Wie so oft stand P. auch heute wieder vor dem Tor der ihm einst so vertrauten Fabrik. Dieser Schritt war mit der Zeit zum Ritual, einer Art Atavismus, einem heiligen Akt ohne erkennbaren Sinn, ohne Bezug zu seinem Dasein geworden. Aber was sollte das schon sein – sein Dasein? Ein verkümmerter Haufen Mist, ein nichtsnutziges, leeres Stück Wirklichkeit. Seine Bestimmung war das nicht, das wusste P. nur zu gut, und auch wenn er doch wusste, was zu tun wäre – nämlich Abschied zu nehmen, neue Schritte zu wagen, Kompromisse einzugehen, und letztlich neues Feuer zu spüren und zu verbreiten – so trat er doch täglich seine Schritte zur Fabrik an, verweilte vor dem Tor bis er ein bekanntes Gesicht erblickte und ertrug die mitleidigen, ignoranten, und ja, auch die hasserfüllten Blicke. P. hatte es sich in den Kopf gesetzt, und wenn P. sich etwas in den Kopf setzte, wurde es zu einer fixen Idee, die von jeder Faser seines Körpers Besitz ergriff, eine lebendige Mahnung, ein täglich verhallender Appell gegen diese Welt, gegen ihre Gesetze und deren Lauf. Er war nicht bereit, sich damit abzufinden, sich den Staub von den Schultern zu wischen und zu sagen: „Pf, ihr könnt mich alle mal.“ Nein, er war aus anderem Holz, er war bereit, es allen zeigen. Der ganzen verkommenen Welt wollte er sein Denkmal entgegenstellen und sagen: „Wenn die ganze Welt vor die Hunde geht, ich nicht.“ Auch wenn er sich der Ausweglosigkeit, der Torheit und nicht zuletzt der unbeirrbaren Sturheit seines Ansinnens bewusst war, so konnte er nicht anders, jeden morgen aufs Neue trieb es ihn vor die Fabrik, und sollten die Umstände noch so widrig sein.
Doch heute sollte alles anders kommen, sollten die Fundamente seiner Rebellion in sich zusammenbrechen, die Koordinaten seiner Werte verschwinden, die ganze Fragwürdigkeit seiner Existenz wie in einem epochalen Paukenschlag über ihn hereinbrechen. P. war ein Kleingeist, keine Frage, einer aber, der sich nicht damit zufrieden gibt, der ausbrechen will, der seine eigenen Grenzen nicht akzeptieren kann, und gerade weil er sich seiner Grenzen bewusst ist, beharrlich daran arbeitet, diese zu verdrängen und sein Verlangen damit nur noch verstärkt. Schon als kleiner Junge war es ihm unmöglich, in Systemen zu denken, er wollte immer alles, immer mehr und bekam am Schluss zumeist nichts. Respektlos, ungezogen und vorlaut werden solche Kinder zumeist genannt, man pflegt sie mit erzieherischen Maßnahmen zu formen und ihrerseits wieder in Kategorien zu erfassen, so wie es das betuliche, geregelte Dasein eines selbständigen Erwachsenen erfordert, schließlich soll ja alles seinen Gang gehen und wenn man sich nicht auf solche „Selbstverständlichkeiten“ verlassen kann, wo käme man denn da nur hin? Selbstverständlich ist das nur Verdrängung, abgeschobene Fragen, die das eigene Scheitern nur oberflächlich, aber letztlich doch ausreichend kaschieren. Und je stärker das eigene Versagen, desto härter die Reaktion auf die kindliche Rebellion, den unendlichen Wissensdrang, der den gesellschaftlichen Rahmen bei weitem zu sprengen droht. So musste auch P. sehr schnell die Konsequenzen seiner Ehrlichkeit und Beharrlichkeit spüren, die ihm zeitlebens Anerkennung und Respekt verwehrten.
Er war ein ewiger Querulant, den höchstens zu tolerieren, zu ertragen, aber den zu lieben fast unmöglich war. Und so geriet P. in intensiven, tief schürfenden Konflikt mit der Welt, ihren Regeln, ihren Hütern, ihren Lügen und nicht zuletzt ihrer Heuchlerei. Die von ihm gesammelten Erfahrungen bleiben den meisten verwehrt, sie pflegen gegenüber jenen Subjekten, die Normen übertreten ein abschätziges, oberflächliches Bedauern zu empfinden, und sollten sie sich trotz der zahlreichen gut gemeinten Versuche der Wiedereingliederung immer noch sträuben, so schlägt das Bedauern in Ablehnung und Verachtung um, in einen Ruf nach Ordnung und Disziplin, der zu hitzigen Debatten über den verkommenen Zustand der Gesellschaft führen kann und sich letztlich völlig von der Ursache emanzipiert, und in keinerlei Beziehung mehr steht zu den Übeltätern, deren Motivation und deren Kritik. Schnell sind dann symbolische Schritte bei der Hand, der Mob beruhigt sich wieder und geht seinen alltäglichen Geschäften nach, die Ruhe kehrt wieder ein und die Probleme scheinen vergessen. Aber weshalb Probleme? Und wer ist überhaupt das Problem? Und ist es nicht das Beste, wenn jeder möglichst seinen eigenen Weg geht, möglichst ruhig. So musste auch P. die Erfahrung machen, nicht gewollt, nicht geliebt und nur ungern gehört zu werden. Er kämpfte sich durch, wacker, aber verbittert, mit jedem Lebensjahr schwoll die Wut in ihm mehr und mehr an zu einer Übelkeit, einem Gefühl des Ekels gegenüber der Menschheit, die ihn jedoch nur noch mehr bestärkte in seinem Tun, die ihn mit noch deutlicherer Entschlossenheit dem ganzen Elend gegenübertreten ließ. Doch wie bei vielen verbitterten Menschen verlor auch P. das Gespür für den Augenblick, er erblickte mit der Zeit in allem ein Hindernis, eine Schranke, einen Zaun, ein Verbot, eine Ablehnung, wurde böse, gehässig und brutal, so dass es ihm mit den Jahren gänzlich unmöglich wurde, das Gute zu erblicken, auch wenn es mit einer Deutlichkeit vor ihm stand oder lag, die nur ein Narr übersehen konnte. Und als solchen betrachteten ihn die Menschen, er wurde geschnitten, beschimpft, verachtet – und mit jeder Beleidigung wuchs die Gewissheit in ihm, in dieser Welt nur alleine überstehen zu können, nur in sich selbst Bestätigung und Wahrheit zu finden, und wurde stärker. (Zu stark, wie sich herausstellen sollte.)
