Freitag, 13. Dezember 2019

Mixtape No. 19: Take me somewhere nice, Part 1


1. Take me somewhere nice - Mogwai (2001)
2. Change is an engine - Savoy Grand (2005)
3. Theresa's sound world - Sonic Youth (1992)
4. Explosion - Tocotronic (2007)
5. Thieves in the palace - Logh (2007)
6. Odd said the doe - Nina Nastasja & Jim White (2007)
7. Fever dream - Iron & Wine (2004)
8. Visions - Stevie Wonder (1972)
9. Hey, who really cares? - Linda Perhacs (1970)
10. Première gymnopedie - Eric Satie (1888)
11. Reflets dans l'eau - Claude Debussy (1905)
12. Empty house - Air (2000)
13. Right where it belongs - Nine Inch Nails (2005)
14. Marion Barfs - Clint Mansell (2000)

Das Mixtape gibt es, wie immer, auch als Youtube-Playlist sowie bei Spotify. Dort aber leider ohne Savoy Grand und Nina Nastasja & Jim White.

Ein Sieg für den Populismus

Boris Johnson und seine Tories haben einen Sieg bei den britischen Unterhauswahlen errungen - und was für einen! Alles sieht nach einem Sieg von historischen Ausmaßen aus. So viele Sitze hat nicht einmal Margret Thatcher für ihre Partei bei Wahlen gewinnen können. Umgekehrt kassiert Labour die seit Jahrzehnten höchste Niederlage bei einer Unterhauswahl. Doch was bedeutet das? Drei Thesen zum Wahlergebnis:

1. Die Wähler waren bereit, einen Politiker zu wählen, der zwar wiederholt und offensichtlich lügt, aber dafür für "Klartext" und einfache Lösungen steht. Johnson ist ein Paradebeispiel für diesen Typus. Bereits zu seinen Zeiten als Journalist (er arbeitete für die Times, den Daily Telegraph und war Herausgeber des Spectator) hat er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Auch den Brexit selbst hat er nicht aus Überzeugung propagiert, um dann umso vehementer eine Kampagne für den Austritt anzuführen. Auch diese basierte auf einer Lüge: nämlich, dass das Vereinigte Königreich pro Woche 350 Millionen Pfund an die EU zahle - und diese besser im Gesundheitssystem investiert wären. Unnötig zu erwähnen, dass der ehemalige Bürgermeister von London die Institutionen verachtet. Johnsons Sieg ist auch und vor allem ein Sieg des Populismus.

2. Identitäre Themen überlagern ökonomische und soziale Fragen. Eigentlich sind die Tories für Arbeiter unwählbar. Unter Thatcher wurde das Land deindustrialisiert und dereguliert, weite Teile der Infrastruktur privatisiert. Mit der Folge, dass die Ungleichheit in kaum einem Industrieland so hoch ist (wozu New Labour unter Tony Blair leider auch beigetragen haben). Dass Johnson das ohnehin gerupfte Gesundheitssystem NHS möglicherweise komplett privatisieren will (das er vor dem Brexit-Referendum noch so großzügig ausbauen wollte), spielte im Wahlkampf aber nur eine untergeordnete Rolle. Labour ist mit seinen linken Forderungen bei vielen ihrer Kernwähler nicht durchgedrungen. Der EU-Austritt hat alle anderen Themen überlagert.

3. Aus der Niederlage von Labour lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass ein Linkskurs der Sozialdemokratie zwangsläufig scheitern muss. Mit derselben, für UK recht radikalen Politik hatte Jeremy Corbyn bei den Unterhauswahlen vor zwei Jahren noch großen Erfolg. Mit rund 40 Prozent der Stimmen gelang es ihm und seiner links gewendeten Partei, viele junge Wähler und mehrere hunderttausend neue Mitglieder zu gewinnen. Dass er diesmal scheiterte liegt vor allen an drei Gründen: Corbyn hatte keine eindeutige Position zum EU-Austritt (auch weil seine Wählerschaft hier klar gespalten ist), auf der identitären Schiene also kein wirkliches Angebot. Soziale und ökonomische Themen spielten bei dieser Wahl, wie gesagt, keine entscheidende Rolle. Er musste zudem gegen Antisemitismus-Vorwürfe gegenüber seiner Partei ankämpfen - und tat dies nicht entschieden genug. Außerdem ist Corbyn bei weiten Teilen der Bevölkerung eher unbeliebt, obwohl sie seine politischen Forderungen durchaus teilen.

