpfer, Holocaustleugner Parteistrategen, Intellektuelle) kommen dabei zu Wort…

Nebenan der braune Sumpf (2005) ist eine (auch schon etwas ältere, aber nichtsdestotrotz) exzellente, teils sehr erschreckende Doku über die Ruhrpottszene rund um den inzwischen inhaftierten Axel Reitz (nebst seinem obskuren lechts-rinken KDS) und „SS-Siggi“, sowie die modernen Strategien des Nationalen Widerstands und der Autonomen Nationalisten (wie jene im obigen Foto).

Skinhead Attitude (2003) hingegen räumt endlich auf mit dem weit verbreiteten Vorurteil, Skinheads wären Nazis, verschafft einen differenzierten Einblick in die Entwicklung der Kultur von ihren jamaikanischen Wurzeln über das Eindringen Rechtsextremer in die ursprünglich antirassistische Kultur Anfang der 80er Jahre bis hin zur Gegenwart, die von krassen Gegensätzen bestimmt wird.

Zitat im Context

„Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.“ (Joschka Fischer am 7. April 1999)

Joschka Fischer, einst erster grüner Außenminister der Bundesrepublik, äußerte diese Worte wenige Wochen vor dem ersten deutschen Kriegseinsatz seit dem 2. Weltkrieg. Nie zuvor hatte sich ein deutscher Außenminister mit so direktem Bezug auf die Shoa zur außenpolitischen Verantwortung dieser Republik geäußert, ein Erbe wohl auch seiner 68er Sozialisation. Jene zutiefst moralische Begründung der Notwendigkeit einer Intervention blieb allerdings nicht unkritisiert, ließen sich die Worte doch auch missverständlich als Relativierung deutscher Verbrechen (oder zumindest als Instrumentalisierung) auffassen.

Anlass war nicht zuletzt die Entdeckung von 44 Leichen in der Nähe des kleinen Dorfes Racak. Handelte es sich dabei um ein Massaker der serbischen Armee? Bis heute sind die Umstände nicht gänzlich geklärt, in der aufgeheizten Atmosphäre jenes Winters fiel diese Meldung allerdings auf fruchtbaren Boden und bot allen Befürwortern einer Intervention ein weiteres starkes Argument, auch und gerade in der Partei des Außenministers.

Die GRÜNEN, aus den sozialen Bewegungen der 70er Jahre erwachsen, verstanden sich schließlich von Beginn an als radikalpazifistische Partei, als eine Art institutionalisierte Friedensbewegung. Ökologie, Pazifismus und Basisdemokratie waren gerade in den unsteten Anfangstagen der noch sehr heterogenen Anti-Parteien-Partei in den 80er Jahren beständige, unhinterfragte Grundsätze. Und auch als sich Anfang der 90er Jahre die radikale Linke weitestgehend aus der Partei verabschiedete und die Basisdemokratie einer mehr und mehr hierarchisch strukturierten Parteiorganisation wich – Pazifismus und Ökologie blieben stets Konsens.

Welche Wellen die Entscheidung der Regierungsmitglieder für eine Intervention deshalb verständlicherweise innerhalb der Partei schlagen musste, verdeutlichte nicht zuletzt der Farbbeutelwurf auf Joschka Fischer während des Chaosparteitages von Bielefeld im Mai 1999. Doch das Ende der GRÜNEN als radikalpazifistischer Partei und ihr Weg in die parteipolitische Normalität war da längst besiegelt, auch wenn es 2001 anlässlich der Abstimmung über den Bundeswehreinsatz in Afghanistan noch einmal zu einem letzten symbolischen Aufbäumen kommen sollte. Echte Pazifisten hatten sich zu diesem Zeitpunkt längst von ihrer einstigen Partei abgewandt oder waren angesichts der grauen Realpolitik verstummt.

