Dienstag, 27. Mai 2008

Sozialdemokratie


"Der eigentümliche Charakter der Sozial-Demokratie faßte sich dahin zusammen, daß demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Maßregeln zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutionären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums. Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muß sich ebensowenig vorstellen, daß die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihre Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, daß sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, daß sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben."
aus: Marx, Karl: Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), S. 141f.

Montag, 12. Mai 2008

Vom Chinabild der Medien



Angesichts der tibetischen Proteste schien die bundesdeutsche Presse wie gleichgeschaltet. Täglich aufs Neue wurde über die Grausamkeit des brutalen chinesischen Unterdrückungsregimes berichtet. Ein Urteil schien schnell gefällt: China auf der Anklagebank.

Der immanente Widerspruch in der moralisierenden westlichen Berichterstattung ist und bleibt die Doppelmoral mit der Opfer- und Täterschemata vermischt werden. Denn wir erinnern uns: die Vorfälle der vergangenen Monate begannen mit einem Gewaltausbruch von Tibetern gegen Han und Hui, vorwiegend Händler. Ein wütender Mob zog brandschatzend durch die Straßen Lhasas, etliche unschuldige Hui und Han ließen dabei ihr Leben. Die Bilder aus Lhasa ließen eher Erinnerungen an Clichy-sous-Bois als an Tiananmen aufkommen. In den deutschen Medien fand dies allerdings, wenn überhaupt, nur am Rande Erwähnung. Stattdessen schoss sich die Presse auf die chinesischen Sicherheitskräfte ein. Tibet sei eine chinesische Kolonie, besetzt und in jeglicher Hinsicht unterdrückt.

Allerdings: Tibet ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert Teil von China. Lediglich während der turbulenten Jahre des Bürgerkriegs und der Selbstfindung zwischen 1913 und 1950 war Tibet wirklich autonom, wenn auch von keinem Staat der Welt anerkannt. Was gemeinhin als Besatzung von Tibet bezeichnet wird - der Einmarsch der Volksbefreiungsarmee anno 1950 - war nicht weniger als eine militärische Wiederangliederung eines schwer zugänglichen und deshalb in den Kriegswirren vergessenes Stück Land.

Das "alte Tibet" umweht allerdings eine solch starke Mystik, dass eine objektive Berichterstattung darüber nahezu unmöglich erscheint. Die publizierte Meinung schwankt dabei stets zwischen einer Glorifizierung des weltentrückten Gebirgsreiches als mythisches "Shangri-La" und der Dämonisierung als feudales, mittelalterliches Sklavensystem. Dass aus dem alten Tibet kaum säkulare Schriften überliefert sind, dafür aber umso mehr Reiseberichte westlicher wie östlicher Provenienz existieren, macht eine Bewertung der Lage kaum einfacher. Wirklich objektive Berichte über das Leben existieren wenige und so werden stets aufs Neue Bilder konstruiert.

Der Buddhismus, insbesondere dessen tibetische Variante, scheint zudem die letzte, unhinterfragbare Religion zu sein. Für auch nur einen kritischen Artikel über die alles andere als paradiesisch anmutende Herrschaft der Dalai Lamas im alten Tibet - oder gar seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, muss man die ach so kritische deutsche Medienlandschaft schon sehr sorgfältig durchforsten. Es gilt als unerwünscht, kritische Fragen über den Friedensnobelpreisträger zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, ins politische Abseits zu geraten, wie Christiane Schneider, die im Hamburger Parlament daran erinnerte, dass die Weltgemeinschaft mit politischen Religionsführern keine all zu guten Erfahrungen gesammelt hätte.

Viel zu lesen war auch von der Unterdrückung der tibetischen Kultur, der Dalai Lama verstieg sich gar zu der Aussage, Bejing betriebe "kulturellen Völkermord". Nicht von der Hand zu weisen sind natürlich die Veränderungen traditioneller tibetischer Lebensformen als Resultat der Öffnung der Region sowohl für in- und ausländische Touristen als auch für Investitionen – was die meisten Tibeter auch nicht prinzipiell ablehnen. Vor allem Lhasa hat sich in den letzten Jahrzehnten durch den Zuzug wirtschaftlich erfolgreicherer Han stark verändert. Nur schaffen die neuen Möglichkeiten eben auch neue (v.a. ökonomische) Disparitäten, und diese scheinen wohl viel mehr Ursache der Unruhen zu sein als eine wie auch immer geartete kulturelle Unterdrückung.

Wenig bis überhaupt nichts zu lesen war dagegen von den Fortschritten, die dank chinesischer Hilfe in Tibet erreicht wurden: der Verbesserung des Lebensstandards (die Autonome Provinz Tibet ist nicht mehr ärmste Provinz Chinas), dem Bau von Krankenhäusern und Schulen, den Infrastrukturmaßnahmen, der Befreiung von jeglichen Steuern, der Bevorzugung von Tibetern (wie allen übrigen Minderheiten) im Hochschulsystem. Tibet ist dank der chinesischen Führung in der Moderne - mit all ihren positiven und negativen Begleiterscheinungen - angekommen. 81 Prozent der Kinder in Tibet besuchen inzwischen eine Schule, während dies im alten Tibet nur einer verschwindend geringen Minderheit möglich war. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute bei 67 Jahren, während im alten Tibet nur wenige das vierzigste Lebensjahr überschritten haben. Und nicht zuletzt verzeichnete die tibetische Bevölkerung einen sprunghaften Zuwachs – schließlich ist sie (wie alle Minderheiten im Vielvölkerstaat) von der Ein-Kind-Politik ausgeschlossen, so dass sie sich in den letzten fünfzig Jahren auf 2,5 Millionen verdoppelte. Alle offiziellen Zahlen sind natürlich nur unter Vorbehalt zu genießen…

Von alldem war in den großen Leitmedien der Republik wenig bis gar nichts zu lesen. Die Journalisten dieses Landes sollten sich selbstkritisch fragen, weshalb sie von alldem nicht ausgewogen berichten und stattdessen lautstarkes China-Bashing betreiben. Denn damit ist weder dem Westen, noch China und schon gar nicht den Tibetern geholfen…

P.S. Einen sehr treffenden Artikel zur selben Thematik gibt es von Altbundeskanzler Helmut Schmidt in der aktuellen Ausgabe der ZEIT zu lesen: Tibet als Prüfstein