Donnerstag, 12. Dezember 2019

Drei Rap-Alben

1. OG Keemo - Geist (2019)
Der Tod der eigenen Mutter, die Kindheit in der Siedlung, seine Jugend als Krimineller, das Leben als Mensch mit sudanesischen Wurzeln in Deutschland oder Racial Profiling - alles Themen, die auf diesem kompakten, ziemlich düsteren Debütalbum des Rappers OG Keemo verhandelt werden. Die zwingenden Beats dazu liefert Funkvater Frank. Zusammen ergibt das eines der wenigen Platten des Genres Gangstarap, die wirklich etwas zu erzählen haben. Besonders gut gelungen bei "Geist", "Nebel" und "216".


2. Kummer - Kiox (2019)
Aus einer ganz anderen, spezifisch ostdeutschen Perspektive reflektiert Felix Kummer, Frontmann von Kraftklub auf seinem Debütalbum "Kiox" das Großwerden in Chemnitz. Dabei geht es um das Weglaufen vor Nazis, mit denen er heute nur noch Mitleid hat. Um die ersten Anzeichen der Verspießerung, peinliche Familientreffen, viel zu früh gestorbene Wegbegleiter oder die oberflächliche Fixierung auf Outfit, Image, Körper. Am besten funktioniert das (mit Beats von Blvth und den Drunken Masters produzierte Album) bei "9010", "Der Rest meines Lebens" und "Wieviel ist dein Outfit wert".

3. Fatoni - Andorra (2019)
Über die Phase des Erwachsenwerdens ist Fatoni indes als Rapper und Mensch längst hinaus. Er steuert vielmehr direkt auf die Midlife Crisis zu. Denkt, unterlegt von Dexters zeitgemäßen Trap-Beats, darüber nach, was einmal bleiben wird, wie einstige Weggefährten auf Abwege geraten oder fragt sich, was wohl aus dem Junkie im Park wurde, den er aus seiner Jugend kannte. So abgeklärt, reflektiert und selbstkritisch hat der Münchener nie geklungen. Zum Beispiel auf "Alles zieht vorbei", "Nein Nein Nein Nein Nein", "Mitch" (und nicht zu vergessen "Clint Eastwood", wo er sich im Video als "King of Queens" parodiert).

Mittwoch, 11. Dezember 2019

Flüchtige Notizen X: Krise

Grau.
Farblos wie Beton, wie Dreck.
Fahl.
Nichts bringt mehr Licht ins dunkle Sein.
Hart.
Wie Gestein, nur langsam schiebt und drückt es.
Rein.
Lange weit davon entfernt.

Besinnungslos.
Hör ich die Tauben, bin ich selbst bereits?
Nein!
Als Taube fliegte ich schon längst.
Weit weg...
Wohin, das weiß der Wind allein.

Ziele?
Das Sein, Bewegung, Regung.
Ja.
Vielleicht seh ich nur falsch.
Bin.
Höchstens blind, erlahmt und matt.
Vor.
Wohlstand, Essen, Rausch, wer weiß?

Wohin.
Das ist die falsche Frage!
Ins Nichts?
Freiheit gerät ins Stocken...
Leider.
Auf der Leiter, ungebrochen.

Eine Stufe fehlt.

(3/10/2005)

Impressionen No. LVIII: Alltag

 
 Beim Ur-Bär.


 Mühlwiesen. 

 
 






Freitag, 8. November 2019

Ein zunächst verschmähter Klassiker



A Perfect Circle? Nur ein ganz okayer Abklatsch von Tool - das war bislang meine Meinung über diese Band. Und wie ich bis vor kurzer Zeit fand, durchaus zurecht. Was nicht heißt, dass die Musiker schlechte Musik produzierten  - keinesfalls, die Band hatte durchaus ihre Qualitäten.

Doch es gibt auch bei Musikern, die bereits fast zwanzig Jahre aktiv sind, Überraschungen. Ich muss gestehen, diese im Falle von A Perfect Circle, trotz kundiger Empfehlungen, beim aktuellen Album lange verpasst zu haben. Weshalb ich es zunächst verschmähte, um es jetzt uneingeschränkt zu empfehlen.

Denn "Eat the elephant" (bereits 2018 erschienen) hat für mich die Maßstäbe, mit der diese Band bewertet werden sollte, fundamental verschoben. Nicht zuletzt, weil der große Kryptiker James Maynard Keenan hier so konkret wird wie nie.