Dass der erste deutsche Kriegseinsatz nach dem 2. Weltkrieg ausgerechnet von einer ehemals pazifistischen Partei und einer linken Regierung ermöglicht wurde (ein Einsatz unter einer konservativen Regierung hätte sich ungleich schwieriger gestaltet), zählt wohl zu den typischen Antinomien der Politik. Und dass zur Rechtfertigung jenes Krieges ausgerechnet Auschwitz herangezogen wurde, verdeutlicht wie grundlegend der Einschnitt in das Selbstverständnis deutscher Außenpolitik war. Man mag diesen Schritt hin zum Interventionismus begrüßen oder nicht, und es lässt sich auch trefflich darüber streiten, ob der völkerrechtswidrige Kosovo-Krieg gerechtfertigt war oder nicht. Joschka Fischers zutiefst moralische Begründung steht am Anfang jener Entwicklung, ohne die wir heute wahrscheinlich nicht über den Afghanistaneinsatz und die Frage, ob Deutschland tatsächlich am Hindukusch verteidigt wird, diskutieren würden.

Montag, 27. August 2007

Extremisten verbieten?


Kaum kommt es in Deutschland mal wieder zu Ausschreitungen gegen Ausländer, werden Stimmen laut, die NPD endgültig zu verbieten. Schon Otto Schily, Innenminister der rot-grünen Regierung brachte 2001 einen Verbotsantrag vor das Verfassungsgericht – und scheiterte kläglich. Nicht etwa, weil der Partei keine systemüberwindenden, verfassungsfeindlichen Bestrebungen nachgewiesen werden konnten. Nein, der Staat selbst verhinderte durch die Aktivität seiner V-Männer, die in der Partei bis in leitende Positionen zu finden waren, die Beweisführung. Denn solange diese aktiv waren – und nicht selten zu Gewalttaten anstachelten – konnte das Verfassungsgericht keine positive Entscheidung treffen. Nun verhielt es sich so, dass die NPD nur allzu gerne großzügig Gelder vom Verfassungsschutz kassierte, ihnen genau die Informationen lieferte, die eh schon bekannt waren und derweil kräftig in ihren Parteiaufbau investierte.

Der Verbotsantrag war so auf zweifache Weise ein ziemlich herber Reinfall: die NPD konnte sich nun brüsten, eine demokratische Partei zu sein, die ungerechtfertigter staatlicher Verfolgung unterliege und war zugleich auf einen Schlag in aller Munde. Der Staat lieferte also nicht nur einen Persilschein, sondern obendrein kostenlose Publicity für die zuvor dahinsiechenden Rechtsextremisten. Da sich die V-Männer immer noch in der Partei tummeln (und der Verfassungsschutz gar nicht dran denkt, sie aus der Partei abzuziehen), wäre ein zweiter Versuch genauso zum Scheitern verurteilt. Da die NPD inzwischen aber (auch dank der Hilfe des Innenministeriums) in zwei Landtagen sitzt, und aktuelle Umfragen zeigen, dass sich 13 % der Deutschen vorstellen könnten, ihr Kreuz bei der nächsten Wahl den nationalen Sozialisten zu geben, wirkt dieser Vorstoß wie ein verzweifelter Rettungsversuch eines angeschlagenen demokratischen Systems.

Denn was hinter dem Ruf nach Verboten steht, ist eine gehörige Portion Hilflosigkeit. Gerade wir Deutschen müssten doch eigentlich bessere Mittel gegen Rechtsextremisten kennen als Verbote. Doch die Tabuisierung rechtsdemokratischen Gedankengutes spielt den Extremisten in die Hände. Während sich auf der Linken gerade erfolgreich eine linksdemokratische (und im Grunde sozialdemokratische) Partei etablieren kann, fühlen sich viele Rechtskonservative in die Enge getrieben: von der Political Correctness, dem nationalen Neurotizismus und der Sozialdemokratisierung der CDU. Nicht, dass ich mit rechtskonservativen Positionen sonderlich sympathisieren würde, aber eine gesunde Demokratie muss eben beides vertragen: eine starke Linke UND eine starke Rechte.

Zudem ist wohl kaum zu erwarten, dass das Wählerpotenzial der Extremisten durch ein Verbot schlagartig verschwindet. Nein, es ist europäische Normalität, dass ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung über ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild verfügt, wobei sich die Deutschen da durchaus im europäischen Mittelfeld befinden. Eine Demokratie muss damit auch leben können. Sie muss nur verhindern, dass deren Positionen mehrheitsfähig werden. Dazu bedarf es aber mit Sicherheit anderer Mittel als des Verbots oder der üblichen Betroffenheitsbekundungen, wenn die rechtsextreme Normalität mal wieder ins Blickfeld der Medien gerät.

