Montag, 26. Dezember 2016

Montag, 12. Dezember 2016

Wir Sklavenhalter

Ausbeutung und Sklaverei sind deutscher Alltag - in Schlachthäusern (worauf ich bereits vor zwei Jahren hingewiesen hatte), der häuslichen Pflege, auf dem Bau oder im Rotlichtmilieu, wie diese ARD-Doku zeigt:


Sonntag, 30. Oktober 2016

Donnerstag, 20. Oktober 2016

Mixtape No. 11: Love and Betrayal

1. D'Angelo & The Vanguard - Betray my heart (2014)
2. Skepta - Freestyle feat. JME (2016)
3. Mykki Blanco - Highschool never ends (2016)
4. Clipping - A better place (2016)
5. Nick Cave and The Bad Seeds - Push the sky away (2013)
6. Blood Orange - Hadron Collider (2016)
7. Benjamin Clementine - London (2015)
8. Charles Mingus - Memories of you (1963)
9. Leszek Możdżer - Etude op. 25 no. 4. (2010)
10. Mark Hollis - The gift (1998)
11. Tindersticks - Like only lovers can (2016)

Und hier das Mixtape als Youtube-Playlist.


Dienstag, 4. Oktober 2016

Marschliedchen

Ihr und die Dummheit zieht in Viererreihen
In die Kasernen der Vergangenheit
Glaubt nicht, dass wir uns wundern, wenn ihr schreit
Denn was ihr denkt und tut, das ist zum Schreien

Ihr kommt daher und lasst die Seele kochen
Die Seele kocht und die Vernunft erfriert
Ihr liebt das Leben erst, wenn ihr marschiert
Weil dann gesungen wird und nicht gesprochen

Marschiert vor Prinzen, die erschüttert weinen:
Ihr findet doch nur als Parade statt!
Es heißt ja: Was man nicht im Kopfe hat,
Hat man gerechterweise in den Beinen

Ihr liebt den Hass und wollt die Welt dran messen
Ihr werft dem Tier im Menschen Futter hin
Damit es wächst, das Tier tief in euch!
Das Tier im Menschen soll den Menschen fressen

Ihr möchtet auf den Trümmern Rüben bauen
Und Kirchen und Kasernen wie noch nie
Ihr sehnt euch heim zur alten Dynastie
Und möchtet Fideikommißbrot kauen

Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärts drehen
Und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf
Dreht an der Uhr! Die Zeit hält niemand auf!
Nur eure Uhr wird nicht mehr richtig gehen

Wie ihr's euch träumt, wird Deutschland nie erwachen
Denn ihr seid dumm und seid nicht auserwählt
Die Zeit wird kommen, da man sich erzählt:
Mit diesen Leuten war kein Staat zu machen!

(Erich Kästner, 1932)

Sonntag, 25. September 2016

Der Anhalter



Heinrich Kurzrock sagt, er befinde sich auf seiner letzten Reise. Zu Dignitas in Zürich, einem Sterbehilfeverein. Er habe Knochenkrebs im Endstadium. Die Reporter Stephan Beuting und Sven Preger haben ihn am Kölner Verteilerkreis mitgenommen. Entstanden ist daraus ein packendes Hörspiel-Feature der Tiefenblick-Reihe im WDR5.

Seit 40 Jahren trampt Anhalter Heinrich durch Deutschland. Seine Lebensgeschichte hat er dabei schon vielen Menschen erzählt. Sie klingt tragisch: die jüdischen Eltern seien nach dem Krieg ermordet worden, Heinrich schon als Säugling in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gekommen. Die Kindheit: geprägt von schlagenden, demütigenden und strafenden Nonnen. Als Erwachsener sei er dann nie wieder auf die Beine gekommen, habe sich keine bürgerliche Existenz aufgebaut. Es folgten Aufenthalte im Knast und ein Leben auf der Straße, dem er nun ein Ende setzen wolle. Er könne einfach nicht mehr. Auch weil er Knochenkrebs im Endstadium habe - und einen nicht mehr operierbaren Gehirntumor. Zum Beweis zeigt er auf die dicke Beule an seiner Stirn, die er mit einer Mütze zu verdecken pflegt.

Doch stimmt das wirklich? Preger trifft ihn im Oktober 2013 am Verteilerkreis, sein Kollege Beuting ein Jahr später - und beide Male ist er auf dem Weg nach Zürich. Wie kann das sein? Die Reporter sind skeptisch, doch die Geschichte lässt die beiden nicht mehr los. Sie beginnen zu recherchieren - und finden Heinrich nach zehn Wochen schließlich. Aber nicht in Zürich, sondern in Deutschland, er wirkt dabei ziemlich lebendig. Über ein Jahr begleiten sie ihn. Und schnell wird klar: Nicht alles, was Heinrich erzählt ist wahr. In den Jahren auf der Straße hat der Anhalter gelernt, wie er die Menschen zum Zuhören bringt: Indem er es bisweilen mit der Wahrheit nicht so genau nimmt.

Ein geschlossenes System aus Angst und Gewalt

Vieles aber erweist sich als richtig: Die schlimme Kindheit im St. Johannes-Stift in Marsberg etwa, der die Reporter mithilfe von Heinrich auf die Spur kommen. Für die Nonnen des Stifts stand  in den 50er- und 60er-Jahren weniger das Kindeswohl im Mittelpunkt. Ihnen ging es um Ruhe und Ordnung - und beides wurde mit brachialer Gewalt durchgesetzt. Wenig davon drang bisher nach außen. Die Anstalt war ein geschlossenes System, in dem die Angst regierte. Heute ist der St. Johannes-Stift eine moderne Einrichtung. Doch die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen. Heinrich stellt sich dieser dunklen Kindheitserinnung. Der Anhalter bekommt Einsicht in seine Akte. Ein Beweis, dass dieser Teil seiner Lebensgeschichte nicht erflunktert ist.