Vier Gründe, die aus meiner Sicht für sich sprechen:

No. 1: Disillusioned. Ein Stück über die schöne neue digitale Welt:

No. 2: The Doomed: Hier wird die Bergpredigt radikal gedreht.

No. 3: So Long and thanks for all the fish, eine Hommage an Douglas Adams.

No. 4 Talk Talk, ein religionskritischer Song gegen die Jenseitssucht.

Freitag, 1. November 2019

Mixtape No. 18: Leb so, dass es alle wissen wollen


1. 9010 (Kummer, 2019)
2. Generation Youporn (Faber, 2019)
3. Phototropic (Kyuss, 1995)
4. Love is everywhere, beware (Wilco, 2019)
5. Im Westen (OK Kid, 2019)
6. Kurz und schmerzlos (Lenin Riefenstahl, 2019)
7. Weißes Papier (Element of Crime, 1993)
8. Luciano (Steve Gunn, 2019)
9. Leb so, dass es alle wissen wollen (Keine Zähne im Maul, aber La Paloma pfeifen, 2012)
10. Neptune (Foals, 2019)
11. 7empest (Tool, 2019)

Das Mixtape gibt es wie immer auch als Spotify- sowie Youtube-Playlist.

Mittwoch, 30. Oktober 2019

Ehekrach

»Ja -!«
»Nein –!«
»Wer ist schuld?

Du!«

»Himmeldonnerwetter, laß mich in Ruh!«
– » Du hast Tante Klara vorgeschlagen!
Du läßt dir von keinem Menschen was sagen!
Du hast immer solche Rosinen!
Du willst bloß, ich soll verdienen, verdienen –
Du hörst nie. Ich red dir gut zu . . .
Wer ist schuld –?

Du.«

»Nein.«
»Ja.«

– » Wer hat den Kindern das Rodeln verboten?
Wer schimpft den ganzen Tag nach Noten?
Wessen Hemden muß ich stopfen und plätten?
Wem passen wieder nicht die Betten?
Wen muß man vorn und hinten bedienen?
Wer dreht sich um nach allen Blondinen?

Du –!«
»Nein.«
»Ja.«

»Wem ich das erzähle ...!
Ob mir das einer glaubt –!«
– »Und überhaupt –!«
»Und überhaupt –!«
»Und überhaupt –!«

Ihr meint kein Wort von dem, was ihr sagt:
Ihr wißt nicht, was euch beide plagt.
Was ist der Nagel jeder Ehe?
Zu langes Zusammensein und zu große Nähe.

Menschen sind einsam. Suchen den andern.
rallen zurück, wollen weiterwandern ...
Bleiben schließlich ... Diese Resignation:
Das ist die Ehe. Wird sie euch monoton?
Zankt euch nicht und versöhnt euch nicht:
Zeigt euch ein Kameradschaftsgesicht
und macht das Gesicht für den bösen Streit
lieber, wenn ihr alleine seid.

Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still.
Jahre binden, auch wenn man nicht will.
Das ist schwer: ein Leben zu zwein.
Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.

(Kurt Tucholsky)

Donnerstag, 3. Oktober 2019

Weshalb wir China brauchen

Die Volksrepublik China hat Anfang der Woche ihr 70-jähriges Bestehen gefeiert - mit einer riesigen Militärparade und einer perfekt choreografierten Inszenierung der Stärke am Platz des Himmlischen Friedens. Gleichzeitig gingen in Hongkong wieder Hunderttausende auf die Straße.

Die Presse zum Jubiläum war im Westen entsprechend negativ. Drei Beispiele: Die New York Times etwa stellte nüchtern die Bilder von Beijing und Hongkong als Videos direkt nebeneinander, die Süddeutsche schrieb einen Abgesang auf das moderne China und seine Widersprüche. Und die Zeit erzählte die letzten 70 Jahre in China als Gruselgeschichte mit wenigen lichten Momenten.

Gründe, die Volksrepublik kritisch zu sehen gibt es genug: Maos verfehlter Sprung nach vorne mit seinen vielen Hungertoten, die Kulturrevolution mit ihrer Zerstörung und Selbstjustiz, die niedergeschlagene Demokratiebewegung 89, heute die Umerziehungspolitik in Xinjiang oder die zunehmend allgegenwärtige Überwachung oder den Mangel an Meinungsfreiheit. Und das vor dem Hintergrund, dass wir es hier obendrein mit der künftigen globalen Hegemonialmacht zu tun haben.

