Donnerstag, 28. Juni 2007

Die neue alte, alte neue LINKE.

2005 trat die PDS als Linkspartei wieder eindrucksvoll auf die politische Bundesbühne. Dank umstrittener Sozialreformen der damaligen rot-grünen Regierung, mit Hilfe eines ehemaligen SPD-Vorsitzenden aus dem Saarland und in Kooperation mit der WASG erlebte sie einen zweiten Frühling und durfte nach drei Jahren Abstinenz wieder in Fraktionsstärke in den Bundestag einziehen.

Gleichzeitig geschah etwas für linke Parteien erstaunliches, denn recht bald schon war die Rede von Vereinigung anstatt der ansonsten üblichen Spaltung und Selbstzerfleischung. Der Parteitag gab unlängst grünes Licht: Deutschland ist in der europäischen Normalität angelangt und besitzt nun auch eine gesamtdeutsche Partei links von der Sozialdemokratie.

Zwei äußerst eigenwillige Gewächse des politischen Systems unserer Republik sind es, die sich am 16. Juni unter dem selbstbewussten Namen „DIE LINKE.“ zusammenschlossen. Auf der einen Seite die Linkspartei, als SED ehemalige Staatspartei, im Osten beinahe so etwas wie eine Volkspartei, im Westen jedoch kaum mehr als eine Splitterpartei und politischer Krämerladen linker Ideen. Auf der anderen Seite die Kleinstpartei WASG, zur Hochkonjunktur der Proteste gegen die rot-grünen Sozialreformen entstanden, vornehmlich im Westen der Republik aktiv und zu einem Großteil aus ehemaligen langjährigen SPD- und Gewerkschaftsmitgliedern bestehend. Der zunehmenden Identitätslosigkeit der SPD ist es schließlich auch geschuldet, dass Platz entstand für eine vermeintliche linke Alternative.

Ist die Linkspartei sozialistisch…

Während die WASG in Sachen Extremismus aufgrund ihrer Entstehungsgeschichte mehr oder weniger unverdächtig war, wurde die ehemalige PDS auch siebzehn Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch als linksextrem eingestuft, vornehmlich um sie und ihre Mitglieder aus dem bundesrepublikanischen demokratischen Konsens ausschließen und diffamieren zu können. Dass der extreme Flügel innerhalb der Linkspartei (speziell die Kommunistische Plattform und das Marxistisches Forum) schon lange marginalisiert war, wird von ihren Gegnern dabei geflissentlich übersehen. Auch ein Blick in das Parteiprogramm ließ nur wenig revolutionären Charakter erahnen – stattdessen jede Menge Ziele, die vor gar nicht allzu langer Zeit auch im Programm der Sozialdemokraten Platz gefunden hätten. Interessanterweise gab sich die SPD selbst in ihrem Bad Godesberger Programm von 1959 – gemeinhin als Markstein hin zu einer regierungsfähigen, demokratischen Volkspartei betrachtet – wesentlich marxistischer und extremer als die geschmähte Linkspartei. Und spätestens die Regierungsbeteiligungen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin dürften gezeigt haben, wes Geistes Kind die plötzlich handzahm, ja gar „neoliberal“ agierenden Postsozialisten in der Praxis doch sind.

…populistisch…

Unter tosendem Applaus verkündete Lafontaine auf dem Parteitag die Verwirklichung von „Freiheit durch Sozialismus“. Diesen Begriff mit Inhalt zu füllen gelang ihm jedoch leider nur unzureichend, und so blieb der Sozialismus kaum mehr als ein rhetorisches Moment, eine Phrase, um die Seele der Delegierten zu streicheln, so wie der Sozialismus seit geraumer Zeit in der Partei kaum mehr als ein Feigenblatt darstellt. Dieses Spielen mit den jeweils opportunen Begriffen ist es, das die „LINKE.“ von heute unterscheidet von jener zu Zeiten von Brie, Zimmer, Gysi und Bisky. Generell praktiziert die Partei zunehmend einen unangenehm undifferenzierten Politikstil, der mit der auf dem Parteitag eingeforderten Glaubwürdigkeit nur schwer zu vereinbaren ist.

