Sonntag, 25. September 2016

Der Anhalter



Heinrich Kurzrock sagt, er befinde sich auf seiner letzten Reise. Zu Dignitas in Zürich, einem Sterbehilfeverein. Er habe Knochenkrebs im Endstadium. Die Reporter Stephan Beuting und Sven Preger haben ihn am Kölner Verteilerkreis mitgenommen. Entstanden ist daraus ein packendes Hörspiel-Feature der Tiefenblick-Reihe im WDR5.

Seit 40 Jahren trampt Anhalter Heinrich durch Deutschland. Seine Lebensgeschichte hat er dabei schon vielen Menschen erzählt. Sie klingt tragisch: die jüdischen Eltern seien nach dem Krieg ermordet worden, Heinrich schon als Säugling in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen. Die Kindheit: geprägt von schlagenden, demütigenden und strafenden Nonnen. Als Erwachsener sei er dann nie wieder auf die Beine gekommen, habe sich keine bürgerliche Existenz aufgebaut. Es folgten Aufenthalte im Knast und ein Leben auf der Straße, dem er nun ein Ende setzen wolle. Er könne einfach nicht mehr. Auch weil er Knochenkrebs im Endstadium habe - und einen nicht mehr operierbaren Gehirntumor. Zum Beweis zeigt er auf die dicke Beule an seiner Stirn, die er mit einer Mütze zu verdecken pflegt.

Doch stimmt das wirklich? Preger trifft ihn im Oktober 2013 am Verteilerkreis, sein Kollege Beuting ein Jahr später - und beide Male ist er auf dem Weg nach Zürich. Wie kann das sein? Die Reporter sind skeptisch, doch die Geschichte lässt die beiden nicht mehr los. Sie beginnen zu recherchieren - und finden Heinrich nach zehn Wochen schließlich. Aber nicht in Zürich, sondern in Deutschland, er wirkt dabei ziemlich lebendig. Über ein Jahr begleiten sie ihn. Und schnell wird klar: Nicht alles, was Heinrich erzählt ist wahr. In den Jahren auf der Straße hat der Anhalter gelernt, wie er die Menschen zum Zuhören bringt: Indem er es bisweilen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.

Ein geschlossenes System aus Angst und Gewalt

Vieles aber erweist sich als richtig: Die schlimme Kindheit im St. Johannes-Stift in Marsberg etwa, der die Reporter mithilfe von Heinrich auf die Spur kommen. Für die Nonnen des Stifts stand  in den 50er- und 60er-Jahren weniger das Kindeswohl im Mittelpunkt. Ihnen ging es um Ruhe und Ordnung - und beides wurde mit brachialer Gewalt durchgesetzt. Wenig davon drang bisher nach außen. Die Anstalt war ein geschlossenes System, in dem die Angst regierte. Heute ist der St. Johannes-Stift eine moderne Einrichtung. Doch die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Heinrich stellt sich dieser dunklen Kindheitserinnung. Der Anhalter bekommt Einsicht in seine Akte. Ein Beweis, dass dieser Teil seiner Lebensgeschichte nicht erflunktert ist.

Immer dabei auf der Reise durch Heinrichs Leben: Zigaretten und Kaffee. Der 66-Jährige lebt von Kippen, Kaffee und der Stütze. Und wohnt eigentlich gar nicht mehr auf der Straße. Auf der Erlacher Höhe bei Backnang hat der Anhalter inzwischen ein Zimmer. Er nennt es "seine Zelle".

In fünf Mal 30 Minuten kommen die beiden WDR-Reporter Heinrich Kurzrock ziemlich nahe. Sie entdecken dabei auch die wahre Geschichte seiner Familie. Doch weil Heinrich nichts davon wissen möchte, erfährt auch der Zuhörer keine Details. "Der Anhalter" ist ein sehr ehrliches Porträt, das einen gescheiterten, sehr schwierigen Menschen mit all seinen Widersprüchen zeigt. Und das ein dunkles, lange tabuisiertes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte thematisiert: die unmenschlichen Bedingungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit deren Folgen die Betroffenen ein Leben lang zu kämpfen haben.  