Dabei wird gerne übersehen, was dieses Land, vor allem in den letzten 40 Jahren, vollbracht hat. Was ihm gelang, wo die Weichen richtig gestellt wurden. Vor allem aber, welch große weltgeschichtliche Leistung es war, 800 Millionen Menschen von Armut und Hunger zu befreien. Mit gutem Grund bezeichnete die New York einmal die Volksrepublik als das "land that failed to fail".

Christian Y. Schmidt hat anlässlich des Jubiläums noch ein paar Gründe mehr gefunden, „warum die Welt China braucht“. Dass der Text in einem Verlautbarungsorgan der KP erschien, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Lesenswert ist er aber allemal.

Nachtrag: Es mag aus westlicher Perspektive verblüffen, doch die allermeisten Chinesen finden, dass ihre Regierung eine gute Arbeit macht. Weshalb das so ist, erklärt diese Analyse recht gut.

Nachtrag II: Weshalb sich die Volksrepublik gerade dennoch auf einem politischen Kurs befindet, der problematisch ist, weil er von historischen Vorbildern abweichend auf Nationalismus statt der Toleranz von Diversität setzt, legt James A. Millward, Professor und Autor von "Eurasian Crossroads: A history of Xinjiang" hier dar.

Dienstag, 24. September 2019

Ist die SPEX noch relevant?

Knapp ein Jahr ist es nun her, dass die Spex ihr Ende als Printmagazin erklärte. Eine Ende, das wohl unvermeidlich war. Denn der bezahlte Musikjournalismus steckt in Zeiten von Spotify und sozialen Medien in einer tiefen Krise. Musiker benötigen heutzutage keine Vermittler mehr, um ihre Zielgruppe anzusprechen.

Schleichender Bedeutungsverlust

Die allermeisten Hörer haben dank des Internets und der Streamingplattformen ohnehin kein Bedürfnis mehr nach Expertenratschlägen. Musik ist ein ubiquitäres Gut geworden, der Zugang ist so leicht wie nie. Die Rolle des Türoffners im Grunde nicht mehr notwendig. Zumindest nicht in Form einer Musikzeitschrift. Diese Aufgabe haben zum Teil die Feuilletons übernommen.

Und Popkultur, ein Begriff über das sich die Spex wie kein zweites Magazin definierte, schon seit geraumer Zeit nur noch bedingt ein Mittel zur Distinktion.

Weitergemacht haben einige der Redakteure dennoch. Seit Januar gibt es die Zeitschrift ausschließlich als Online-Plattform, auf der die meisten Artikel nur für Abonnenten verfügbar sind. Doch funktioniert das? Und ist das, was dort gemacht wird, überhaupt noch relevant? Zeit für eine Zwischenbilanz.

Neoliberale Apps und Zeitgenössisches aus der VRC


Auch als Online-Magazin richtet sich Spex an ein intellektuelles Publikum, mischt neben die Musik Beiträge zu Politik, Ästhetik, Literatur und Film. Es gibt ein Album der Woche, die „Musik zur Zeit“ und Tournee-Präsentationen.

 Vieles davon ist durchaus lesenswert: Wenn etwa Christoph Benkeser die Musik-App "Endel", die endlos personalisierte Sounds kreiert, zum "perfekten neoliberalen Gerät" erklärt, Christoph Kammenhuber den Freiheitskampf des Rappers Meek Mill mit dem der Schwarzen in den USA insgesamt verknüpft. Oder Kristoffer Cornils in seiner Kolumne kaum beachtete zeitgenössische Musik aus der Volksrepublik China präsentiert.


Typisch Spex eben. Und doch fehlt da etwas. Denn diese Zeitschrift war auch immer auch selbst ein popkulturelles Gesamtprodukt. Das Magazin mit seinen grafischen Experimenten. Die Themenschwerpunkten gewidmeten Ausgaben. Jene langen Reportagen, die zuletzt unter der Rubrik Perspektive liefen. Die oft doch recht speziellen Fotos - und eine CD als Beilage, die den Titel "Musik zur Zeit" zurecht trug. Von den vielen Plattenkritiken ganz zu schweigen.

Nüchterne Blog-Ästhetik

All das kein ein Online-Magazin in der nüchternen Form, wie sich die Spex momentan präsentiert, nicht liefern. Und leider überhaupt nicht die in Blog-Ästhetik konzipierte App. Diese glänzt dann auch eher durch ein technisches Problem: Selbst wer als Abonnent eingeloggt ist, kann bisweilen Artikel nicht lesen und muss sich erst wieder ab- und dann anmelden (ein Vorgang, der nach einem Dutzend Mal ziemlich nervt und leider auch auf der Homepage ein Problem ist).

