Montag, 12. Mai 2008

Vom Chinabild der Medien



Angesichts der tibetischen Proteste schien die bundesdeutsche Presse wie gleichgeschaltet. Täglich aufs Neue wurde über die Grausamkeit des brutalen chinesischen Unterdrückungsregimes berichtet. Ein Urteil schien schnell gefällt: China auf der Anklagebank.

Der immanente Widerspruch in der moralisierenden westlichen Berichterstattung ist und bleibt die Doppelmoral mit der Opfer- und Täterschemata vermischt werden. Denn wir erinnern uns: die Vorfälle der vergangenen Monate begannen mit einem Gewaltausbruch von Tibetern gegen Han und Hui, vorwiegend Händler. Ein wütender Mob zog brandschatzend durch die Straßen Lhasas, etliche unschuldige Hui und Han ließen dabei ihr Leben. Die Bilder aus Lhasa ließen eher Erinnerungen an Clichy-sous-Bois als an Tiananmen aufkommen. In den deutschen Medien fand dies allerdings, wenn überhaupt, nur am Rande Erwähnung. Stattdessen schoss sich die Presse auf die chinesischen Sicherheitskräfte ein. Tibet sei eine chinesische Kolonie, besetzt und in jeglicher Hinsicht unterdrückt.

Allerdings: Tibet ist spätestens seit dem 17. Jahrhundert Teil von China. Lediglich während der turbulenten Jahre des Bürgerkriegs und der Selbstfindung zwischen 1913 und 1950 war Tibet wirklich autonom, wenn auch von keinem Staat der Welt anerkannt. Was gemeinhin als Besatzung von Tibet bezeichnet wird - der Einmarsch der Volksbefreiungsarmee anno 1950 - war nicht weniger als eine militärische Wiederangliederung eines schwer zugänglichen und deshalb in den Kriegswirren vergessenes Stück Land.

Das "alte Tibet" umweht allerdings eine solch starke Mystik, dass eine objektive Berichterstattung darüber nahezu unmöglich erscheint. Die publizierte Meinung schwankt dabei stets zwischen einer Glorifizierung des weltentrückten Gebirgsreiches als mythisches "Shangri-La" und der Dämonisierung als feudales, mittelalterliches Sklavensystem. Dass aus dem alten Tibet kaum säkulare Schriften überliefert sind, dafür aber umso mehr Reiseberichte westlicher wie östlicher Provenienz existieren, macht eine Bewertung der Lage kaum einfacher. Wirklich objektive Berichte über das Leben existieren wenige und so werden stets aufs Neue Bilder konstruiert.

Der Buddhismus, insbesondere dessen tibetische Variante, scheint zudem die letzte, unhinterfragbare Religion zu sein. Für auch nur einen kritischen Artikel über die alles andere als paradiesisch anmutende Herrschaft der Dalai Lamas im alten Tibet - oder gar seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, muss man die ach so kritische deutsche Medienlandschaft schon sehr sorgfältig durchforsten. Es gilt als unerwünscht, kritische Fragen über den Friedensnobelpreisträger zu stellen. Wer dies tut, läuft Gefahr, ins politische Abseits zu geraten, wie Christiane Schneider, die im Hamburger Parlament daran erinnerte, dass die Weltgemeinschaft mit politischen Religionsführern keine all zu guten Erfahrungen gesammelt hätte.

Viel zu lesen war auch von der Unterdrückung der tibetischen Kultur, der Dalai Lama verstieg sich gar zu der Aussage, Bejing betriebe "kulturellen Völkermord". Nicht von der Hand zu weisen sind natürlich die Veränderungen traditioneller tibetischer Lebensformen als Resultat der Öffnung der Region sowohl für in- und ausländische Touristen als auch für Investitionen – was die meisten Tibeter auch nicht prinzipiell ablehnen. Vor allem Lhasa hat sich in den letzten Jahrzehnten durch den Zuzug wirtschaftlich erfolgreicherer Han stark verändert. Nur schaffen die neuen Möglichkeiten eben auch neue (v.a. ökonomische) Disparitäten, und diese scheinen wohl viel mehr Ursache der Unruhen zu sein als eine wie auch immer geartete kulturelle Unterdrückung.