Dieses Land muss endlich damit aufhören, die Augen vor der Realität zu verschließen und sachlich über die Ursachen all der Probleme reden, die vielen Menschen Extremisten wählbar erscheinen und rechtsextreme Gedanken salonfähig machen lässt, und von denen hier einige beispielhaft herausgegriffen seien: die Arbeitslosigkeit, die Abwesenheit der Politik wie der Zivilgesellschaft in vielen Teilen der Republik, unser zutiefst ungerechtes und sozial spaltendes Bildungssystem, die Desintegrationsproblematik weiter Teile der Unterschichten in den grauen Vorstädten und dem aussterbenden Land und deren Deprivationsgefühle, die extremistischen, kriminellen und antideutschen Tendenzen in einigen Migrantencommunities oder der langsam aber stetig voranschreitende Solidaritätsverfall in der Gesamtgesellschaft.

Dafür kann es keine einfachen Lösungen geben, und sicher ist es auch einfach, die Politik (gerade in jenen globalisierten Zeiten) für alle Probleme verantwortlich zu machen, da mag die deutsche Mentalität sicher etwas zu staatsfixiert zu sein, denn jeder Bürger ist ja potenziell dazu fähig, sich aus der Atomisierung zu befreien und selbst Initiative zu ergreifen, wir sind ja schließlich (immer noch) eine Demokratie. Nur: solange die Politik in diesem Lande nicht endlich ihre Kurzsichtigkeit in vielen Belangen ablegt, führt kein Weg daran vorbei, ihr dabei zu helfen, sie abzulegen.

...all jenen, die sich etwas näher mit der NPD auseinandersetzen möchten, sei das Buch "Moderne Nazis" von Toralf Staud ans Herz gelegt, das sich auf fundierte und prägnante Weise mit dem Werdegang der ältesten deutschen rechtsextremen Partei und ihrem aktuellen Treiben beschäftigt...

Sonntag, 19. August 2007

Vormann Leiss


In Deutschland gibt es nur wenige Punkbands, die mit intelligenten Texten glänzen können: neben den Boxhamsters, EA 80, Oma Hans und den Goldenen Zitronen gehören die Flensburger von Turbostaat definitiv dazu. 

Die assoziativen, düsteren, an Jens Rachut angelehnten Texte (à la Drei Ecken - Ein Elvers), die Wipers-mäßige Gitarrenführung und der eindringliche, unangenehme Gesang sind die Markenzeichen einer der besten Livebands der Republik. Auf dem kleinen, aber feinen Schiffen-Label veröffentlichten sie ihre ersten beiden Alben Flamingo (2001) und Schwan (2004), unermüdliches Touren und eine Begegnung mit den Beatsteaks verschaffte der Band nach und nach ein kleines, aber solides und sehr treues Publikum. Nach einer Kollaboration mit den Beatsteaks, die auf der B-Seite von „Hello Joe“ landete und in der eigenwilligen, eingedeutschen Interpretation des Fu Manchu-Songs „Hell on wheels“ (zu deutsch: Frieda und die Bomben) bestand, wurden auch größere Plattenfirmen aufmerksam. 

Schnell war von Ausverkauf die Rede, vom Verrat an den guten alten Indie-DIY-Idealen. Doch was lässt sich heute schon noch mit Fug und Recht als Indie bezeichnen? Indie ist der neue Mainstream und hat längst die großen Bühnen bis zu Rock im Park erobert, ist mehr Label und Mode als Einstellung. Und schließlich gilt es, die Band an ihrer Musik zu messen, nicht nur an ihrer Plattenfirma. Dennoch: Turbostaat landete zwar bei warner music, gründete aber zugleich ihr eigenes kleines Label namens Same Same but Different, weshalb auch ihr neuestes Werk auf exzellentem 180 Gramm-Vinyl inclusive detaillverliebtem dickem Booklet erscheint. 