Immer dabei auf der Reise durch Heinrichs Leben: Zigaretten und Kaffee. Der 66-Jährige lebt von Kippen, Kaffee und der Stütze. Und wohnt eigentlich gar nicht mehr auf der Straße. Auf der Erlacher Höhe bei Backnang hat der Anhalter inzwischen ein Zimmer. Er nennt es "seine Zelle".

In fünf Mal 30 Minuten kommen die beiden WDR-Reporter Heinrich Kurzrock ziemlich nahe. Sie entdecken dabei auch die wahre Geschichte seiner Familie. Doch weil Heinrich nichts davon wissen möchte, erfährt auch der Zuhörer keine Details. "Der Anhalter" ist ein sehr ehrliches Porträt, das einen gescheiterten, sehr schwierigen Menschen mit all seinen Widersprüchen zeigt. Und das ein dunkles, lange tabuisiertes Kapitel der deutschen Nachkriegsgeschichte thematisiert: die unmenschlichen Bedingungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, mit deren Folgen die Betroffenen ein Leben lang zu kämpfen haben.  

Das ganze Hörspiel ist als Podcast auf der Homepage des Radiosenders. Eine kurze Zusammenfassung mit Videoausschnitten von Heinrich gibt es hier.

Nachtrag (3.5.17): Mittlerweile ist ein Porträt von Heinrich Kurzrock in der Lokalzeitung erschienen.

Bild: Screenshot von der WDR-Homepage

Freitag, 9. September 2016

Impressionen No. XLIV: Risse

 
Ein Abriss.

 
"Hier sitzt die Wut".

 Private Matters should matter.

Der schönste Vandalismus.

1816: Das Jahr ohne Sommer


Es war der größte Vulkanausbruch der Neuzeit. Als vor 200 Jahren in Indonesien der Tambora explodierte, hatte das auch auf in Württemberg dramatische Auswirkungen. Doch die Naturkatastrophe gab zugleich den Anstoß für die Modernisierung des Königreichs.

Eine gigantische Eruption erfasste die Erde, als auf der indonesischen Insel Sumbawa am 5. April 1815 der Vulkan Tambora ausbrach. Zehn Tage lang spuckte der Vulkan heiße Lava. Eine riesige Aschewolke stieg auf in den Himmel. Der Ascheregen war so umfangreich, die Menge an Aerosolen so gewaltig, dass sie sich 30 Kilometer hoch in die Atmosphäre ausbreiteten, einen Großteil der Sonnenstrahlung abschirmten und einen drei Jahre dauernden globalen vulkanischen Winter verursachten.

Am 15. April war der Ausbruch vorbei und der einst 4300 Meter hohe Berg maß nur noch 2850 Meter. Es war der größte Vulkanausbruch der Neuzeit. Von den 70 000 Einwohnern der Insel Sumbawa überlebten nur wenige.

Der große Hunger

Mit einem Jahr Verzögerung erreichte die Asche Europa – die Auswirkungen waren dramatisch: 1816 gilt als das kälteste und dunkelste Jahr seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Es ging in die Geschichte ein als das „Jahr ohne Sommer“. In Mitteleuropa war es um 1,4 Grad kühler als im Durchschnitt. Besonders stark betroffen war Süddeutschland, das unter starkem Regen, niedrigen Temperaturen und dem Wegbleiben der Sonne zu leiden hatte. Das führte zu Ernteausfällen und einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise.

Eine große Hungersnot grassierte im Südwesten, der bereits in den Jahren zuvor unter feuchten und kalten Sommern zu leiden hatte. Die dramatische Klimaveränderung traf das Land zudem nach zwei Jahrzehnten auszehrender Napoleonischer Kriege. Viele landeten im Armenhaus – oder wanderten aus.

Besonders notleidend waren die Wengerter, die über wenig oder gar kein Ackerland verfügten. Die Grundnahrungsmittel hatten sie sich mit den Erlösen aus dem Weinverkauf teuer auf dem Fruchtmarkt zu erkaufen. Fehlte der Herbstertrag, so fehlten auch die Mittel, sich zu ernähren.

In Erwartung des Weltuntergangs

Zu diesem Zeitpunkt wusste noch niemand von den wahren Ursachen des Sommer-Ausfalls. 1816/17 stieg die Auswanderung aus dem Südwesten stark an. Im Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt sind die Namen jener Auswanderer dokumentiert, die eine Bürgerrechtsverzichtserklärung unterschrieben. Viele verließen das Land jedoch, ohne sich abzumelden – oftmals mit hohen Schulden.

Manchen Auswanderer trieb nicht nur die pure Not in die Migration. Viele Pietisten sahen in der Hungersnot ein Vorzeichen für das nahende Ende der Welt. Bestärkt wurde diese Sichtweise durch die Prophezeiungen des 1687 in Winnenden geborenen Theologen Johann Albrecht Bengel. Der Erbauungsschriftsteller hatte die Wiederkunft Jesu für das Jahr 1836 vorausgesagt. Johann Michael Hahn, Gründer der Hahn’schen Gemeinschaft, predigte die bevorstehende Apokalypse.

Die Hungersnot betrachteten die Pietisten auch als göttliche Strafe für die gesellschaftlichen Umwälzungen, die die Aufklärung mit sich brachte. Die Auswanderungsbewegungen in Richtung Kaukasus, vor allem Bessarabien, hatten darum oftmals einen religiösen Hintergrund. Bei der Wiederkehr Christi wollten die Pietisten dem Heiligen Land möglichst nahe sein. Und da Reisen nach Palästina zu dieser Zeit fast unmöglich waren, gab man sich eben mit der Ansiedlung am Schwarzen Meer zufrieden.