Leider gibt es auch keine Integration der per Soundcloud zusammengestellten "Musik zur Zeit", der seit Januar angekündigte Spex-Podcast lässt auch auf sich warten. Immerhin: die Ausgaben im Archiv lassen sich inzwischen recht flüssig lesen. Kurzum: Da ist noch eine Menge Luft nach oben. Allzu viele dürften es jedenfalls nicht sein, die dafür 24 Euro pro Jahr zu zahlen bereit sind.

Ist die Spex heute also noch relevant? Wenn überhaupt, dann für eine Nische. Doch die wird im Internet mit einem Angebot wie diesem nicht unbedingt größer.

Samstag, 21. September 2019

Wir lieben, was wir nicht kriegen


Mehrfamilienhäuser und Bäume, das Daimlerwerk und eine Erdgasanlage in Schwarz-Weiß - damit präsentiert sich die EP "Jod und Tenside" auf dem Cover. Es ist der Blick von der Wangener Höhe. Keiner, den angesichts der Industrie- und Betonästhetik Touristen aufsuchen würden. Einer aber, der die Band "Lenin Riefenstahl" klar verortet: in Stuttgart nämlich. Jener Stadt also, die zuletzt mit einer Reihe interessanter Bands (wie Die Nerven oder Human Abfall) auf sich aufmerksam gemacht hat. Und ihr damit auch ein Stück weit einen musikalischen Stempel aufdrückt: Dass es hier eher düster, melancholisch, gar punkig zugeht, ist durch dieses Foto gesetzt.

Entgrenzung und Reduktion

Doch teilen sich Lenin Riefenstahl* kaum mehr als das Studio mit den Nerven (das Mastering übernahm Ralv Milberg). Die musikalische Vision ist eine ganz andere. Statt programmatischer Distanz und Reduktion setzt das neue Projekt des Songwriters und Hörspiel-Autors Christian Rottler vielmehr auf Entgrenzung.

Und so gibt es ein Wipers-mäßiges Punk-Stück über einen Morphiumtod inklusive Spoken-Word-Teil mit einer Länge von sechs Minuten ("Stumme Apotheker"). Eine traurige Ballade über die letzten, quälenden Minuten vor einer unvermeidlichen Trennung ("Kurz und schmerzlos"), musikalisch inszeniert als fast schon heiter-lakonisches Stück.

Oder das melancholisch-intim arrangierte und titelgebende "Chlor, Jod und Tenside" - eine Art Hohelied auf das Scheitern. In dem Sechs-Minuten-Stück heißt es: "Wir lieben Intrigen / das Leben besteht aus Rückfällen / und wir leben intensiv / und wir lieben / was wir nicht kriegen / diesmal war dein Misstrauen durchaus konstruktiv". 

Kompakt und schnörkellos

Trotz stellenweiser Überlängen hinterlässt die sechs Songs umfassende EP insgesamt einen kompakten Eindruck ohne Aussetzer. Musikalisch verzichtet das Trio auf unnötige Ausschmückungen, stellt vielmehr die Stärken des Konzepts Gitarre-Bass-Schlagzeug-Gesang (auf Platte an der Gitarre stellenweise unterstützt durch Sad Sir von End of Green) heraus und spielt schnörkellose Rocksongs mit leichten Punk-Einschlägen. Drummer Mathias Menner und Bassist Marc Eggert, der die Platte auch produzierte, ist es zu verdanken, dass die EP an keiner Stelle in Rockismen kippt.

Mit "Jod und Tenside" schlägt Christian Rottler ein neues musikalisches Kapitel auf. Bei den Texten indes bleibt er sich (bis auf "Stumme Apotheker" mit seinem fast schon klassischen Storytelling) treu: Sie sind schonungslos offen und zugleich rätselhaft, stecken voller literarischer Anspielungen und bleiben damit in viele Richtungen anschlussfähig. Massentauglich ist das nach wie vor nicht. Einen angemessenen Platz in der Nische hätte er damit aber allemal verdient.

Die EP "Jod und Tenside" erscheint am 11. Oktober bei Rotte.

* Ein politisches Projekt ist mit dem Bandname übrigens nicht verbunden). Die drei Stuttgarter haben sich, so schreiben sie "aus Gründen der Phonetik und der geballten Tragik" für ihn entschieden.