Aber zurück zum Wesentlichen: auf „Vormann Leiss“ hat sich nämlich – fast – gar nichts verändert, keine Spur von Anpassung. Abgesehen von einer verbesserten Produktion machen es einem die Jungs wahrlich nicht leichter. Denn die Texte, die sich wie immer in den seltensten Fällen reimen, sind so kryptisch wie immer, tragen Titel wie „Harm Rochel“, „Ja, Roducheln!!!“ oder „Haubentaucherwelpen“ und geben sich wahrlich nicht die Mühe, zu gefallen. Melodien sind wie immer rar gesät, Musik und Texte ergeben wie immer eine alles andere als angenehme Atmosphäre. Beleuchtet werden die alltäglichen Abgründe (die Banalität des Bösen, die Lächerlichkeit unserer Existenz oder die Verbindung von Privatem und Politik etwa) und Befindlichkeiten, die schwer zu entschlüsseln und vielleicht gerade deshalb oft so treffend sind. In den besten Momenten erzeugt das Kopfkino, lässt das politische, persönliche, philosophische, absurde Bilder im Kopf des Hörers entstehen. Einer der textlich noch am ehesten zu greifenden Songs ist Haubentaucherwelpen: 

zusammen mit der hoffnung 
fällt sonne in die stadt 
es geht noch immer weiter 
zumindestens bergab 
sie verlassen ihre gräben 
die sie zur zeit bewohnen 
sind wir nicht weit gekommen 
fragt der erste schon 

und sie beladen ihre autos 
mit kindern im gepäck 
wohin soll bloß die reise gehen 
am besten ganz weit weg 
sie begraben ihre toten 
und schauen dich groß an 
was gibt es hier denn noch zu tun?
am besten weiterfahren 

UND SIE BLEIBEN 
OHNE FRAGEN 
WEIL ALLES ANDERE SCHEINBAR BESSER IST 
UND DEINE AUGEN STARREN WEITER 
AUF FISCHER 
AUF DEN HAFEN 
UND DEN WIND 

köpfe rollen zusammen 
und denken lauthals nach
ob wir denn noch zu retten wären 
mit einem starken staat 
wer soll uns jetzt führen? 
ob er noch beten kann? 
liebt er seine kinder? 
ein guter ehemann… 

Nein, „Vormann Leiss“ ist weder die befürchtete Anbiederung an den Mainstream, noch die musikalische Offenbarung, welche sich vielleicht manche erhofft hatten. Turbostaat machen ziemlich genau da weiter, wo sie mit Schwan aufgehört haben, was aber nicht weiter schlimm ist, denn Vormann Leiss ist das dritte gute Album in Folge - und das ist auch und gerade für eine deutsche Punkband mehr als beachtlich.

Freitag, 17. August 2007

Lösch mir die Augen aus...

Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füße kann ich zu dir gehen,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.

(Rainer Maria Rilke, 1897)

Der große Führer Kruk


Eine der wohl schillerndsten Figuren des sog. „nationalen Widerstands“ ist Silvio Reinhold Kruk. Als Führer der National-Sozialistischen Bewegung Deutschlands (NBD), die im wesentlichen aus ihm selbst besteht und als Akronym wie eine provinzielle Variante des Marktführers NPD klingt, sorgt er selbst innerhalb des rechtsextremen Spektrums regelmäßig für Heiterkeit, denn sein politisches Wirken ist Realsatire vom feinsten! Seit Jahren kämpft er nun schon für das Reich, vornehmlich, indem er Demos organisiert (von denen allerdings noch keine stattgefunden hat) und Videobotschaften in die Welt setzt, die von völliger rhetorischer und technischer Unfähigkeit zeugen (zwei exzellente Exemplare: eine Ankündigung und eine Antwort). Sein letzter Coup: in der Annahme, endlich treue Kameraden gefunden zu haben, mit denen er seine erste Demo gegen Antifa und Staat abhalten kann, unterwanderten ihn – Antifas: über Wochen hinweg hatten sie sich gegenüber Kruk als Kameraden ausgegeben. Sie übernahmen nicht nur detaillierte Planungen für die Demo, sondern gaben ebenso vor, für Lautsprechertechnik, Ordner und Teilnehmer zu sorgen. In einem privaten Schriftverkehr zwischen Kruk und seinen „treuen Verbündeten“ leugnete dieser obendrein auch noch den Holocaust.

Die Bilanz der glorreichen Aktion: statt einer Demo erntete er nur Hohn und statt Kameraden eine Strafanzeige. Ach wenn doch nur alle Nazis so unfähig wären wie dieser fast schon bedauernswerte Kerl!