Die Modernisierung Württembergs

Der Vulkanausbruch machte die Rückständigkeit des Südwestens schmerzhaft offensichtlich. Die Tragödie war zugleich Beginn einer landwirtschaftlich-technischen Revolution im Armenhaus Württemberg. Wilhelm I. übernahm im Oktober des Schicksalsjahrs 1816 die Herrschaft über das Königreich. Zusammen mit seiner Frau, der russischen Zarentochter Katharina Pawlowna, betrieb er die Modernisierung des rückständigen Südwestens.

Anfang des 19. Jahrhunderts bedeutete das vor allem, mit neuer Technik und modernen Produktionsmethoden massiv in die Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion zu investieren. Gegen den grassierenden Hunger gab Wilhelm die Kornspeicher frei, verbot Exporte und führte den Anbau von Kartoffeln und Zuckerrüben ein. Am 1. Januar 1818 erfolgte die Abschaffung der Leibeigenschaft.

Im November desselben Jahres wurde dann die landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt gegründet, die heutige Universität Hohenheim. Erster Direktor war Johann Nepomuk Schwerz, dessen Hauptanliegen es war, die Feldarbeit der Bauern zu erleichtern. Schwerz gilt heute als einer der Väter der modernen Landwirtschaft.

Im selben Jahr erfolgte auch die feierliche Eröffnung des „landwirtschaftlichen Festes in Kannstadt“, aus dem das heutige Volksfest hervorging. Hier sollten sich die Bauern austauschen, um sich mit dem neusten Wissen in Sachen Anbau- und Erntetechniken vertraut zu machen. Die Fruchtsäule auf dem Wasen kündet heute noch von seiner Geschichte.

1818 war auch das Gründungsjahr der Württembergischen Landessparkasse und des Landeswohltätigkeitsvereins. Beides entstand auf Initiative der Königin, um den Württembergern den Weg in die Selbstständigkeit zu ermöglichen.

Die besonnene Regentschaft Wilhelm I. sollte den Grundstein legen für den späteren Aufstieg Württembergs. Doch bis dahin sollte das 19. Jahrhundert noch manche Bitterkeit für die Bevölkerung bereithalten.

(Eine andere Version dieses Textes erschien bereits im April 2015 in der Waiblinger Kreiszeitung)

Photo credit: NASA Johnson via Visual Hunt / CC BY-NC


Sonntag, 4. September 2016

Christian Rottler: Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr


Für einen kurzen Abend kehrte der Schriftsteller Marcel Proust zurück ins legendäre Stuttgarter Café Weiß. Am 31. August 2016 hatte Christian Rottlers Hörspiel "Proust ist mein Leben, doch es langweilt mich sehr" im SWR2 Premiere. Mit Texten und Musik zum Hörspiel feierten Joe Bauer, Nicole Heidrich, Christian Rottler und seine Band Lenin Riefenstahl am 23. August schon mal vor. Das Video gibt einen kleinen Einblick in den literarisch-musikalischen Abend.

Worum es bei dem Hörspiel geht, wer Christian Rottler überhaupt ist und warum sich die Auseinandersetzung mit diesem Künstler definitiv lohnt, erklärt hier Kollege Peter Schwarz.

Mittwoch, 31. August 2016

Mixtape No. 10: A quick one


1. Radiohead - Burn the witch (2016)
2. Pixies - The Happening (1990)
3. Steve Gunn - Ancient Jules (2016)
4. The Who - A Quick One (While He's Away) (1969)
5. The Kinks - Rainy Day In June (1966)
6. Georges Moustaki - Voyage (1969)
7. Talk Talk - I Believe in You (1988)
8. Talkin Heads - A clean break (1982)
9. Richard & Linda Thompson - Shoot out the lights (1982)
10. Motorpsycho - The other fool (2000)
11. Can - Vitamin C (1972)

und hier gibt es das gesamte Mixtape als Youtube-Playlist.


Wenn der Schrecken daheim zur Flucht nach Europa treibt



Patrick Kingsley führt in seiner Reportage "Die neue Odyssee" eindrucksvoll vor Augen, dass die Menschen nicht zu stoppen sind.

Gleich zwei Meere, heißt es, umgeben Libyen: die Sahara und das Mittelmeer. Und in beiden lauert der Tod. Seitdem die Balkanroute versperrt ist, kommen wieder mehr Menschen auf der Flucht nach Europa über das kriegsgebeutelte Land. Weshalb sie diesen gefährlichen Weg auf sich nehmen, erzählt Patrick Kingsley in seinem Buch „Die neue Odyssee“. Es ist eine der bisher umfassendsten Reportagen zur Flüchtlingskrise.

Kingsley ist viel gereist für seine Recherche. Ermöglicht hat ihm das seine außergewöhnliche Position als Migrationskorrespondent beim „Guardian“. Bevor die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 ihren Höhepunkt erreichte, schuf die britische Tageszeitung diese Stelle. 17 Länder auf drei Kontinenten hat der britische Journalist besucht und trifft dabei libysche Schlepper, die zu reichen Männern wurden, verzweifelte Mütter, die auf ihrem Weg nach Europa den Tod nicht scheuen und Helfer, die sie aus den überfüllten Booten im Mittelmeer retten. Der 27-Jährige begleitet Flüchtlinge auf der gerade entstehenden Balkanroute, dokumentiert die dramatischen Veränderungen im Herbst 2015 und die überhastete Reaktion der Europäer.

