Dienstag, 29. August 2017

Impressionen No. L: Folk

Volksdorf.

Volkspalast.

Völkerkunde.

Wählervolk.

Folkstum.

Kunstvolk.

Donnerstag, 3. August 2017

Verliebt ins Scheitern

Lenin Riefenstahl und Christian Rottler beim Auftritt im Merlin

Bleischwer lag die Kohl-Ära über der Republik, als Christoph Schlingensief die „Chance 2000“ gründete. Er nannte sie die „Partei der letzten Chance“ und verpasste ihr das programmatische Motto „Scheitern als Chance“. Für Schlingensief war die Partei „ein in jeder Hinsicht unbegrenztes Theaterstück“, ein „Appell, selbstbewusster zu leben“, mit Richtungslosigkeit als oberstem Prinzip.

Scheitern als Chance

In den Randständigen, Überflüssigen, Arbeitslosen sah er die kommende Avantgarde. Mit Aktionskunst wollte er nicht nur die dröge Ära Kohl überwinden, sondern den Neoliberalismus endlich produktiv und radikal für die Kunst nutzen. „Alles aufgeben! Fehler machen! Scheitern ist Chance! Nicht Wandel, sondern Revolution, nicht Revolution, sondern permanente Revolution, Unsicherheit!“ Gerade in der Sphäre der im kapitalistischen Sinne Nicht-Produktiven werde schließlich gearbeitet, werde Sinn produziert wird. Schlingensiefs Projekt wendete das gesellschaftliche Scheitern seiner Protagonisten in eine künstlerische Chance und begab sich auf die Suche nach dem guten Leben.

Auch Christian Rottler, Absolvent der Weimarer Bauhaus-Universität, ließe sich in diesem Sinne als Gescheiterter beschreiben. Beinahe wäre ihm der Sprung in die professionelle Künstlerexistenz gelungen. Hörspiele im Kulturradio, ein Song auf Motor-FM-Dauerschleife, drei Jahre später dann fast ein Plattenvertrag bei einem Major-Label. Doch der Sprung misslang. Und Rottler geriet in eine künstlerische Krise, aus der er sich nur langsam wieder befreit.

Vom Willen, zu scheitern

Das Scheitern durchzieht sein gesamtes Werk. Im Hörspiel „Nahkampf oder telefonieren“ soll ein letztes Telefonat zwischen den einst Liebenden alles kitten – und kann das Unausweichliche doch nicht verhindern. Die Begegnung mit den Jugendhelden Rottlers gerät zur offenen Therapiesitzung des von Selbstzweifeln geplagten Künstlers. Immer im Hintergrund mitschwingend: Thomas Bernhard, an dessen Werk „Holzfällen“ sich der Titel des Hörspiels anlehnt. Über das Scheitern schrieb der Österreicher einst in „Ja“: „Indem wir wenigstens den Willen zum Scheitern haben, kommen wir vorwärts und wir müssen in jeder Sache und in allem und jedem immer wieder wenigstens den Willen zum Scheitern haben, wenn wir nicht schon sehr früh zugrundegehen wollen, was tatsächlich nicht die Absicht sein kann, mit welcher wir da sind.“ 

Kommando Ödipus - live im Merlin

Und dann ist da natürlich Marcel Proust und sein Klassiker „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, an der Rottler scheitert. Der Literatur-Fresser, dessen Stolz auf die prall gefüllten Bücherwände jeder sofort spürt, der sich mit ihm über Literatur unterhält, muss sich die abgebrochene Lektüre zunächst selbst erklären.

In einem dichten Essay verarbeitet er sein Scheitern an Proust. Und kommt dabei zu folgender These: Frei nach Pierre Bourdieu produziert die Lektüre solcher Wälzer eine Art kulturelles Kapital im Paarungsverhalten gebildeter Schichten. Inhalt oder literarische Bedeutung des Werks sind dabei zweitrangig. Entscheidend sei vielmehr, dass der Leser den Stoff überhaupt bewältigt, das Buch zu Ende liest – und damit im intellektuellen Kampf der Geschlechter sexuelle Attraktivität erlangt. Seit Jahren reibt Christian Rottler stolz jedem, dem er gewisse intellektuelle Fähigkeiten attestiert, den Essay unter die Nase.

Um das Scheitern geht es auch in dem Song „Schlichte Perfektion“. Ja, heute mag alles grau und trüb erscheinen, aber „ab morgen überrasch‘ ich dich täglich mit schlichter Perfektion“. Was natürlich nie passieren wird – und letztlich auch nicht entscheidend ist.

Ein künstlerischer Sieg

Auch Christoph Schlingensief scheiterte mit seinem Projekt „Chance 2000“ gleichermaßen planmäßig wie grandios. Und doch erwuchs ihm daraus ein künstlerischer Sieg. 1998 war Schlingensief auch jenseits avantgardistischer Kreise plötzlich ein Name. Als der Künstler dann einige Jahre später an Krebs erkrankte, machte er seine Krankheit kurzerhand zum Kunstbesitz, deutete das Scheitern des Körpers als künstlerische Chance. Sein letztes, noch unvollendetes Projekt – der Aufbau eines Operndorfes in Burkina Fas – setzte die Kunst schließlich als Kontrapunkt zu Kapitalismus, Kolonialismus und Armut. Und immer im Hintergrund mitschwingend die Frage: Was ist das, das gute Leben?

Dieses existenzielle Thema treibt auch Christian Rottler in seinem noch unvollendeten Werk um. Der undogmatische Linke hat mithin noch viele Fragen an sich selbst und die Welt. Und zum Glück keine Angst vorm Scheitern.