Donnerstag, 19. September 2019

Dienstag, 17. September 2019

Der Dichter

Den Frieden kann das Wollen nicht bereiten:
Wer alles will, will sich vor allen mächtig;
Indem er siegt, lehr er die andern streiten,
Bedenkend macht er seinen Feind bedächtig;
So wachsen Kraft und List nach allen Seiten,
Der Weltkreis ruht von Ungeheuern trächtig,
Und der Geburten zahlenlose Plage
Droht jeden Tag als mit dem jüngsten Tage.

Der Dichter sucht das Schicksal zu entbinden,
Das, wogenhaft und schrecklich ungestaltet,
Nicht Maß, noch Ziel, noch Richte weiß zu finden
Und brausend webt, zerstört und knirschend waltet.
Da faßt die Kunst in liebendem Entzünden,
Der Masse Wuszt, die ist sogleich entfaltet,
Durch Mitverdienst gemeinsamen Erregens,
Gesang und Rede, sinnigen Bewegens.

(Johann Wolfgang von Goethe)

Montag, 16. September 2019

High Fidelity No. 11: Fünf Platten

1. Makaya McCraven: Universal beings (2018)


Vier Städte, vier Bands, vier Auftritte mit improvisiertem Material - im Nachhinein durch Loops verdichtet zu einer Aufnahme, die wie aus einem Guss wirkt. Der in Frankreich geborene und in den USA aufgewachsene Schlagzeuger McCraven nennt das, was er macht treffend "Organic Beat Music". Und so entsteht aus den Gigs in Chicago, L.A., New York und London ein Album zwischen Hip Hop und frei improvisiertem Jazz, das frisch und sehr zeitgemäß klingt.

2. Die Goldenen Zitronen - Mord than a feeling  (2019)


Den Pop für sich entdeckt haben die Hamburger Avantgarde-Punks auf ihrem neusten Album. Was ihnen nicht schlecht steht - für Hörer, die nicht mit dem Werk der Band vertraut sind, klingt die Platte indes immer noch recht sperrig. Besonders gelungen: "Die alte Kaufmannsstadt", in der das Drama um die G20-Proteste als musikalisches Hörspiel inszeniert wird.

3. Die Türen - Exoterik (2019)

Krautrock - vor allem in der repetetiv-reduzierten Linie von Neu! - ist der klare Bezugspunkt dieses bisher besten Albums von "Die Türen". Entstanden in einer Session auf dem Lande, zurückgezogen von den Einflüssen der Zeit, gelang ihnen ein Werk, das zugleich opulent wie reduziert ist. Songs mit wenigen Textzeilen, aber vielen Minuten, die Dinge auf den Punkt bringen.

4. Tool - Fear Inoluculum (2019)

13 Jahre hat es gedauert, bis die Band um James Maynard Keenan den Nachfolger von "10 000 Days" auf den Markt brachte. Bemerkenswert an der Musik ist vor allem, wie wenig sie mit der Zeit gegangen ist. Zu hören gibt es klassisches, eher mittelschnelles Material mit wenig Gesang. Für Kenner der Band mag das alles bereits bekannt sein, hörenswert ist es dennoch. Etwas Zeit sollte man als Hörer aber schon mitbringen angesichts der Überlänge von etwa 80 Minuten.

5. Shabaka and the ancestors - Wisdom of elders (2016)

In nur einer Nacht und ohne Nachbearbeitungen aufgenommen, ist "Wisdom of elders" Zeugnis der musikalischen Vielfalt des Tenor-Saxofonisten Shabaka Hutchings, geboren in London, aufgewachsen in Barbados. Die Platte changiert zwischen Blues, weißem Free Jazz, Spirituals, Calypso und afrikanischem Jazz. Musikalisch ist das in seiner Polyrhythmik teilweise recht fordernd. Doch wer sich für Pharoa Sanders erwärmen kann, dürfte auch an diesem Album seine Freude haben.

Die Rückkehr der deutschen Frage

Robert Kagan, Politikwissenschafter, Publizist und ehemaliger Berater des US-Außenministeriums schreibt in den Blättern über die mögliche Rückkehr der deutschen Frage.

Mit der "deutschen Frage" ist unter anderem jenes Problem der internationalen Politik gemeint, das 1871 mit der gewaltsamen Vereinigung Deutschlands unter Bismarck entstand. Damit war ein großer, bevölkerungsreicher Nationalstaat in der Mitte des Kontinents geschaffen, der mit seinem Expansionsdrang das Kräftegleichgewicht in Europa durcheinanderbrachte. In der Folge kam es zu zwei verheerenden Weltkriegen.