Krieg, Folter und Flucht

Vor allem aber schreibt Kingsley über den 40-jährigen Syrer Haschem al Souki. Seine Geschichte steht exemplarisch für das Schicksal vieler Flüchtlinge. Bevor die Bomben auf seine Heimat fallen, führt al Souki mit seiner Frau und seinen drei Kindern ein normales bürgerliches Leben. Die Familie hat ein Haus und er eine gute Arbeit beim Wasserverband, wo er Rechnungen für die Bewohner von Damaskus erstellt. Doch als der Krieg beginnt bricht seine Existenz zusammen. Grundlos bringen ihn Assads Schergen hinter Gittern. Dort wird al Souki gefoltert und kommt erst nach Monaten wieder frei. Doch der Krieg rückt immer näher an die Hauptstadt und zerstört schließlich das Haus der Familie.

Das ist der Beginn einer dreijährigen Odyssee, die ihn und seine Familie zunächst nach Ägypten führt, wo sie am Rande der Gesellschaft leben. Als dort die Situation für Syrer zunehmend gefährlich und prekär wird, entscheidet er sich für die riskante und teure Fahrt übers Mittelmeer. Immer wieder scheitert der Versuch. Nur durch einen glücklichen Zufall entgeht er dabei einem schlimmen Schiffsunglück und schafft es nach vielen Anläufen tatsächlich – wenn auch zunächst ohne Familie – in sein Sehnsuchtsziel Schweden. Kingsley begleitet ihn auf seiner Flucht quer durch Europa.

Illusionen der europäischen Politik

Der britische Journalist verwebt die Geschichte von Haschem al Souki mit den Berichten aus Nordafrika, dem Nahen Osten und der Balkanroute zu einer großen Reportage. Empathisch reflektiert Kingsley die Situation der Flüchtenden – und macht dabei Illusionen der europäischen Politik sichtbar: Die Schlepper mögen den Profit im Blick haben, doch für viele Menschen sind sie der einzige Weg nach Europa. Repressive Maßnahmen werden sie nicht aufhalten. Auch die Bekämpfung der Fluchtursachen vor Ort wird keine schnelle Lösung bringen. Wenn sich die Länder entwickeln, werden zunächst mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. Weil sie es sich dann leisten können. Und ihre Not letztlich immer noch stärker ist als unsere Abschreckung. Wer sein Leben aufs Spiel setzt, hat nichts mehr zu verlieren. Wir können daher nur zwischen geordneter oder chaotischer Einwanderung wählen. Verhindern lässt sie sich nicht.

Kingsley, Patrick: Die neue Odyssee, C.H. Beck, 2016, 332 Seiten 

(Dieser Text ist am 26. August bereits in der Stuttgarter Zeitung erschienen)

Sonntag, 31. Juli 2016

Ilija Trojanow und die versteckte Poesie des Sports



Dopingaffären, Leistungsdruck und die Sucht nach Rekorden haben dem Sport seine Schönheit genommen. Ilija Trojanow hat vier Jahre intensiven Sports hinter sich, und über diese Strapazen ein Buch geschrieben. Er findet, ein Sprichwort der Lakota zitierend: „Wer dreimal hintereinander gewinnt, ist ein schlechter Mensch.“ 

Der olympische Gedanke sei dem Kult des Siegens zum Opfer gefallen, meint Trojanow.  Als er im Fernsehen die Olympischen Spiele in London sah, habe er das Gefühl gehabt, das Wesentliche des jeweiligen Sports zu verpassen. Er beschloss, die Rolle des passiven Zuschauers zu verlassen und setzte sich das Ziel innerhalb von vier Jahren mindestens halb so gut zu sein wie der olympische Sieger der jeweiligen Disziplin.

In den folgenden vier Jahren wird der Schriftsteller vom Voyeur zum sich selbst beobachtenden Akteur, stürzt sich euphorisch in achtzig olympische Disziplinen und erlebt dabei Momente der Selbstüberwindung und der Selbsterkenntnis. Trojanow lässt sich während seiner eigenen Olympiade in der Halbwelt Brooklyns durch den Ring prügeln, reist zum Judo-Training nach Japan, zieht im Londoner Velodrom rasante Bahnrad-Bahnen und läuft Langstrecke im Hochland von Kenia.

Aus dem anmaßenden Vorhaben ist schließlich ein äußerst amüsantes Buch geworden: „Meine Olympiade“. Doch warum tut sich ein Schriftsteller so was an? „Ich finde nur das im Leben interessant, bei dem ich nicht weiß, ob ich es schaffe“, erklärte Trojanow unlängst bei einer Lesung im Literaturhaus Stuttgart. 

Schwitzende Männerkörper

Dabei erzählte er auch begeistert von seiner vielleicht schönsten Erfahrung auf dem Parforceritt durch die olympischen Disziplinen: dem Ringen im Iran. Wenn schwitzende Männerkörper sich in inniger Umarmung befinden, zieht das dort Massen in die Stadien. Ringen ist Volksport in der Islamischen
Republik. Die Jahrtausende alte Disziplin wirkt grobschlächtig. „Doch zwischen den Ringern kommt es zu einer fast zärtlichen Verbrüderung.“ Eine überraschende Erkenntnis, die Trojanow überkommt,
als er – Schulter an Schulter, Kopf an Kopf – in einem Teheraner Innenhof mit seinem Gegenüber ringt. Dabei war das doch sein größtes Bedenken: ob er die schwitzige Nähe eines Fremden überhaupt ertragen könne.

Respektvoll nähert sich Trojanow auch den anderen Disziplinen und ihren Protagonisten. Dabei gelingt es ihm, Herausforderung und Faszination der jeweiligen Sportart herauszuarbeiten. Bei aller Verschiedenheit entdeckt er aber auch das Gemeinsame: Menschen, die im Sport mehr sehen als nur die profane körperliche Ertüchtigung. Für die der Sport Lebenssinn ist und die ihn vielmehr als Wissenschaft, als Kunst, gar als Religion betrachten. 