Wenig bis überhaupt nichts zu lesen war dagegen von den Fortschritten, die dank chinesischer Hilfe in Tibet erreicht wurden: der Verbesserung des Lebensstandards (die Autonome Provinz Tibet ist nicht mehr ärmste Provinz Chinas), dem Bau von Krankenhäusern und Schulen, den Infrastrukturmaßnahmen, der Befreiung von jeglichen Steuern, der Bevorzugung von Tibetern (wie allen übrigen Minderheiten) im Hochschulsystem. Tibet ist dank der chinesischen Führung in der Moderne - mit all ihren positiven und negativen Begleiterscheinungen - angekommen. 81 Prozent der Kinder in Tibet besuchen inzwischen eine Schule, während dies im alten Tibet nur einer verschwindend geringen Minderheit möglich war. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute bei 67 Jahren, während im alten Tibet nur wenige das vierzigste Lebensjahr überschritten haben. Und nicht zuletzt verzeichnete die tibetische Bevölkerung einen sprunghaften Zuwachs – schließlich ist sie (wie alle Minderheiten im Vielvölkerstaat) von der Ein-Kind-Politik ausgeschlossen, so dass sie sich in den letzten fünfzig Jahren auf 2,5 Millionen verdoppelte. Alle offiziellen Zahlen sind natürlich nur unter Vorbehalt zu genießen…

Von alldem war in den großen Leitmedien der Republik wenig bis gar nichts zu lesen. Die Journalisten dieses Landes sollten sich selbstkritisch fragen, weshalb sie von alldem nicht ausgewogen berichten und stattdessen lautstarkes China-Bashing betreiben. Denn damit ist weder dem Westen, noch China und schon gar nicht den Tibetern geholfen…

P.S. Einen sehr treffenden Artikel zur selben Thematik gibt es von Altbundeskanzler Helmut Schmidt in der aktuellen Ausgabe der ZEIT zu lesen: Tibet als Prüfstein

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Endlich mal wieder was halbwegs interessantes auf deinem Blog, der ist ja schwer eingeschlafen in letzter Zeit...

Haarige Geschichte das mit China. Aber Gegenmeinungen gibt es durchaus, z.B. hier: http://www.sopos.org/aufsaetze/47ec2f04dbb2c/1.phtml

Oder lies zur Abwechslung einfach mal nicht nur die üblichen Verdächtigen, die sind eh alle gekauft ;-)

Anonym hat gesagt…

Interessant auch, was Slavoj Zizek zu diesem Thema schreibt (aus der englischen LMD, 5/2oo8):

What if China now is our past and future?

TIBET: DREAM AND REALITY

The West is projecting not only its own spiritual fantasies upon Tibet, but its own economic fears upon China, imagining a power struggle quite different from that which has actually happened in Tibet. We have to learn to look at Tibet as it is – and China too.

By Slavoj Zizek

All the media reports impose an image which goes like this: the People’s Republic of China, which illegally occupied Tibet in 1950, engaged for decades in brutal and systematic destruction not only of the Tibetan religion, but of the identity of Tibetans as a free people. Recently the protests of the Tibetan people against Chinese occupation were again crushed with brutal police and military force. Since China is organising the 2008 Olympic games, it is the duty of all of us who love democracy and freedom to put pressure on China to return to the Tibetans what it stole from them. A country with such a dismal human rights record cannot be allowed to whitewash its image with the noble Olympic spectacle.

What are our governments going to do? Will they, as usual, cede to economic pragmatism, or will they gather the strength to put our highest ethical and political values above short-term economic interests? While the Chinese authorities did no doubt commit many acts of murderous terror and destruction in Tibet, some things disturb this simple “good guys versus bad guys” image. Here are nine points which anyone passing judgment on recent events in Tibet should bear in mind:

1. Tibet, an independent country until 1950, was not suddenly occupied by China. The history of its relations with China is long and complex, with China often acting as a protective overlord – the anti-Communist Kuomintang also insisted on Chinese sovereignty over Tibet. (The term “Dalai Lama” bears witness to this interaction: it combines the Mongolian dalai – ocean – and the Tibetan bla-ma.)

2. Before 1950 Tibet was no Shangri-la, but a country of harsh feudalism, poverty (life expectancy was barely 30), corruption and civil wars (the last, between two monastic factions, was in 1948 when the Red Army was already knocking at the door). Fearing social unrest and disintegration, the ruling elite prohibited any development of industry, so all metal had to be imported from India. This did not prevent the elite from sending their children to British schools in India and transferring financial assets to British banks there.