Jener neue Populismus wird von niemandem besser verkörpert als dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden, der sich vor Pauschalisierungen, Redundanzen und Polemiken wahrlich nicht scheut. Ein stellvertretendes Beispiel aus der jüngeren Zeit: in einer Bundestagsrede bezeichnete er den Bundeswehreinsatz in Afghanistan als terroristischen Akt. Zwar nimmt hinter den Kulissen die Kritik an dem Egozentriker und seinem autokratischen Gebaren seit geraumer Zeit zu, doch die Parteiführung ist sich völlig bewusst, wie sehr man ihn gerade im Westen als Zugpferd benötigt, um die Etablierung einer gesamtdeutschen Linkspartei weiter voranzutreiben.

…oder gar konservativ?

„DIE LINKE.“ ist jedoch letztlich in vielen Belangen auch eine (im eigentlichen Sinne von bewahrend) konservative Partei, nimmt sie doch inzwischen mit Vorliebe die Rolle des Bewahrers altbundesrepublikanischer Errungenschaften (wie Wohlfahrtsstaat, Vollbeschäftigung, mehr oder weniger pazifistischer Außenpolitik oder sozialer Marktwirtschaft) ein. Viel mehr als eine Restauration der Verhältnisse ist von ihr nicht zu erwarten, weshalb auch ein Großteil der Vorschläge reichlich unzeitgemäß wirkt. Einer der Gründe auch, weshalb innerhalb der reichlich kriselnden Gewerkschaften eine zaghafte Öffnung gegenüber den Postsozialisten stattfindet. Verbände sich mit der Linken heutzutage noch die Idee von Fortschritt, wäre man fast dazu geneigt, den Namen der Partei als Etikettenschwindel aufzufassen.

Doch die Linke an sich ist (wie alle großen politischen Entwürfe) seit geraumer Zeit in einer gewaltigen Sinnkrise, und „DIE LINKE.“ als einer ihrer anachronistischsten Auswüchse versucht in jenes Vakuum zu stoßen, welches die SPD seit ihrer weitestgehenden Abkehr von sozialdemokratischen Werten hinterlassen hat. Viele Forderungen erhalten bei weiten Teilen der Bevölkerung Zustimmung, und in Umfragen wird ihr inzwischen in Fragen der sozialen Gerechtigkeit eine weitaus höhere Kompetenz zugewiesen als der SPD. Da sie sich in der Oppositionsrolle um Details oder Fragen der Umsetzbarkeit kaum Gedanken machen muss und vieles mehr nach einem Wunschkatalog denn einem Programm klingt, obgleich auf große Utopien verzichtet wird, dürfte sich dies auf absehbare Zeit auch kaum ändern.

Von wem wird sie gewählt?

Unterschichten wie Bildungseliten sind in der Anhängerschaft der Partei, von der eine Mehrheit über eindeutig linke oder libertäre Einstellungen verfügt, überrepräsentiert. Ein detaillierterer Blick fördert jedoch Bemerkenswertes zu Tage: Nach einer vergangenen Winter erschienenen Rechtsextremismusstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung besitzen 28,6 % ihrer Anhänger ausländerfeindliche Einstellungen – der höchste Wert unter allen Anhängern demokratischer Parteien! Die größten Wählerzuwächse konnte sie in den letzten Jahren zudem bei Nichtwählern, Arbeitslosen und gering verdienenden Arbeitern erzielen, jenen Gruppen also, die laut besagter Studie stark überdurchschnittliche ausländerfeindliche Einstellungen besitzen.