Auch das Schreiben habe einen sportlichen Aspekt, erklärte Trojanow. Jeder Satz sei aufs Neue ein Ringen mit sich selbst. Doch während der Sportler die meiste Zeit des Jahres für Wettkämpfe nurtrainiere, befinde sich der Schriftsteller jeden Tag im Wettkampfmodus um die passenden Wörter.

Traumatisches Turnen

Entsprechend offen thematisiert Trojanow auch sein größtes olympisches Scheitern: Beim Turnen sei es ihm partout nicht gelungen, sein deutsches Kindheitstrauma zu überwinden. In seinem Buch ist dies eines der kürzesten Kapitel. Der sprachbegabte Trojanow schreibt: „Wenn ich mir vorstelle, Turnen wäre die lingua franca der Bundesrepublik, schlüpfe ich in die Haut eines sprachohnmächtigen Fremden.“ 

Trojanow verschweigt aber auch nicht seine Erfolge: die verzweifelte Selbstüberwindung beim Bahnradfahren, in das er am Ende gänzlich versinkt, das Freiheitsgefühl beim Trampolinspringen oder das Glücksgefühl der völligen Erschöpfung beim Langstreckenlauf. Und so Ilija Trojanow mit seinem olympischen Buch gleich zweierlei: Er weckt die Lust am Sport – und gibt ihm zugleich ein Stück jener Poesie zurück, die durch den erbarmungslosen Leistungssport verloren ging.

Ilija Trojanow: Meine Olympiade – ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen. S. Fischer, Frankfurt. 335 Seiten, 22 Euro.

(Eine andere Version dieses Textes ist bereits am 18. Juni in der Stuttgarter Zeitung erschienen)

Mittwoch, 15. Juni 2016

Die Nerven: Im Zentrum des rasenden Stillstands

Relevante Rockmusik war in Stuttgart einst schwer zu finden. Doch seit einigen Jahren tut sich was in der Motorstadt. Heute gibt es dort eine ganze Reihe guter Indie-Bands mit deutschen Texten. „Die Nerven“ sind so etwas wie die Speerspitze dieser Bewegung. In der Schorndorfer Manufaktur stellten sie das nun eindrucksvoll unter Beweis.  

Die vielleicht wichtigste deutsche Rockband der Stunde kommt ziemlich schluffig daher. Schlagzeuger Kevin Kuhn, schmal, barfüßig, lange glatte Haare, betritt die Bühne in einer Art Pyjama. Gitarrist Max Rieger trägt immerhin Hemd, wenn auch ein ungebügeltes und halb offen, seine blonden Haare sind zu einem sehr kurzen Zopf gebunden. Bassist Julian Knoth, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, trägt seine halblangen lockigen Haare offen und sieht vor allem sehr nett aus. Dass sie als Trio eine ziemliche Wucht sind, lässt sich aus dieser auf jegliche Inszenierung verzichtenden Ästhetik nicht unbedingt gleich erahnen.

Doch Schnörkel, Pomp und die große Inszenierung liegen den Stuttgartern ohnehin nicht allzu sehr. Gitarre, Bass, Schlagzeug, ein paar Loops – mehr brauchen „Die Nerven“ nicht. Aus dieser sehr klassischen Zusammensetzung hat sich die Band recht schnell einen eigenständigen Sound-Entwurf geschaffen, der mit dem aktuellen, dritten Album „Out“ seine vorläufig schlüssigste Form gefunden hat: Treibende, ab und an ins Lärmige abdriftende Gitarrenriffs, ein hypnotischer Bass, präzise, druckvolle Drums und die abwechselnd von Knoth und Rieger in gleich kühlem Ton gesungenen Texte verbinden sich dort zu einer zwischen Post-Punk, Indie-Rock und Noise flirrenden, gleichzeitig retrospektiven und doch zeitgemäßen Musik. Neben „Human Abfall“ im Moment das Spannendste aus der Landeshauptstadt.

Schneller, roher, druckvoller

Live spielen „Die Nerven“ ihre Songs aber nach wie vor ein wenig schneller, deutlich roher und sehr viel druckvoller. Als sich die Band 2010 gründete, lautete die Devise „möglichst laut zu sein und möglichst viel Lärm zu machen“. Auf Platte ist davon nichts mehr zu spüren, auf der Bühne gilt das ein Stück weit noch immer.

Bereits beim ersten Lied wird die Bühne von der Band komplett ausgefüllt. „Die Nerven“ sind präsent, sie spielen auf den Punkt und mit einem feinen Sinn für Selbstironie. Als Schlagzeuger Kuhn das vollgeschwitzte Oberteil zu nass wird, es sich vom Leib zieht und es über dem Kopf kreisen lässt, denkt der Zuschauer: Gleich landet es im Publikum. Doch Kuhn nimmt das Oberteil brav zurück an seinen Platz, die Rockstarallüre bleibt nur angedeutet. Ironisch gebrochen auch, als Max Rieger kurz „Shine on you crazy diamond“ ansingt. Denn nichts könnte an diesem Abend weiter weg sein als der überbordende Prog-Pomp von Pink Floyd.

Anklänge von Sonic Youth, Swans, Blumfeld

Was dem geneigten Hörer bei dem Konzert stattdessen so in den Sinn kommt an Referenzen? Noisige Lärmwände à la Sonic Youth, der kühle-distanzierte Sound von Joy Division, die brachial-düstere Atmosphäre der Swans, der Gitarrenrock der zweiten Blumfeld-Platte oder auch der Deutschpunk der frühen Fehlfarben. Da „Die Nerven“ aber keine Epigonen sind, finden sich davon höchstens Versatzstücke im Repertoire.