Das ganze Hörspiel ist als Podcast auf der Homepage des Radiosenders. Eine kurze Zusammenfassung mit Videoausschnitten von Heinrich gibt es hier.

Nachtrag (3.5.17): Mittlerweile ist ein Porträt von Heinrich Kurzrock in der Lokalzeitung erschienen.

Bild: Screenshot von der WDR-Homepage

Freitag, 9. September 2016

Impressionen No. XLIV: Risse

 
Ein Abriss.

 
"Hier sitzt die Wut".

 Private Matters should matter.

Der schönste Vandalismus.

1816: Das Jahr ohne Sommer


Es war der größte Vulkanausbruch der Neuzeit. Als vor 200 Jahren in Indonesien der Tambora explodierte, hatte das auch auf in Württemberg dramatische Auswirkungen. Doch die Naturkatastrophe gab zugleich den Anstoß für die Modernisierung des Königreichs.

Eine gigantische Eruption erfasste die Erde, als auf der indonesischen Insel Sumbawa am 5. April 1815 der Vulkan Tambora ausbrach. Zehn Tage lang spuckte der Vulkan heiße Lava. Eine riesige Aschewolke stieg auf in den Himmel. Der Ascheregen war so umfangreich, die Menge an Aerosolen so gewaltig, dass sie sich 30 Kilometer hoch in die Atmosphäre ausbreiteten, einen Großteil der Sonnenstrahlung abschirmten und einen drei Jahre dauernden globalen vulkanischen Winter verursachten.

Am 15. April war der Ausbruch vorbei und der einst 4300 Meter hohe Berg maß nur noch 2850 Meter. Es war der größte Vulkanausbruch der Neuzeit. Von den 70 000 Einwohnern der Insel Sumbawa überlebten nur wenige.

Der große Hunger

Mit einem Jahr Verzögerung erreichte die Asche Europa – die Auswirkungen waren dramatisch: 1816 gilt als das kälteste und dunkelste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es ging in die Geschichte ein als das „Jahr ohne Sommer“. In Mitteleuropa war es um 1,4 Grad kühler als im Durchschnitt. Besonders stark betroffen war Süddeutschland, das unter starkem Regen, niedrigen Temperaturen und dem Wegbleiben der Sonne zu leiden hatte. Das führte zu Ernteausfällen und einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise.

Eine große Hungersnot grassierte im Südwesten, der bereits in den Jahren zuvor unter feuchten und kalten Sommern zu leiden hatte. Die dramatische Klimaveränderung traf das Land zudem nach zwei Jahrzehnten auszehrender Napoleonischer Kriege. Viele landeten im Armenhaus – oder wanderten aus.

Besonders notleidend waren die Wengerter, die über wenig oder gar kein Ackerland verfügten. Die Grundnahrungsmittel hatten sie sich mit den Erlösen aus dem Weinverkauf teuer auf dem Fruchtmarkt zu erkaufen. Fehlte der Herbstertrag, so fehlten auch die Mittel, sich zu ernähren.

In Erwartung des Weltuntergangs

Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand von den wahren Ursachen des Sommer-Ausfalls. 1816/17 stieg die Auswanderung aus dem Südwesten stark an. Im Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt sind die Namen jener Auswanderer dokumentiert, die eine Bürgerrechtsverzichtserklärung unterschrieben. Viele verließen das Land jedoch, ohne sich abzumelden – oftmals mit hohen Schulden.

Manchen Auswanderer trieb nicht nur die pure Not in die Migration. Viele Pietisten sahen in der Hungersnot ein Vorzeichen für das nahende Ende der Welt. Bestärkt wurde diese Sichtweise durch die Prophezeiungen des 1687 in Winnenden geborenen Theologen Johann Albrecht Bengel. Der Erbauungsschriftsteller hatte die Wiederkunft Jesu für das Jahr 1836 vorausgesagt. Johann Michael Hahn, Gründer der Hahn’schen Gemeinschaft, predigte die bevorstehende Apokalypse.