Dass eine Partei zuweilen anders denkt als Teile, Wähler und Anhänger ist beileibe kein Alleinstellungsmerkmal der Linken. So fördert dieselbe Studie ebenfalls zu Tage, dass nur eine Minderheit derjenigen, die über ein rechtsextremes Weltbild verfügen auch rechtsextreme Parteien wählt. Aber dass gerade zwischen Linkspartei und NPD die höchsten Wählerwanderungen stattfinden, deutet neben der Tatsache, dass beide (auch) als Protestwahlpartei fungieren, auf einen weiteren erstaunlichen Punkt hin: Die NPD, welche sich seit Jahren mit einem sozialistischen Image schmückt und vor allem mit sozialen Themen Wähler gewinnt, gilt den Parteistrategen (neben der SPD) als wichtigster Konkurrent um gewichtige Wählerstimmen. Dies mag begreiflich machen, weshalb auch Herr Lafontaine gerne in trüben rechten Gewässern fischt, was nicht zuletzt seine umstrittene „Fremdarbeiter“-Rede deutlich offenbarte. Gerade in Bezug auf Außen- und Wirtschaftspolitik ist dies auch durchaus mit den Zielen der Partei vereinbar, die dort eine erstaunlich nationalistische und protektionistische Note tragen.

Was bedeutet das für unser Parteiensystem?

Dass die SPD sich in absehbarer Zeit doch noch von der Möglichkeit einer Koalition mit den Postsozialisten im Bund überzeugen lassen wird, ist unwahrscheinlich. Das mag zum einen an ganz banalen zwischenmenschlichen Problemen liegen (Lafontaine wird bei den Sozialdemokraten verständlicherweise als Abtrünniger geächtet). Zum anderen aber scheint sich die Linke aber auch in der Rolle der zwar nahezu einflusslosen, aber dankbaren Opposition besser zu gefallen denn als undankbares Zünglein an der Waage. Man denke nur an die Auswirkungen der Regierungsbeteiligung in der Hauptstadt, die nach einer Legislaturperiode neben der Halbierung der Wählerschaft zu einer fundamentalen inneren Spaltung führte.

Sollte sich die Partei etablieren, so wird sie unter den demokratischen Parteien vornehmlich der ewig kränkelnden SPD Wähler abspenstig machen. Dies wird entweder zu einer (möglicherweise) dauerhaften Blockade des politischen Systems führen, da weder links noch rechts Mehrheiten zu machen sind. Oder die mit dem Kanzlerinnenbonus gesegneten Christdemokraten und die seit einigen Jahren vor Kraft nur so strotzende FDP werden zusammen doch eine knappe Mehrheit zustande bringen und damit die SPD, die von der Großen Koalition kaum profitiert und der es an attraktiven Führungskräften mangelt aus der Regierungsverantwortung drängen.

Die viel beschworene strukturelle Mehrheit der Linken – etwas mehr als 53% der Sitze im Bundestag verteilen sich momentan auf SPD, Grüne und „DIE LINKE.“ – könnte sich so zugleich zu ihrem Dilemma entwickeln. Ob sie in absehbarer Zeit doch noch zu einer politisch machbaren Mehrheit wird, hängt vornehmlich davon ab, ob und wenn ja wie sich die SPD aus ihrer Dauerkrise befreit und wieder verstärkt modernes sozialdemokratisches, aber dennoch linkes Profil zurückgewinnt. Ansonsten droht eine dauerhafte Etablierung links von der SPD, die neben einer beständigen Lähmung des linken politischen Lagers – leider – recht wenig zur Folge haben wird.