The Mercy Seat

Nick Cave war in den Achtziger Jahren noch nicht der anerkannte Musiker, als der er heute in den einschlägigen Feuilletons gehandelt wird - er war zu dreckig, zu schräg, zu verdrogt. Doch am Ende jener Dekade vollzog sich die langsame Wandlung hin zum hofierten melancholisch-morbiden Songwriter, der in jüngster Zeit gar verhalten positive Musik komponierte. Mercy Seat, das erst in den letzten Jahren des nicht minder genialen Johnny Cash die verdiente Berühmtheit erlangte, manifestiert jene Übergangsphase einer der größten lebenden musikalischen Legenden. Wer Nick Cave nur von Where the wild roses grow kennt, wird wahrscheinlich genauso überrascht sein wie jene, die Mercy Seat erst mit Johnny Cash kennenlernten, der den Song so kongenial interpretierte, dass seine Herkunft inzwischen beinahe vergessen scheint...

It ALL began when they come took me from my home
And put me on Death Row,
a crime for which I am totally innocent, you know.

I began to warm and chill
To objects and their fields,
A ragged cup, a twisted mop
The face of Jesus in my soup
Those sinister dinner deals
The meal trolley's wicked wheels
A hooked bone rising from my food
All things either good or ungood.

And the mercy seat is waiting
And I think my head is burning
And in a way I'm yearning
To be done with all this weighing of the truth.
An eye for an eye
And a tooth for a tooth
And anyway I told the truth
And I'm not afraid to die.

I hear stories from the chamber
Christ was born into a manger
And like some ragged stranger
He died upon the cross
Might I say, it seems so fitting in its way
He was a carpenter by trade
Or at least that's what I'm told

My kill-hand's
tatooed E.V.I.L. across it's brother's fist
That filthy five! They did nothing to challenge or resist.

In Heaven His throne is made of gold
The ark of his Testament is stowed
A throne from which I'm told
All history does unfold.
It's made of wood and wire
And my body is on fire
And God is never far away.

Into the mercy seat I climb
My head is shaved, my head is wired
And like a moth that tries
To enter the bright eye
I go shuffling out of life
Just to hide in death awhile
And anyway I never lied.


And the mercy seat is waiting
And I think my head is burning
And in a way I'm yearning
To be done with all this weighing of the truth.
An eye for an eye
And a tooth for a tooth
And anyway I told the truth
And I'm not afraid to die.

And the mercy seat is burning
And I think my head is glowing
And in a way I'm hoping
To be done with all this twisting of the truth.
An eye for an eye
And a tooth for a tooth
And anyway there was no proof
And I'm not afraid to die.

And the mercy seat is glowing
And I think my head is smoking
And in a way I'm hoping
To be done with all these looks of disbelief.
A life for a life
And a truth for a truth
And I've got nothing left to lose
And I'm not afraid to die.

And the mercy seat is smoking
And I think my head is melting
And in a way that's helping
To be done with all this twisting of the truth
An eye for an eye
And a tooth for a tooth
And anyway I told the truth
But I'm afraid I told a lie.

Dienstag, 14. August 2007

Kapitulation


„Alle die, die Liebe finden, sie müssen kapitulieren“
 
Nachdem ich das letzte Tocotronic-Album als eher angestrengt denn innovativ empfand, und eine mir in frühen Jahren ans Herz gewachsene Band schon fast in neoromantisch, gar esoterische Gefilde abdriften sah, las ich gespannt all die euphorischen Artikel über die „Kapitulation“. Da wurde nicht weniger als die Rettung der deutschen Musik und Tocotronic (da Distelmeyer & Co als Feuilletonlieblinge wegfielen) als die neuen Heilsbringer zwischen all dem Tand, der die sprunghaft angewachsene – und nicht zuletzt durch eine gewisse, zu Unrecht als solche betitelte Hamburger Schule in neue Sphären kapitulierte – deutsche Musikszene seit jeher dominierte, ausgerufen. Als ob das nicht genügte, offenbarte sich ein gewisser Herr von Beust als Fan besagter Gruppe, was von den grandiosen Goldenen Zitronen unlängst in „Der Bürgermeister“ verarbeitet wurde. Angesichts all der blinden Euphorie waren Bedenken also mehr als angebracht.
 