Es war gegen zehn Uhr, P. war gerade dabei, aufzubrechen und seine tägliche Mahnwache zu beenden, da machte er eine folgenschwere Entdeckung. Er war gerade dabei seine Sachen zu packen, nahm seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche und stöberte hastig nach Streichhölzern, um festzustellen, dass die letzte Schachtel wohl noch zuhause liegen müsse, und war somit gezwungen, entweder auf das Rauchen zu verzichten oder jemanden höflichst nach Feuer zu fragen. Nun, da zu dieser Zeit niemand unterwegs war, da entweder am arbeiten (schließlich war er ja in einem Industriegebiet), an irgendeinem gottverlassenen Ort das erste oder zweite Bier kippend (schließlich gilt es ja den Pegel zu halten), frustriert in den eigenen vier Wänden, in irgendeinem verlassenen Heim, den Todesatem auf der Brust, in einer Bildungsanstalt ertrinkend vor lauter hohlem Gefasel oder wo auch immer sich um diese Uhrzeit der Saft aus dem Leben saugen lässt, musste er sich wohl oder übel damit anfreunden, den Tabak wieder einzustecken und zu warten, was auf seine Laune nicht gerade positive Auswirkungen hatte. Mit einem flauen Gefühl im Magen, das sich einem sich ankündigen Nieser gleich zu einer den ganzen Organismus ergreifenden Übelkeit steigerte, machte er sich also auf seinen Weg, ziellos und dennoch zielstrebig durch die verschmutzten Passagen seiner hässlichen Heimatstadt, als in einem Augenblick geistiger Umnachtung plötzlich eine auf den ersten Blick unscheinbare Gestalt direkt vor sein Gesicht trat, einen Zusammenstoß gerade noch abwendend. Gerade als P. zu einem cholerischen Ausbruch ansetzen und die ganze Ungerechtigkeit der Welt auf diesen Unbekannten entladen wollte, raffte ihn die Präsenz dieses, wie er nun feststellen konnte, ältlichen heruntergekommenen Herrn hinweg und ließ ihn augenblicklich erstarren und erschaudern. Er konnte nur noch die gestammelte Entschuldigung des kleinwüchsigen Greises vernehmen, als ihn eine verspätete Erkenntnis unweigerlich zusammenbrechen ließ…
Tunnel, Licht, Tunnel, Licht, Leere, Durst, Schmerzen, wo bin ich? Und woher kommen die Blitze? Wer bin ich? Woher kommt dieses Licht? Tunnel, Licht, Tunnel, Licht, Leere, nichts. Ein Blick in die traurigen leeren Augen des Greises offenbarte ihm augenblicklich die Leere seiner eigenen Existenz, seinen besinnungslosen Eifer, seine Torheit gegenüber der Welt, seinen Irrglauben und die Nichtigkeit seines Tuns. Über all dem Hass hatte er vergessen zu leben, zu lernen und zu lieben. Nun war er selbst alt geworden, ohne Ziel, ohne Halt, voller Groll gegen die Anderen - doch letztendlich nur gegen sich selbst, sein Leben ein einziger Scherbenhaufen. Und nun?
(2005)
3 Kommentare:
Literarischer Essayismus? Gefällt mir, auch wenn er Text stellenweise in den mit den starren Gliedern mehr oder weniger beholfen staksenden Stil einer wissenschaftlichen Abhandlung verfällt. Ein Fragment aber. Und nun?
Ratlosigkeit... eine ergreifende Geschichte und so nah..
nicht besonders ermutigend an einem grauen Tag wie heute... ich fürchte ich werde leicht depressiv
Was soll man dazu noch sagen? Da versucht sich ein Dilletant an etwas, dem er nicht gewachsen ist und verarbeitet seine eigenen Neurosen in einen Stilcocktail aus (siehe ray) literarischem Essayismus, typisch deutschem Angst- und Sehnsuchtsgefasel, Sozialkrikik und Psychoanalyse. Was bleibt anderes übrig, als zu scheitern? Immerhin auf sympathische Weise, aber was solls, das ist ja nur ein Blog, und der sich selbst überschätzende Zeittotschläger auch nicht mehr als eine gescheiterte Existenz...
Kommentar veröffentlichen