Donnerstag, 21. Juni 2007

"If you hate being emo say yeah"


Es mag eine alte Binsenweisheit sein, dass die Größe eines Konzertes in keinster Weise mit seiner Qualität korrelieren muss. Doch je mehr Konzerte ich sehe, desto weniger glaube ich daran, dass eine gute Atmosphäre jenseits der kritischen Grenze von 500 Zuschauern überhaupt möglich ist. Die kleinen Auftritte in familiärer Atmosphäre und zu einem fairen Preis wie jenes von Jason Anderson, der gestern im ZAKK (dem "Zentrum für ambulante Kritik" und letzter DIY-Bastion in der konservativen Dreiflüssestadt) gastierte, scheinen meine Erfahrung nur zu untermauern. Ein Mann, eine Gitarre, die ganze Klaviatur der Gefühle – und das mit dreißig Menschen. Gleich zu Beginn die Aufforderung, einen Kreis zu bilden, teilzunehmen, mitzusingen, möglichst nah zu sein, um jegliche mögliche Distanz zu verhindern. Was danach folgt sind anderthalb Stunden feinste Musik. Anderson ist independent, aber nicht Indie, emotional, aber nicht Emo. Er schreit, tobt, flüstert, lacht. Neben einem großen Unterhaltungsfaktor vermitteln seine Texte dabei immer auch viel Emotionalität, ohne jedoch zur reinen Pose zu erstarren. Das ganze gipfelt darin, dass die ganze Bagage kollektiv singend das ZAKK verlässt und sich selbst feiernd bis kurz vor Mitternacht die umliegenden Straßen an ihrer Lebensfreude an diesem Mittwochabend teilhaben lässt, einer Botschaft echter unverfälschter Menschlichkeit - "Emo" im besten Sinne eben…

Montag, 18. Juni 2007

Ist das DIE LINKE.?


Seit Samstag gibt es in Deutschland endlich „DIE LINKE.“. Die aus Linkspartei.PDS und WASG (sowie dem trotzkistischen Linksruck, der sich kurzerhand auflöste und geschlossen in die Partei eintrat) hervorgegangene neue Partei zeugt schon im Namen von nicht allzu großer Bescheidenheit. Sich den Namen einer Bewegung zu geben und dahinter auch noch einen Punkt zu setzen ist mehr als anmaßend. Das mag PR-technisch nicht das unklugste sein, jenen aber die links sind, aber nicht „Linke.“ wird die Abgrenzung in Zukunft äußerst schwer fallen. Anmaßend waren auch die meisten Parteitagsreden der Führungsspitze um Lafontaine, Gysi, Bisky und Ernst. So hält sich meine Begeisterung verständlicherweise auch in Grenzen. Hier fünf zentrale Kritikpunkte an der neuen Partei:

1. Spätestens seit Lafontaine hat sich ein unangenehmer, undifferenzierter Politikstil etabliert, der mit der auf dem Parteitag eingeforderten Glaubwürdigkeit nur schwer zu vereinbaren, dem Image der Linken in Deutschland zudem abträglich ist, die Partei selbst in eine unseriöse, einseitige Oppositionsrichtung führt und linke Mehrheiten in der Bundesrepublik dauerhaft blockieren könnte.

2. Dass Frauen plötzlich in die zweite Reihe gedrängt werden ist seit der Besetzung der Doppelspitze im Bundestag ja nichts neues mehr. Die einst zu fast 55% aus Frauen bestehende PDS hatte schon damals zu Gunsten der eitlen Fraktionsvorsitzenden auf die 50%-Quote verzichtet. Sowieso werden im Führungszirkel der neuen Partei machtbewusste Gewerkschaftsmänner das Sagen haben. Mit ihnen drohen autoritärer Führungsstil und Maßregelungen per Parteischluss, ein innerparteilicher Demokratiezuwachs ist kaum zu erwarten.

3. In welche Richtung sich die Partei entwickelt und in welchem Verhältnis Rhetorik und Politik stehen ist noch völlig undurchschaubar. Während sie in Berlin fröhlich „neoliberal“ regiert, redet der neue Vorsitzende von Verstaatlichung und Vorbildern à la Chavez, sind Vertreter aus Weißrussland, der letzten europäischen Diktatur, eingeladen und ist auch sonst viel die Rede von Sozialismus, gar „Freiheit durch Sozialismus“. Doch mehr als eine Phrase scheint mir jener kaum zu sein.