Eine einstmals subversive Band als Soundtrack zur bräsigen deutschen Befindlichkeit? Oder steckt letztlich doch mehr hinter dem Konzept der Kapitulation, dem komplett antirockistischen und antimännlichkeitsfixierten Ansatz gereifter Antideutscher. Ein (sicher nicht ganz ernst gemeintes) Manifest zum Album und diverse Interviews ließen mehr vermuten. Und: ich wurde positiv überrachscht. Auch wenn nicht alles an „Kapitulation“ gefällt, so haben sich doch einige der (für Tocotronic üblichen, und wie immer unangenehmen, weil unangepassten und leicht paradoxen) Parolen festgesetzt.

Kapitulation als antikapitalistische Strategie – wirklich überraschen konnte das einen alten Tocotronic-Hörer nicht wirklich, ebensowenig die kryptischen, aber inzwischen wieder (glücklicherweise) weniger neoromantischen Texte. Was mit „Digital ist besser“ und plakativ, aber ironisch gebrochenen, direkten Texten wie „Gitarrenhändler, ich verachte euch zutiefst“ begann, hatte spätestens seit KOOK neue lyrische Dimensionen betreten. Ein gemeinsamer Nenner jedoch blieb: die Hamburger wollen nicht gefallen, bleiben anstrengend, fordern auf zur Auseinandersetzung und vermeiden die Anbiederung an ein wie immer geartetes Publikum.

„Kapitulation“ ist jedoch nicht das, was die viel zu euphorischen deutschen Feuilletons herbei geschrieben haben. Spannend ist es gleichwohl, denn Tocotronic haben sich nicht nur textlich, sondern auch musikalisch weiterentwickelt. Was auf „Pure Vernunft darf niemals siegen“ noch statisch und gewollt daherkam, wirkt hier organisch und natürlich, so wird das Album (trotz aller immer noch vorhandenen Drei-Akkord-Banalitäten) zum musikalisch vielfältigsten Werk. Zwischen „Kapitulation“, dem (wenn auch nur vordergründig) vielleicht fröhlichsten Lied der Bandgeschichte, „Sag alles ab“, dem noisig-punkigen, beinahe an alte, dilletantische Zeiten erinnernden Verweigerungsstatement und Midtempo-Indierockstücken wie „Verschwör dich gegen dich“ bewegt sich der Kosmos einer Band, die eine durchaus beachtenswerte Entwicklung von einer trashig-dilletantischen Antiband hin zu ernstgenommenen (auch in der Musik politischen) Musikern gemacht haben.

Wer Indieschrammelrock, leicht schräge, antimännliche Gesänge und auf den ersten Blick etwas angestrengt wirkende Lyrik schon immer ablehnte, wird auch mit diesem Album kein Freund der Hamburger. Wer allerdings schon immer ein offenes Ohr hatte für unangenehme Musik, die nicht nur als Hintergrundrauschen dienen soll, der wird vielleicht mit den endgültig in den (Un-)Tiefen des Rock angekommenen Tocotronic seine Freude haben…

Dienstag, 7. August 2007

Fragment


Tunnel

Wie so oft stand P. auch heute wieder vor dem Tor der ihm einst so vertrauten Fabrik. Dieser Schritt war mit der Zeit zum Ritual, einer Art Atavismus, einem heiligen Akt ohne erkennbaren Sinn, ohne Bezug zu seinem Dasein geworden. Aber was sollte das schon sein – sein Dasein? Ein verkümmerter Haufen Mist, ein nichtsnutziges, leeres Stück Wirklichkeit. Seine Bestimmung war das nicht, das wusste P. nur zu gut, und auch wenn er doch wusste, was zu tun wäre – nämlich Abschied zu nehmen, neue Schritte zu wagen, Kompromisse einzugehen, und letztlich neues Feuer zu spüren und zu verbreiten – so trat er doch täglich seine Schritte zur Fabrik an, verweilte vor dem Tor bis er ein bekanntes Gesicht erblickte und ertrug die mitleidigen, ignoranten, und ja, auch die hasserfüllten Blicke. P. hatte es sich in den Kopf gesetzt, und wenn P. sich etwas in den Kopf setzte, wurde es zu einer fixen Idee, die von jeder Faser seines Körpers Besitz ergriff, eine lebendige Mahnung, ein täglich verhallender Appell gegen diese Welt, gegen ihre Gesetze und deren Lauf. Er war nicht bereit, sich damit abzufinden, sich den Staub von den Schultern zu wischen und zu sagen: „Pf, ihr könnt mich alle mal.“ Nein, er war aus anderem Holz, er war bereit, es allen zeigen. Der ganzen verkommenen Welt wollte er sein Denkmal entgegenstellen und sagen: „Wenn die ganze Welt vor die Hunde geht, ich nicht.“ Auch wenn er sich der Ausweglosigkeit, der Torheit und nicht zuletzt der unbeirrbaren Sturheit seines Ansinnens bewusst war, so konnte er nicht anders, jeden morgen aufs Neue trieb es ihn vor die Fabrik, und sollten die Umstände noch so widrig sein.