Das Drei-Minuten-Stück „Hörst du mir zu“ vom 2014er Album „Fun“ etwa lassen sie genussvoll ausufern: mit Laut-Leise-Dynamik, Noise-Ausbruch und fast schon postrockigem Ausklang.

Was bei all dem Lärm fast ein wenig zu kurz kommt, sind die Texte. „Die Nerven“ vertreten darin eine Anti-Haltung, vermeiden jedoch die klare politische Verortung. Mögliche Referenzpunkte: einstürzende Neubauten, Tocotronic, Jens Rachut. Doch „Die Nerven“ sind antiutopische Realisten, keine zynischen Pragmatiker und singen über Hässlichkeit, das Scheitern, die Angst, den Dreck und die „Welt aus Zellophan“. Für „Die Nerven“ gibt es kein Innen und Außen mehr. Das Private ist insofern auch politisch. Was das Leben nicht unbedingt leichter macht. In „Hörst du mir zu“ heißt es „Das ist immer noch dein Leben / Auch wenn du selbst nichts mehr entscheidest“. So dynamisch die Musik, so statisch und ausweglos ist der Zustand, den die Band in ihren Texten beschreibt. „Die Nerven“ befinden sich, um mit Schorsch Kamerun zu sprechen, im Zentrum des rasenden Stillstands – „keine Lösung, kein Problem“ ist alles, was sie wollen.

Kein Vor, kein Zurück, während musikalisch alles nach vorne strebt: dieser Widerspruch macht die Band so spannend, so relevant. Und das Konzert so kurzweilig, dass es wirklich überhaupt keine Rolle spielt, wenn nach 70 Minuten die Verstärker ausgehen und bereits Schluss ist.

(Dieser Text erschien bereits am 31. Mai in der Waiblinger Kreiszeitung)

Montag, 16. Mai 2016

AnnenMayKantereit: Lebenstraum Altbauwohnung


Deutschlands neue Konsensband hört auf den Namen Annenmaykantereit. Die Kölner Ex-Straßenmusiker haben den Mainstream erobert. Und mit "Alles nix konkretes" nun auch ein Album veröffentlicht, das prompt auf Platz 1 der Album-Charts landete. Was ist dran am Hype?

Diese markante Stimme, zwischen Dröhnen und Röhren, war in der deutschen Musik lange Zeit nicht mehr zu vernehmen. Schon gar nicht von so einem schmalen, jungenhaften Mann. Diese Stimme erinnert entfernt an Rio Reiser, stärker noch an Klaus Lage, in ihren besten Momenten auch an den jungen Tom Waits. Sie gehört Henning May, dessen Sehnen sich beim Singen anspannen als würden sie gleich platzen. Die Stimme träumt von einer Zwei-Zimmer-Altbauwohnung, erzählt vom studentischen WG-Leben, davon "barfuß am Klavier" zu sitzen. Umrahmt wird sie von gefälligem Folk-Pop.

Angefangen als Straßenmusiker

Vor fünf Jahren starteten Annenmaykantereit - benannt nach den Namen der drei Gründungsmitglieder - als Straßenmusiker. Später begannen sie damit, sich zu filmen und die an Kölner Straßenecken gedrehten Videos auf Youtube zu stellen. In Eigenregie produzierten sie 2013 das inzwischen vergriffene Album KMT. Auch ihre ersten professionellen Musikvideos drehte die Band selbst. Über den eigenen Youtube-Kanal vergrößerten sie damit rasant ihre Anhängerschaft. Auf der Plattform sind sie längst schon Stars. Alleine "Barfuß am Klavier" wurde dort bereits zwölf Millionen Mal angeschaut. Im Herbst 2015 folgte dann der Major-Deal.


"Du hast mich angezogen, ausgezogen, großgezogen / Und wir sind umgezogen, ich hab dich angelogen! / Ich nehme keine Drogen / Und in der Schule war ich auch". Mit diesen Worten beginnt "Alles nix konkretes", das Major-Debüt der neuen deutschen Pop-Hoffnung. Den Song "Oft gefragt" hat Henning May für seinen Vater geschrieben. Schon Monate zuvor geisterte er durchs Netz. Im Dezember 2014 präsentierte ihn die Band in der Fernsehsendung Circus Halligalli.

Es ist das wohl stärkste Stücke des Albums und beschreibt eine behütete Kindheit, die dennoch irgendwann nach Abgrenzung verlangt. Stark ist auch die Ballade "Barfuß am Klavier". Dazwischen findet sich viel Mittelmaß, viel beschauliche Innerlichkeit. Vor allem jene Songs, die zuvor noch nicht im Netz kursierten, können nicht so recht überzeugen.

Geschichten aus dem WG-Leben

Überhaupt scheint der Band-Kosmos vor allem betulich um sich selbst zu kreisen: um die netten Geschichten aus dem WG-Leben, den billigen Wein und die selbst gedrehten Zigaretten. Der größte Traum: eine Altbauwohnung, "zwei Zimmer, Küche, Bad und ’n kleiner Balkon". Worauf tatsächlich der Reim folgt: "Ich würde auch manchmal morgens Brötchen holen". Nicht umsonst hat der Rolling Stone die Band als "das Spießigste jenseits von Bausparverträgen" bezeichnet.

Genau hier liegt das Problem von Annenmaykantereit: Die Träume der Nachwuchs-Musiker sind so bescheiden, so nett, so harmlos. Und so klingt dann auch die Musik. Moses Schneider, bekannt als Hausproduzent von Tocotronic, hat zwar gute Arbeit geleistet. Es ist ihm gelungen, den Straßenmusik-Charme zumindest ansatzweise auf das Album zu retten. Abgesehen von Henning Mays rauer Stimme ist die Musik aber so glattgebügelt, dass sie garantiert auf keiner Radiostation aus dem Format fällt.