4. Das Verhältnis der Partei zu sozialen Bewegungen ist äußerst zwiespältig. Gerade von Seiten der ehemaligen WASG bestehen große Vorbehalte. Diese favorisiert eine starke Gewerkschaftsbindung, was jedoch eine Spaltung und Schwächung derselben zur Folge haben könnte.

5. Es besteht die mit Händen zu greifende Gefahr, dass „Die Linke.“ eine antimodernistische Partei des Ressentiments wird, die sich vornehmlich der Ängste in der Bevölkerung bedient und somit das emanzipatorische Element der Linken dauerhaft diskreditieren wird. Mal ganz davon abgesehen, welchen Wert Bezeichnungen wie links oder rechts heute noch besitzen, halte ich es für äußerst fragwürdig, diese Bezeichnung auf die neue Partei anzuwenden - sie erscheint mir vielmehr wie ein grandioser Etikettenschwindel…

Samstag, 16. Juni 2007

Die PDS ist tot.

Es lebe DIE LINKE! Oder auch nicht... Angesichts der heutigen historischen Parteineugründung etwas Nostalgie. Mehr zu der "neuen" Linken demnächst an dieser Stelle.

Donnerstag, 14. Juni 2007

Eins und Alles











Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

(Johann Wolfgang Goethe)

Anmerkungen:

* Überdruß: an individuellem Dasein, von dessen Begrenzheit die folgenden Verse sprechen
** Weltseele/Weltgeist: Der Kampf zwischen Wollen und Sollen von Strophe 1 wird hier in das Innere der Gottnatur selbst verlegt

***farbigen Erden: im Gegensatz zur lichten Sonne ist das Irdische farbig, d.h. nach Goethes Farbenlehre aus Licht und Dunkelheit gemischt

****alles muss in Nichts zerfallen: was am Sein teilhaben will, muss sich der ständigen Umgestaltung unterwerfen und insofern stets neu "in Nichts zerfallen"

Mittwoch, 6. Juni 2007

Tarnation - Leben am Abgrund


„An exuberantly personal work smeared with the lipstick traces from the likes of David Lynch” (L.A. Times)

Tarnation (2004) ist einer der erschütternsten, persönlichsten und außergewöhnlichsten Dokumentarfilme aller Zeiten. Psychotischen Schüben gleich wird der Zuschauer mit dem Leben einer texanischen Familie konfrontiert, in der sich hinter der bürgerlichen Fassade alle nur möglichen menschlichen Katastrophen abspielen. Renee, die Mutter von Jonathan Caouette, Hauptprotagonist und zugleich Regisseur wird von ihrer schizophrenen Mutter missbraucht und geschlagen. Aufgrund ihrer Schönheit wird sie in frühem Alter durch Zufall zu einem bekannten Kindermodel. Diese Karriere endet jedoch nach einem Sturz aus dem Fenster abrupt, sie ist für Monate gelähmt und bekommt auf ärztlichen Rat Elektroschocks versetzt. Der Körper kommt allmählich wieder, aber ihr Geist durchläuft von nun an eine endlose Abwärtsspirale. Als sie später ihren Sohn zur Welt bringt, ist der Vater schon lange verschwunden und der schizophrenen Renee wird recht schnell das Sorgerecht entzogen. Jonathan kommt für einige Jahre in Pflegefamilien, wo er ebenfalls massiven Missbrauch erlebt, bevor ihn schließlich seine nicht minder kranken Großeltern aufnehmen. Eines Tages holt seine Mutter ihn ab, sie möchte mit ihm in Chicago neu anfangen. Am ersten Abend wird die Mutter vor den Augen ihres Sohnes vergewaltigt. Und das ist erst der Anfang.