Doch heute sollte alles anders kommen, sollten die Fundamente seiner Rebellion in sich zusammenbrechen, die Koordinaten seiner Werte verschwinden, die ganze Fragwürdigkeit seiner Existenz wie in einem epochalen Paukenschlag über ihn hereinbrechen. P. war ein Kleingeist, keine Frage, einer aber, der sich nicht damit zufrieden gibt, der ausbrechen will, der seine eigenen Grenzen nicht akzeptieren kann, und gerade weil er sich seiner Grenzen bewusst ist, beharrlich daran arbeitet, diese zu verdrängen und sein Verlangen damit nur noch verstärkt. Schon als kleiner Junge war es ihm unmöglich, in Systemen zu denken, er wollte immer alles, immer mehr und bekam am Schluss zumeist nichts. Respektlos, ungezogen und vorlaut werden solche Kinder zumeist genannt, man pflegt sie mit erzieherischen Maßnahmen zu formen und ihrerseits wieder in Kategorien zu erfassen, so wie es das betuliche, geregelte Dasein eines selbständigen Erwachsenen erfordert, schließlich soll ja alles seinen Gang gehen und wenn man sich nicht auf solche „Selbstverständlichkeiten“ verlassen kann, wo käme man denn da nur hin? Selbstverständlich ist das nur Verdrängung, abgeschobene Fragen, die das eigene Scheitern nur oberflächlich, aber letztlich doch ausreichend kaschieren. Und je stärker das eigene Versagen, desto härter die Reaktion auf die kindliche Rebellion, den unendlichen Wissensdrang, der den gesellschaftlichen Rahmen bei weitem zu sprengen droht. So musste auch P. sehr schnell die Konsequenzen seiner Ehrlichkeit und Beharrlichkeit spüren, die ihm zeitlebens Anerkennung und Respekt verwehrten.

Er war ein ewiger Querulant, den höchstens zu tolerieren, zu ertragen, aber den zu lieben fast unmöglich war. Und so geriet P. in intensiven, tief schürfenden Konflikt mit der Welt, ihren Regeln, ihren Hütern, ihren Lügen und nicht zuletzt ihrer Heuchlerei. Die von ihm gesammelten Erfahrungen bleiben den meisten verwehrt, sie pflegen gegenüber jenen Subjekten, die Normen übertreten ein abschätziges, oberflächliches Bedauern zu empfinden, und sollten sie sich trotz der zahlreichen gut gemeinten Versuche der Wiedereingliederung immer noch sträuben, so schlägt das Bedauern in Ablehnung und Verachtung um, in einen Ruf nach Ordnung und Disziplin, der zu hitzigen Debatten über den verkommenen Zustand der Gesellschaft führen kann und sich letztlich völlig von der Ursache emanzipiert, und in keinerlei Beziehung mehr steht zu den Übeltätern, deren Motivation und deren Kritik. Schnell sind dann symbolische Schritte bei der Hand, der Mob beruhigt sich wieder und geht seinen alltäglichen Geschäften nach, die Ruhe kehrt wieder ein und die Probleme scheinen vergessen. Aber weshalb Probleme? Und wer ist überhaupt das Problem? Und ist es nicht das Beste, wenn jeder möglichst seinen eigenen Weg geht, möglichst ruhig. So musste auch P. die Erfahrung machen, nicht gewollt, nicht geliebt und nur ungern gehört zu werden. Er kämpfte sich durch, wacker, aber verbittert, mit jedem Lebensjahr schwoll die Wut in ihm mehr und mehr an zu einer Übelkeit, einem Gefühl des Ekels gegenüber der Menschheit, die ihn jedoch nur noch mehr bestärkte in seinem Tun, die ihn mit noch deutlicherer Entschlossenheit dem ganzen Elend gegenübertreten ließ. Doch wie bei vielen verbitterten Menschen verlor auch P. das Gespür für den Augenblick, er erblickte mit der Zeit in allem ein Hindernis, eine Schranke, einen Zaun, ein Verbot, eine Ablehnung, wurde böse, gehässig und brutal, so dass es ihm mit den Jahren gänzlich unmöglich wurde, das Gute zu erblicken, auch wenn es mit einer Deutlichkeit vor ihm stand oder lag, die nur ein Narr übersehen konnte. Und als solchen betrachteten ihn die Menschen, er wurde geschnitten, beschimpft, verachtet – und mit jeder Beleidigung wuchs die Gewissheit in ihm, in dieser Welt nur alleine überstehen zu können, nur in sich selbst Bestätigung und Wahrheit zu finden, und wurde stärker. (Zu stark, wie sich herausstellen sollte.)