Was ist also das Interessante an der Band? Es ist nicht so sehr ihre Musik, es ist die Geschichte dahinter. Denn im Grunde geht es bei Annenmaykantereit ja nicht nur um Altbauwohnungen, zebrochene Liebe und billigen Wein. Die Band erzählt von der Befindlichkeit einer Generation, die sich nicht groß um die Veränderung der Welt schert. Die nicht mit ihr hadert, sich vielmehr genügsam in ihr einrichtet. Und die auch kein Problem damit hat, nett zu sein. Musikalisch lässt das für die Zukunft leider nicht allzu viel erhoffen.

(Dieser Text erschien bereits Anfang Mai auf www.zvw.de)

Foto: r-a-d-e-k via Visual hunt / CC BY

Montag, 25. April 2016

Rudolf Chimelli ist tot

Rudolf Chimelli, einer der größten Reporter der Republik, der langjährige Sowjetunion-, Frankkreich- und Nahost-Korrespondent der SZ ist tot. Sechs Erinnerungen an einen einzigartigen Reporter.

Donnerstag, 10. März 2016

Die Philosophie des Kinos

Christian Grüny im Gespräch mit Dirk Rustemeyer (Professor für Bildungsphilosophie an der Uni Trier) über sein Buch "Darstellung. Philosophie der Kunst".

Sonntag, 7. Februar 2016

Impressionen No. XXXXIV: Gespräche mit dem Tod






"Gespräche mit dem Tod" - eine Ausstellung von Daniel Bubeck (Bild) und Christian Siglinger (Text). Noch bis Ende Februar zu sehen im Club Manufaktur.

Was die Lokalpresse davon hält, ist hier nachzulesen. Wie die Gespräche enstanden, haben Bubeck und Siglinger hier exemplarisch erläutert. Und was die beiden Künstler bisher gemacht haben: Wolf 359 und Ich heiße... steht hier auf dem Blog.

Sonntag, 31. Januar 2016

High Fidelity Teil 7: Fatalitäten


Meine Bücher des Jahres 2015
1. David Foster Wallace & Marc Costello - Signifying Rappers
2. Jonathan Lethem - Fear of music
3. Michel Houellebecq - Karte und Gebiet
4. W.G. Sebald - Die Ausgewanderten
5. Swetlana Alexejewitsch - Der Krieg hat kein weibliches Gesicht

Belletristik:

Michel Houellebecq - Unterwerfung: Noch unter dem Eindruck der Anschläge auf Charlie Hebdo habe ich das Buch an einem Wochenende verschlungen. Der richtige Roman zur richtigen Zeit. Und eben keine plumpe antiislamische Schmähschrift, sondern eine Fundamentalkritik der französischen Republik. Das hat Houellebecqs Romane seit jeher ausgezeichnet: dass er bei seiner Gesellschafts- und Kulturkritik niemanden ausnimmt, auf keiner Seite steht, keine Politik betreibt – und sich daher auch nicht so einfach vereinnahmen lässt.

Joris-Karl Huysmans - Gegen den Strich
: Wegen der Huysmans-Bezüge in "Unterwerfung" versuchte ich mich an "Gegen den Strich", empfand das Werk aber als reichlich geschwätzig. Eher enttäuschend.

Michel Houellebecq - Karte und Gebiet: Eine Künstlerbiografie und der beste Roman des Franzosen. Alleine deshalb, weil er sich selbstironisch als Protagonist auftauchen lässt. Und wie! Mehr sei an dieser Stelle erstmal nicht verraten...

Patrick Modiano - Eine Jugend: Von der Kritik hochgelobt ob seiner wunderbaren Alltagsbeschreibungen, empfand ich diesen Roman als eher dröge und überflächlich.

W.G. Sebald - Die Ausgewanderten: Echte Schicksale jüdischer Auswanderer vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs literarisch verarbeitet. Berührend, abgründig und absolut empfehlenswert.

Swetlana Alexejewitsch - Der Krieg hat kein weibliches Gesicht: Als das Buch während der Sowjetzeit erschien war es den Herrschenden alles andere als genehm. Basierte es doch auf hunderten Gesprächen mit Frauen, die in der Roten Armee gedient hatten. Und was sie erzählten passte so gar nicht ins Bild des heroischen Großen Vaterländischen Krieges. Ein schonungsloses Bild des Alltags im Krieg - und wegen der weiblichen Perspektive ein lohnenswert-ungewöhnlicher Blick auf ein vielfach verarbeitetes Thema.

Jochen Distelmeyer - Otis: Der Leser plagt sich durch nichtssagende Dialoge, durch Beschreibungen des Innenlebens gelangweilter Hauptstädter – und fragt sich, wohin der Autor mit seiner Geschichte eigentlich will. Daneben serviert Distelmeyer etliche zwar interessante, doch selten für die Geschichte notwendige Exkurse, etwa zum Holocaustmahnmal, der Geschichte des Tierparks und Homers Odyssee. Oder steigt in eine Nebenerzählung ein, die weder zu Ende erzählt wird noch in irgendeinem Zusammenhang mit der Geschichte steht. In die Mitte des Romans hat der Autor dann ein skurriles Theaterstück namens „Das Loch“ gepackt, was angesichts der eher bescheidenen Rahmenhandlung doch reichlich prätentiös wirkt. Kaum zu fassen, dass der Mann mal für große Texte stand.

Frank Schulz - Onno Vietz und der Irre vom Kietz: Kurzweiliger Kiez-Krimi und schräge Milieustudie. Manchmal urkomisch, oftmals einfach nur skurril.