Der weitere Verlauf beider Geschichten spiegelt sich in den Filmaufnahmen von Jonathan, der schon früh zur Kamera greift und sein Leben dokumentiert. Dabei sind die Bilder gleichermaßen distanzlos – ihm, wie seiner Familie gegenüber. Er will Schauspieler werden, dreht Kurfilme, dokumentiert schonungslos die ihn umgebende kleine Welt. Mit zwölf Jahren spielt er (nur für sich selbst im in Schummerlicht getauchten großelterlichen Bad) vor der Kamera eine vergewaltige Frau. Er spielt sich dabei in Rage, hört nicht auf, bis die Tränen fließen und sich ganz plötzlich einfach alles transzendiert. So ergibt sich in der Retrospektive ein Bild seines Lebens und dem seiner Familie, collagiert aus unzähligen gesammeltem persönlichen, Bildern, Filmausschnitten, persönlichen Super-8, VHS- und Digitalaufnehmen, Fotos und Tonaufnahmen von Anrufbeantwortern. Dabei verzichtet er bewusst auf einen außenstehenden Erzähler. Stattdessen strukturieren immer wieder eingeworfene Texte einen zutiefst tragischen Film, unterlegt von einem wunderbaren Soundtrack, der die abgründigen Bilder perfekt zu kontrastieren versteht.

Gegen Ende des Films ist Jonathan 31 Jahre alt, selbst schwer gezeichnet von dem belastenden Mutter-Sohn-Verhältnis, nahezu am Ende seiner Kräfte und voller Sorge, dass die „Mutter in ihm“ ihn ebenfalls aufzufressen und auszulöschen droht. Tarnation (zu deutsch: „verdammt“) ist eine außergewöhnliche Hommage an eine Mutter, in seiner Form bisher einmalig und setzt Maßstäbe für zukünftige Dokumentarfilme. Durch die Entfremdung des Protagonisten von sich selbst wie vom Betrachter entsteht zugleich eine intime Nähe, die Innen und Außen verschwimmen lässt. Doch trotz der Intimität hinterlässt er den Betrachter verzweifelt, der 91 Minuten lang in eine Welt eintaucht, die er weder ergründen noch verändern kann. Was bleibt sind Ratlosigkeit und viele Fragezeichen. Nicht nur darin erinnert Tarnation an David Lynch, mit dem kleinen aber entscheidenden Unterschied, dass dies alles bestürzende Wirklichkeit ist.

Dienstag, 5. Juni 2007

There's a riot goin on...


…fragt sich nur wofür? Diese Frage stellt sich wohl gerade so mancher angesichts der unschönen Bilder aus Rostock. Innerhalb von nur wenigen Stunden schafften es die berüchtigten Autonomen vom Schwarzen Block, in der Bevölkerung beinahe jegliche Sympathie für den durchaus berechtigten Protest gegen den Gipfel der Großen Acht zu verspielen. Wie schon anno 2001, als es zum tragischen Tod von Carlo Giuliani kam, der von einem Polizisten erschossen wurde, spielten sich Szenen ab, die von einer entfesselten Gewalt auf beiden Seiten zeugen und etwa an die 1000 Verletzte zur Folge hatten. Doch im Gegensatz zu Genua ging die Gewalt gestern eindeutig von den Autonomen aus, die der zunächst äußerst friedlich verlaufenden Demonstration mithilfe von aus dem Asphalt entfernten Pflastersteinen ein Ende bereiteten.

Nicht nur, dass diese Gewalt völlig sinnlos und weitestgehend unpolitisch war (bei einem Großteil der Autonomen herrscht leider ein äußerst diffuses Politikverständnis vor), sie legitimierte innerhalb von Stunden auch die repressive Vorgehensweise des Innenministeriums im Vorfeld von Heiligendamm. Genau solche Bilder, wie sie in den vergangenen Stunden durch alle Medien gingen spielen doch jenen in die Hände, die vordergründig kritisiert werden sollten. Die Taktik der gewalttätigen Protestierer, durch eigene Angriffe der angeblich faschistoiden Staatsmacht die demokratische Maske abzureißen, ist aberwitzig, aber vor allem egoistisch und politisch unklug. Bei aller Kritik ist Deutschland doch immer noch eine Demokratie. Und in einer eben solchen ist es nun mal nicht gerechtfertigt, grundlos gewalttätig zu werden gegen die Staatsmacht. Während alle sozialen Bewegungen dieser Republik ihr Dagegensein im Namen eines prinzipiellen Anspruchs auf Zugehörigkeit formulieren, scheren die Schwarzen mit heroischer Selbstexklusion aus.