3. The Cultural Revolution which ravaged the Tibetan monasteries in the 1960s was not imported by the Chinese. Fewer than a hundred of the Red Guards came to Tibet with the revolution, and the young mobs burning the monasteries were almost exclusively Tibetan.

4. Since the early 1950s there has been systematic and substantial CIA involvement in stirring up anti-Chinese troubles in Tibet, so Chinese fears of external attempts to destabilise Tibet are not irrational (1).

5. As television images show, what is going on now in Tibetan regions is no longer a peaceful “spiritual” protest of monks as in Burma over the last year, but also gangs burning and killing ordinary Chinese immigrants and their stores. We should measure the Tibetan protests by the same standards as we measure other violent protests: if Tibetans can attack Chinese immigrants, why can’t the Palestinians do the same to the Israeli settlers on the West Bank?

6. The Chinese invested heavily in Tibetan economic development, as well as infrastructure, education and health services. Despite undeniable oppression, the average Tibetan has never enjoyed such a standard of living as today. Poverty is now worse in China’s own undeveloped western rural provinces than in Tibet.

7. In recent years the Chinese changed their strategy in Tibet: depoliticised religion is now tolerated, often even supported. The Chinese rely more on ethnic and economic colonisation, rapidly transforming Lhasa into a Chinese capitalist Wild West with karaoke bars and Disney-like “Buddhist theme parks” for western tourists. What the media image of brutal Chinese soldiers and policemen terrorising the Buddhist monks conceals is a far more effective American-style socioeconomic transformation. In a decade or two Tibetans will be reduced to the status of Native Americans in the United States.

It seems the Chinese Communists finally learned the lesson: what is the oppressive power of secret police, camps and Red Guards destroying ancient monuments, compared to the power of unbridled capitalism to undermine all traditional social relations? The Chinese are doing what the West has always done, as Brazil did in the Amazon or Russia in Siberia, and the US on its own western frontiers.

8. A main reason why so many in the West have taken part in the protests against China is ideological: Tibetan Buddhism, deftly spun by the Dalai Lama, is a major point of reference of the New Age hedonist spirituality which is becoming the predominant form of ideology today. Our fascination with Tibet makes it into a mythic place upon which we project our dreams. When people mourn the loss of the authentic Tibetan way of life, they don’t care about real Tibetans: they want Tibetans to be authentically spiritual on behalf of us so we can continue with our crazy consumerism.

The philosopher Gilles Deleuze wrote: “If you are snagged in another’s dream, you are lost.” The protesters against China are right to counter the Beijing Olympics motto of “one world, one dream” with “one world, many dreams”. But they should be aware that they are imprisoning Tibetans in their own dream. It is not the only dream.

9. If there is an ominous dimension to what is going on now in China, it is elsewhere. Faced with today’s explosion of capitalism in China, analysts often ask when political democracy, as the “natural” political accompaniment of capitalism, will come.
Valley of tears

In a television interview a couple of years ago, the sociologist Ralf Dahrendorf linked the growing distrust of democracy in post-Communist east European countries to the fact that, after every revolutionary change, the road to new prosperity leads through a valley of tears. After the breakdown of socialism, one cannot directly pass to the abundance of a successful market economy. The limited but real socialist welfare and security have to be dismantled, and these first steps are necessarily painful.

For Dahrendorf, this painful passage lasts longer than the average period between (democratic) elections, so that the temptation is great to postpone the difficult changes for the short-term electoral gains. Fareed Zakaria, editor of Newsweek International, pointed out (2) that democracy can only catch on in economically developed countries: if developing countries are prematurely democratised, the result is a populism which ends in economic catastrophe and political despotism. No wonder the three formerly third world countries that are the most successful economically – Taiwan, South Korea, Chile – embraced full democracy only after a period of authoritarian rule.

There is a further paradox: what if the promised democratic second stage that follows the authoritarian valley of tears never comes? This is the most unsettling thing about China. There is the suspicion that its authoritarian capitalism is not merely a reminder of our past, the repetition of the process of capitalist accumulation which in Europe went on from the 16th to the 18th century, but a sign of the future. What if the “vicious combination of the Asian knout and the European stock market” proves economically more efficient than our liberal capitalism? Might it signal that democracy, as we understand it, is no longer a condition and motor of economic development, but an obstacle?

Anonym hat gesagt…

Freude habe ich beim Lesen gespürt.
Eine differenziertere und (literarisch) schön geschriebene Analyse des Chinabildes ist eine Rarheit. Meine Bewunderung.
Eine Chinesin in Beijing