Es war gegen zehn Uhr, P. war gerade dabei, aufzubrechen und seine tägliche Mahnwache zu beenden, da machte er eine folgenschwere Entdeckung. Er war gerade dabei seine Sachen zu packen, nahm seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und stöberte hastig nach Streichhölzern, um festzustellen, dass die letzte Schachtel wohl noch zuhause liegen müsse, und war somit gezwungen, entweder auf das Rauchen zu verzichten oder jemanden höflichst nach Feuer zu fragen. Nun, da zu dieser Zeit niemand unterwegs war, da entweder am arbeiten (schließlich war er ja in einem Industriegebiet), an irgendeinem gottverlassenen Ort das erste oder zweite Bier kippend (schließlich gilt es ja den Pegel zu halten), frustriert in den eigenen vier Wänden, in irgendeinem verlassenen Heim, den Todesatem auf der Brust, in einer Bildungsanstalt ertrinkend vor lauter hohlem Gefasel oder wo auch immer sich um diese Uhrzeit der Saft aus dem Leben saugen lässt, musste er sich wohl oder übel damit anfreunden, den Tabak wieder einzustecken und zu warten, was auf seine Laune nicht gerade positive Auswirkungen hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen, das sich einem sich ankündigen Nieser gleich zu einer den ganzen Organismus ergreifenden Übelkeit steigerte, machte er sich also auf seinen Weg, ziellos und dennoch zielstrebig durch die verschmutzten Passagen seiner hässlichen Heimatstadt, als in einem Augenblick geistiger Umnachtung plötzlich eine auf den ersten Blick unscheinbare Gestalt direkt vor sein Gesicht trat, einen Zusammenstoß gerade noch abwendend. Gerade als P. zu einem cholerischen Ausbruch ansetzen und die ganze Ungerechtigkeit der Welt auf diesen Unbekannten entladen wollte, raffte ihn die Präsenz dieses, wie er nun feststellen konnte, ältlichen heruntergekommenen Herrn hinweg und ließ ihn augenblicklich erstarren und erschaudern. Er konnte nur noch die gestammelte Entschuldigung des kleinwüchsigen Greises vernehmen, als ihn eine verspätete Erkenntnis unweigerlich zusammenbrechen ließ…

Tunnel, Licht, Tunnel, Licht, Leere, Durst, Schmerzen, wo bin ich? Und woher kommen die Blitze? Wer bin ich? Woher kommt dieses Licht? Tunnel, Licht, Tunnel, Licht, Leere, nichts. Ein Blick in die traurigen leeren Augen des Greises offenbarte ihm augenblicklich die Leere seiner eigenen Existenz, seinen besinnungslosen Eifer, seine Torheit gegenüber der Welt, seinen Irrglauben und die Nichtigkeit seines Tuns. Über all dem Hass hatte er vergessen zu leben, zu lernen und zu lieben. Nun war er selbst alt geworden, ohne Ziel, ohne Halt, voller Groll gegen die Anderen - doch letztendlich nur gegen sich selbst, sein Leben ein einziger Scherbenhaufen. Und nun?

(2005)

Merkel und die Logik der Ökonomie

Volker Pispers mit einem schon etwas älterem Auftritt zum Amtsantritt unserer allseits beliebten Kanzlerin - mit einigen Abstrichen heute noch treffend.