Alles was sie damit letztlich erreichen, ist eine ziemlich masochistische Art von Selbstbestätigung, denn in der durchaus harschen Reaktion der Polizei, die vornehmlich die alten Bullenhasser traf, spiegeln sich genau jene Zerrbilder wider, die das Denken der jegliche Staatsmacht ablehnenden Pseudoanarchisten prägen. Gehörig unter die Räder gerieten dabei leider jene ernsthaften Kritiker, die seit Wochen und Monaten fieberhaft auf den zivilgesellschaftlichen Protest gegen den undemokratischen Gipfel hinarbeiteten. Wer stattdessen Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte? Neben den „linken“ Chaoten einige hundert NPDler, die aufgrund des mangelnden Polizeiaufgebots öffentlichkeitswirksam einen spontanen Demonstrationszug durch das Brandenburger Tor veranstalteten. Na wenn das mal nicht ein Erfolg war!

Freitag, 1. Juni 2007

High Fidelity Teil 1: Punk


Dem ein oder anderen dürfte es vielleicht schon aufgefallen sein, dass ich euch seit einiger Zeit in der kleinen Seitenrubrik namens High Fidelity von meinen momentanen Lieblingsplatten in Kenntnis setze. In Zukunft möchte ich diese Rubrik in losen Abständen auf eine gewisse Zeit oder Sparte, einen bestimmten Künstler oder eine bestimmte Band etwas ausführlicher anwenden. Der Anfang gebührt dem Punk. Nun denn: die fünfzehn besten Punksongs, natürlich zutiefst subjektiv und nicht viel mehr als eine verhuschte Momentaufnahme:

15. Minor Threat – Straight edge (1980): DIE Ur-Hardcore- Straight-Edge-Band

14. Fehlfarben – Kebapträume (1980): die vielleicht deutscheste aller Punkbands, Peter Heins Stimme ist sicher Geschmackssache, aber „Monarchie & Alltag“ ein Meilenstein der deutschen Musikgeschichte und Kepabträume sicher einer der am leichtesten missverständlichen Lieder: „Wir sind die Türken von morgen“… (Dazu gibt es bei youtube leider kein passendes Video, nur das obligatorische Ein Jahr, der von der Band ungeliebteste, schlechteste, unpunkigste, aber leider bekannteste Song)

13. Die Goldenen Zitronen – Schorsch und der Teufel (1994): spätestens mit ihrer Politisierung Anfang der Neunziger wurde Punk in Deutschland intelligent und verließ das starre Ufta-Ufta-Schema (hab leider hier auch nicht das passende Video gefunden, aber 0:30 gleiches Ambiente ist auch nicht schlecht)

12. Turbostaat – Drei Ecken, ein Elvers (2001): „Emopunk“ auf deutsch mit intelligenten Texten

11. Ramones – Beat on the brat (1976): kurz, prägnant und natürlich mit dem obligatorischen 1,2,3,4…

10. Sex Pistols – Anarchy in the UK (1977): Sicher keine allzu große Überraschung, aber die Jungs um Johnnie Rotten verkörpern nun mal den kurzen Londoner Frühling, leider alles nur ein großer Rock’n’Roll-Swindle

9. Bad Brains - Pay to cum (1980): grandioser Song der einzigen mir bekannten schwarzen Punk/HC/Reggae-Band

8. Fugazi - Waiting room (1990): diese Auswahl fiel mir sicher am schwersten, da die recht komplexe Postpunkband (hervorgegangen aus Minor Threat) so viele gute Platten herausgebracht hat, und das seit 1988 auf gleich bleibend hohem Niveau! Hab mich letztlich doch für einen alten Klassiker entschieden