Die Hungersnot betrachteten die Pietisten auch als göttliche Strafe für die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die Aufklärung mit sich brachte. Die Auswanderungsbewegungen in Richtung Kaukasus, vor allem Bessarabien, hatten darum oftmals einen religiösen Hintergrund. Bei der Wiederkehr Christi wollten die Pietisten dem Heiligen Land möglichst nahe sein. Und da Reisen nach Palästina zu dieser Zeit fast unmöglich waren, gab man sich eben mit der Ansiedlung am Schwarzen Meer zufrieden.

Die Modernisierung Württembergs

Der Vulkanausbruch machte die Rückständigkeit des Südwestens schmerzhaft offensichtlich. Die Tragödie war zugleich Beginn einer landwirtschaftlich-technischen Revolution im Armenhaus Württemberg. Wilhelm I. übernahm im Oktober des Schicksalsjahrs 1816 die Herrschaft über das Königreich. Zusammen mit seiner Frau, der russischen Zarentochter Katharina Pawlowna, betrieb er die Modernisierung des rückständigen Südwestens.

Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutete das vor allem, mit neuer Technik und modernen Produktionsmethoden massiv in die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu investieren. Gegen den grassierenden Hunger gab Wilhelm die Kornspeicher frei, verbot Exporte und führte den Anbau von Kartoffeln und Zuckerrüben ein. Am 1. Januar 1818 erfolgte die Abschaffung der Leibeigenschaft.

Im November desselben Jahres wurde dann die landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt gegründet, die heutige Universität Hohenheim. Erster Direktor war Johann Nepomuk Schwerz, dessen Hauptanliegen es war, die Feldarbeit der Bauern zu erleichtern. Schwerz gilt heute als einer der Väter der modernen Landwirtschaft.

Im selben Jahr erfolgte auch die feierliche Eröffnung des „landwirtschaftlichen Festes in Kannstadt“, aus dem das heutige Volksfest hervorging. Hier sollten sich die Bauern austauschen, um sich mit dem neusten Wissen in Sachen Anbau- und Erntetechniken vertraut zu machen. Die Fruchtsäule auf dem Wasen kündet heute noch von seiner Geschichte.

1818 war auch das Gründungsjahr der Württembergischen Landessparkasse und des Landeswohltätigkeitsvereins. Beides entstand auf Initiative der Königin, um den Württembergern den Weg in die Selbstständigkeit zu ermöglichen.

Die besonnene Regentschaft Wilhelm I. sollte den Grundstein legen für den späteren Aufstieg Württembergs. Doch bis dahin sollte das 19. Jahrhundert noch manche Bitterkeit für die Bevölkerung bereithalten.

(Eine andere Version dieses Textes erschien bereits im April 2015 in der Waiblinger Kreiszeitung)

Photo credit: NASA Johnson via Visual Hunt / CC BY-NC


Sonntag, 4. September 2016

Christian Rottler: Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr


Für einen kurzen Abend kehrte der Schriftsteller Marcel Proust zurück ins legendäre Stuttgarter Café Weiß. Am 31. August 2016 hatte Christian Rottlers Hörspiel "Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr" im SWR2 Premiere. Mit Texten und Musik zum Hörspiel feierten Joe Bauer, Nicole Heidrich, Christian Rottler und seine Band Lenin Riefenstahl am 23. August schon mal vor. Das Video gibt einen kleinen Einblick in den literarisch-musikalischen Abend.

Worum es bei dem Hörspiel geht, wer Christian Rottler überhaupt ist und warum sich die Auseinandersetzung mit diesem Künstler definitiv lohnt, erklärt hier Kollege Peter Schwarz.