Jonathan Lethem - Garten der Dissidenten: Eine schonungslose Abrechnung mit den Träumen und Lebenslügen der amerikanischen Linken, verpackt in einen autobiographisch gefärbten Generationenroman. Mein erster Lethem und sicher nicht mein letzter.

Wiglaf Droste - Die Würde des Menschen ist ein Konjunktiv: Gesammelte Sprachglossen von Droste - kurzweilig, wenn auch nicht immer auf höchstem Niveau.

Sachbuch:

Daniele Ganser - Nato-Geheimarmeen in Europa: Dass die Nato während des Kalten Krieges Geheimarmeen aufbaute (für den Fall eines Angriffs aus dem Osten) und dafür nicht nur Rechtsextremisten rekrutierte, die sogar Anschläge verübten, klingt wie eine Verschwörungstheorie, ist aber in dieser Dissertation gut belegt.

Harald Welzer - Selbst denken: Das Buch will vor allem dem Öko in uns einen Spiegel vorhalten, Lebenslügen entlarven und die Dringlichkeit zum grundlegenden Wandel unseres Lebensstil aufzeigen. Dabei überteibt es der assoziativ argumentierende Welzer allerdings etwas mit der Publikumsbeschimpfung.

Catherine Belsey - Poststrukturalismus: Gute und kurze Einführung in Themen, Ideen und Denker des Poststrukturalismus.

Christian Stahl - In den Gangs von Neukölln: Soziologe und Journalist, der zufällig zum Nachbar eines der schlimmsten Intensivtäter Neuköllns wird - und mit ihm Freundschaft schließt. Der Autor nähert sich dessen Geschichte mit soziologischem Blick, und ist sich seiner mangelnden Distanz doch stets bewusst.

Paul Collier - Exodus - warum wir Einwanderung neu regeln müssen: Gut lesbares, durchaus wissenschaftliches Werk über Migrationspolitik, ihre Logiken und Widersprüche. Stark in der Analyse, nicht ganz überzeugend bei den politischen Vorschlägen.

Karin Leukfeld - Flächenbrand - Syrien, Irak, die Arabische Welt und der Islamische Staat: Leukfeld berichtet seit Jahren für ND und Junge Welt aus dem Nahen Osten. Das sollte man im Hinterkopf behalten bei der Lektüre dieses sehr kundigen und überhaupt nicht reißerischen Berichts aus Herzen der Finsternis.

Spex: Das Buch - 33 1/3 Jahre Pop: Texte aus 33 1/3 Jahren Spex. Muss man noch mehr dazu sagen?

Konrad Lorenz - Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit: Klassiker der Kulturkritik, dessen naturalistischer Argumentation man nicht folgen, mit der man sicher aber durchaus auseinandersetzen sollte.

Jonathan Lethem - Fear of music: Wie Lethem hier Song für Song "Fear of music" von den Talking Heads analysiert ist schlichtweg genial - und hat mir das Album wirklich sehr nahe gebracht.

David Foster Wallace & Marc Costello - Signifying Rappers: Frühwerk von DFW, in dem er sich voller Begeisterung mit der damals (Ende der 80er) unter Weißen noch verpönten Kunst des Hip Hop beschäftigt. Die meisten Künstler dürften längst vergessen sein. Die Bedeutung dieser längst anerkannten Kulturform früh begriffen zu haben, ehrt die beiden Autoren.

Christian Semler - Kein Kommunismus ist auch keine Lösung: Aufsätze, Essays und Artikel des einstigen taz-Autors. Viele lesenswerte Reflexionen über die Linke, ihr historisches Scheitern - und warum es sich dennoch lohnt, weiter zu kämpfen.

Mathias Weik & Marc Friedrich - Der Crash ist die Lösung: Bestseller zur Finanzkrise von zwei Waiblinger Ökonomen, die auch gerne im ZVW zu Wort kommen. Gut in der Analyse, aber extrem nervig im reißerischen Ton. Und was die Prognose anbelangt, lagen sie bisher falsch.

Montag, 18. Januar 2016

David Bowie besingt seinen eigenen Tod

"Look up here now / I'm in heaven / I've got scars that can't be seen / I've got drama, can't be stolen / everybody knows me now"

Samstag, 9. Januar 2016

Impressionen No. XLIII: Die Welt des Schattentheaters






"Licht und Schatten, Schwarz und Weiß: Wer durch die Ausstellung wandelt, taucht ein in eine Unterweltfahrt, auf der Dämonen, Geister, Wünsche und Träume erscheinen, die sowohl mythische Gattungsfrühe wie vergessene Kindheitsferne beschwören. (...) Selten ist man durch eine Ausstellung gegangen, die so existenziell berührte." (Thomas Milz, Reutlinger General-Anzeiger)

"Die Welt des Schattentheaters" ist noch zu sehen bis 3. April im Stuttgarter Lindenmuseum.

Freitag, 1. Januar 2016

Mixtape No. 9: Arbeit und Struktur

 
1. Sufjan Stevens - Should have known better (2015)
2. Bill Fay - How little (2015) 
3. Kamasi Washington - The Message (2015)
4. Die Nerven - Barfuß durch die Scherben (2015)
5. Hiatus Kyote - Breathing underwater (2015)
6. Kendrick Lamar - Alright (2015)
7. Little Simz - Wings (2015) 
8. Roots Manuva - Don't breathe out (2015)
9. Fatoni & Dexter - Authitenzität (2015)
10. Dj Shadow - Midnight in a perfect world (1996)
11. Destroyer - Forces from above (2015)
12. Caribou - Can't do without you (2014)
13. Jamie XX - The rest is noise (2015)

...und hier das ganze als Youtube-Playlist