7. Cockney Rejects – Oi! Oi! Oi! (1981): mit der Rückbesinnung auf die Ideale begann so vieles, leider auch negatives

6. Rancid – Maxwell murder (1995): das erste Lied auf dem besten Album der besten unter den großen US-Punkbands der Neunziger

5. Dead Kennedys – Viva Las Vegas (1980): herrlich, wie Rock’n’Roll und Punk hier so wunderbar miteinander fusionieren 

4. NoFX – The decline (1999): mit seinen knapp 20 Minuten sicher der längste Punkrocksong der Welt

3. Social Distortion – Trough these eyes (1996): das beste Lied der Band um Mike Ness und meiner bescheidenen Meinung nach der beste Punkrocksong schlechthin (auch wenn ein gewisser Herr R. immer noch behauptet, dass es Punkrock gar nicht geben kann)

2. The Clash – Janie Jones (1977): erster Song, erste Platte, klare Ansage!


1. The Stooges – Raw Power (1973): das gleichnamige Album war so etwas wie die Blaupause für Punk, Iggy als selbstzerstörererischer Berserker auf der Bühne tat sein übriges zu einem ziemlich (im wahrsten Sinne des Wortes) gewaltigen Gesamteindruck – unerreicht. (Grade für das beste gab es kein gescheites Video, aber Search and Destroy ist fast so gut.)

G8 - wozu?


Seit Wochen bestimmen die Vorbereitungen auf das Gipfeltreffen der großen Industrienationen in der beschaulichen „weißen Stadt“ (die ich zufälligerweise letzten Sommer besuchte) an der Ostsee das politische Tagesgeschehen und die journalistische Berichterstattung. Und mit jedem Tag fällt es mir schwerer, noch einen Sinn darin zu erkennen. Als Altkanzler Helmut Schmidt und seine damaligen Kollegen Mitte der Siebziger, ausgelöst durch die Ölkrise, sich zum ersten Mal abseits von den üblichen politischen Veranstaltungen zusammensetzten, hatten diese Treffen noch den informellen Charakter eines Kamingesprächs und waren dementsprechend relativ erfolgreich. Davon kann heute keine Rede mehr sein: uns erwartert stattdessen ein aufgeblasenes, viel zu teures Medienspektakel, zu dem die Regierungschefs mit einem gigantischen Stab an Mitarbeitern und Beratern anreisen, und das nicht nur zur Aushöhlung von Grundrechten zu führen scheint, sondern obendrein auch noch – wie die Jahre zuvor – aller Aussicht nach reichlich ergebnislos verlaufen wird. Stattdessen wird es wie immer viel Symbolik geben, die den Kritikern der marktliberalen Globalisierung viel Angriffsfläche bietet und den üblichen Verdächtigen wie Bono, Grönemeyer, Campino & Co. eine Bühne bietet, um ihr Gutmenschentum in vollen Zügen ausleben zu können.

Hinzu kommt, dass es sich bei dieser ganzen Angelegenheit um eine alles andere als demokratische und zudem rein weiße Veranstaltung handelt, bei der mal wieder (zur Beruhigung des schlechten Gewissens) mit Vorliebe paternalistisch über die ach so armen, hilfsbedürftigen Afrikaner geredet wird. Dass an einem Tag wenige afrikanische Regierungschefs, so Merkel "vorgeladen" werden, macht die Sache letztendlich auch nicht unbedingt legitimer. Der Erfolg vergangener G8-Gipfel, die Afrika thematisierten, spricht für sich. Wem nützt also dieser alles andere als zeitgemäße G8-Gipfel? Den neurotischen Profilierungssüchten der großen Acht, die sich damit selbst vergewissern können, immer noch die Geschicke dieser Welt zu bestimmen? Dem angeblichen Souverän bestimmt nicht. Deshalb plädiere ich für die sofortige Abschaffung dieser unnötigen und politisch fragwürdigen Veranstaltung!