Das Problem schien mit der Westbindung der Bundesrepublik und der Gründung der Europäischen Union vorerst gelöst. Selbst die Wiedervereinigung schien die deutsche Frage zunächst nicht aufkommen zu lassen.

Doch die Bedingungen, unter denen Deutschland eingebunden wurde, sind zunehmend nicht mehr gegeben, sagt Kagan. Trump verabschiedet sich vom Multilateralismus, in der EU gibt es allenthalben illiberale Tendenzen. Das stärke auch in Berlin die Tendenzen zu einer nationalistischen und militärisch gestützten Politik. Doch damit drohe in Europa die Wiederkehr der zerstörerischen Nationenkonkurrenz, befürchtet der US-Amerikaner Kagan.

Pause

In der Welt da draußen lärmt und tobt und schreibt es. Doch an dieser Stelle ist zuletzt nicht viel passiert. Das hat mehrere Gründe.

Es fehlte, erstens, schlicht die Zeit. Denn auch im Leben des Zeittotschlägers lärmt und tobt und schreit es.

Zweitens musste sich der Zeitttotschläger über vieles zunächst selbst einen klaren Kopf verschaffen (was nur bedingt gelang). In dieser Zeit behaupten allzu viele über sich, zumal im Internet, dass sie Dinge durchschaut, Rätsel gelöst und den Nebel durchdrungen hätten. Während der Zeittotschläger sich zuweilen gern in den Nebeln verliert.

Auch weil, drittens, vor lauter Vita activa, zu wenig Zeit blieb für Vita contemplativa.

Und fünftens stellte sich die Frage: Ist ein solch anachronistisches Projekt wirklich noch zeitgemäß?

Doch: Den Zeittotschläger schert das Zeitgemäße nicht, er hat bisweilen Freude an Anachronismen - und demnächst vielleicht auch wieder etwas mehr Zeit zur Kontemplation.

Mittwoch, 13. Februar 2019

Kreuzberg

Die Trödler räumen die Nachlässe aus
Es riecht nach Kebab, Schnaps und Tod
Und jeder wacht morgens doch lieber auf
Und kämpft um das tägliche Brot
Im Sommer hocken sie vor den Häusern
Und warten, daß etwas geschieht
Menschen, die schon lang gewartet haben
Auf etwas, das uns allen blüht

         Kreuzberg liegt im Westen von Berlin
         Berlin liegt im Osten von Babylon
         Es steht auf allen Mauern geschrieben:
         Was andre kriegen, das war hier schon

Hier bleibt das Leben, was es immer war
Es hat ein vertrautes Gesicht
Die Toten loben die Dunkelheit
Die Lebenden brauchen mehr Licht

In tausend Kneipen dröhnt der alte Beat
Die Hunde kriegen auch ihr Bier
Dann wanken sie zusammen durch die Nacht
Mann, Frau, Vergangenheit und Tier

         Kreuzberg liegt im Westen von Berlin
         Berlin liegt im Osten von Babylon
         Es steht auf allen Mauern geschrieben:
         Was andre kriegen, das war hier schon

(Jörg Fauser)

Samstag, 9. Februar 2019

High Fidelity No. 10: Fünf Bücher...

Im Höllental.

1. Hans Fallada - Jeder stirbt für sich allein: Falladas wohl wichtigster Roman handelt von einem Berliner Pärchen, das in der Zeit des Nationalsozialismus Widerstand übt, indem es Botschaften auf Postkarten schreibt und in der ganzen Stadt verteilt. Ein beklemmendes Buch, das die Sprache der einfachen Leute wiedergibt, auf Tatsachen beruht, bereits kurz nach dem Untergang des Dritten Reiches erschien und die ganze Menschenfeindlichkeit dieses Regimes im Alltag spürbar macht - ohne dabei auf seine historischen Groß-Verbrechen eingehen zu müssen. (Hier die ausführliche Rezi.) 

2. Heinrich Mann - Der Untertan:
Selten wurde die deutsche Untertanen-Mentalität besser beschrieben als in Manns "Untertan". Ein detailliertes Sittenbild des Deutschen Reiches am Ende des 19. Jahrhunderts, das den unaufhaltsamen Aufstieg des kaisertreuen Patrioten und Opportunisten Diedrich Heßling beschreibt. Ein abstoßender Charakter, den Mann in seiner ganzen gefährlichen Lächerlichkeit zeigt. Genauen Beobachtern dürften dabei gewisse Parallelen mit der Jetzt-Zeit nicht entgehen.

3. Karl-Ove Knausgard - Sterben:
Das autobiografische Projekt von Knausgard literarisiert den Alltag des Norwegers. Viel passiert in diesen Büchern meist nicht. Das gilt auch für "Sterben". Im Mittelpunkt steht hier Knausgards Kindheit und Jugend sowie sein Vater, zu dem er eine sehr komplizierte Beziehung hatte und der jämmerlich am Alkohol zu Grunde ging. Die Abgründe sind fürchterlich - und Knausgard schont den Leser nicht, sondern schreibt alles nüchtern (sic!) auf. Wenn er auf 50 Seiten darüber erzählt, wie er gemeinsam mit seinem Bruder das großmütterliche, komplett verwahrloste Haus aufräumt, in dem der Vater zuletzt gehaust hat, dann ist das durchaus große Literatur.

4. Benjamin von Stuckrad-Barre - Panikherz:
Ein autobiografischer Roman, der (im Gegensatz zu Knausgard) nicht die Tiefe im Alltäglichen findet, sondern eher einer (fast nie) enden wollenden Party gleicht. Eine solche war das Leben von Stuckrad-Barre im Grunde lange Zeit auch. Schien sich der Pfarrersjunge doch früh bewusst zu sein, dass er das Zeug zu Größerem hat. So reüisserte er bereits in jungen Jahren als Journalist, Fernsehmann und Romanautor. Doch die Party wollte irgendwann wirklich nicht mehr enden. Kokain, Bulimie und Alkohol hatten Stuckrad-Barre schließlich jahrelang völlig im Griff. Schonungslos schreibt er über diese Zeit hart am Abgrund. Seine Rettung? Ausgerechnet Udo Lindenberg. Der Sänger und die Drogen nehmen dann auch den größen Platz ein in diesem durchaus lesenswerten Buch. 

5. Christian Y. Schmidt - Der letzte Huelsenbeck:
In seinem ersten Roman lässt der ehemalige Titanic-Redakteur den Dadaismus wieder aufleben - und begibt sich auf eine irrwitzige innere Reise mit seinem Protagonisten Daniel S., der hinter einer Amerika-Fahrt mit seinen früheren Dada-Freunden ein Geheimnis wittert, das seine Lebenskrise erklärt. Auf dieser Suche fährt er unter anderem die Berliner U-Bahn nach den Methoden des Special Agents Dale Cooper (aus Twin Peaks) ab. Realität und Fantasie verschwimmen im Laufe dieses psychotischen Horror-Trips immer mehr. Keine Weltliteratur, aber ich hab's verschlungen.

...Und eine Enttäuschung: 
Alexander Schimmelbusch - Hochdeutschland: Hätte das Buch zur Zeit werden können, wenn der Autor sich nicht unnötig in Details verlieren würde, sondern an seinem Plot gearbeitet hätte. Ein hochintelligenter, gelangweilter, zynischer und unglücklicher Investmentbanker macht sich in der Geschichte Gedanken über Deutschland (das kaputt ist), formuliert schließlich ein Manifest und gründet eine populistische Bewegung. Das stellenweise regelrecht brilliante Buch leidet jedoch unter seiner Kürze. Gerade als es interessant wird, rafft Schimmelbusch die Handlung so zusammen, dass sie am Ende nicht mehr schlüssig wirkt. Dafür hat der Autor aber Zeit für mehrere Seiten inneren Monolog des Protagonisten über die Genialität des Döners oder das Geschäftsprinzip von Vapiano. Schade.

Freitag, 8. Februar 2019

Mixtape No. 17: Ich bin eine Krise


1. Ich bin eine Krise (Die Türen, 2019)
2. Intro (Swiss und die Anderen, 2016)
3. Gefahr (Rio Reiser, 1995)
4. Amelia (Joni Mitchell, 1976)
5. Schlichte Perfektion (Christian Rottler & Galakomplex, 2006)
6. Black lion (Makaya McCraven, 2018)
7. Bergschrund (DJ Shadow feat. Nils Frahm, 2016)
8. Weiter nicht (Drangsal, 2018)
9. No fair (Wipers, 1981)
10. The mysterious vanishing of Elektra (Anna von Hausswolff, 2018)
11. Fake / frei (Die Nervern, 2018)


...und das ganze wieder als Youtube-Playlist sowie als Spotify-Playlist (leider ohne Song No. 2)