Montag, 30. April 2007

Geld oder Leben?

Vergangenen Freitag fand mitten im Deutschen Bundestag eine recht eindrucksvolle Protestaktion statt, die an dieser Stelle durchaus Erwähnung verdient. Eine bisher noch nicht in Erscheinung getretene Gruppe von politischen Aktivisten namens „Geld oder Leben“ prangerte dort auf provokative Weise den Verlust bzw. den Mangel an "echter" Demokratie in dieser Republik an und äußerte im Gegenzug ihr Verlangen nach mehr Basisdemokratie und einer Zurückdrängung der Wirtschaft aus Gesellschaft und Politik. Ein in klarem linkem Duktus verfasstes dazugehöriges Pamphlet kursiert seit kurzem im Internet. Hier der Originalwortlaut:

„Junge politische Menschen setzen ein Zeichen vor und in dem Bundestag. Die Betitelung der Aktivisten als „Humankapital“, das Verstreuen von Geld und das Entrollen von Bannern mit Sprüchen wie „Die Wünsche der Wirtschaft sind unantastbar“ sollen verdeutlichen, dass der Bundestag lediglich das Ausführungsorgan der großen Unternehmen ist und keine freiheitliche, demokratische Institution darstellt. Dieses Bild wird dadurch verstärkt, dass auf dem Dach des Reichstags der Schriftzug „Dem deutschen Volke“ durch das Banner „Der deutschen Wirtschaft“ ersetzt wird. Ziel dieser Aktion ist es, einen Diskurs anzustoßen, der die Scheindemokratie kritisch hinterfragt und mit Vehemenz gesellschaftspolitische Veränderungen durchsetzt. Wir fühlen uns durch die Größe der Probleme zu dieser Aktion genötigt.

Wir üben harte und tiefgreifende Kritik am bestehenden politischen System.

Schon in der Schule wird uns beigebracht, dieses System eine Demokratie zu nennen. Es soll eine Herrschaft aller darstellen. Diese Herrschaft beschränkt sich dann aber in der Praxis darauf, einmal in vier Jahren wählen zu dürfen. Eine Weiterentwicklung des Systems ist offenbar nicht angedacht. Diese parlamentarische Demokratie ist keine Demokratie, sondern eine Scheindemokratie: Die WählerInnen werden nicht als teilnehmendes Element am gesellschaftlichen Aufbau betrachtet, sondern nur als passive KonsumentInnen, die über unterschiedliche Marketingstrategien der Parteien zu urteilen haben.

Die Regierung hat kein Vertrauen in die Bevölkerung, sie kontrolliert sie, setzt sie immer stärker einem Allgemeinverdacht aus und schafft ein Klima der Angst. Die Parteien haben sich von weitergehenden Visionen verabschiedet und leben nur noch in einer engen Welt der Realpolitik. Die Menschen reagieren mit Politikverdrossenheit auf die zunehmende Ununterscheidbarkeit der Parteien. Politik fungiert nur noch als Verwalterin der Wirtschaft, als Ausführungsorgan der großen Unternehmen. Das liegt einerseits am massiven Lobbyismus der Unternehmen, welcher mit viel Geld betrieben wird, andererseits an der erstaunlichen großen Schnittmenge von Abgeordnetenmandaten und Aufsichtsratposten. Entscheidenden Problemen wie Klimawandel, Armut und Perspektivlosigkeit begegnet die Scheindemokratie mit staunender Unfähigkeit. Der eingeschlagene Weg der kleinen Reformen bewirkt, wenn überhaupt, negative Entwicklungen und dreht die Spirale des scheiternden Systems immer weiter.

Wir haben keine Hoffnung in die PolitikerInnen dieser Zeit, sie sind zu fest im System verankert, um über den Tellerrand blicken zu können. Sie unterstützen eine fatale Entwicklung. Die Entmündigung aller durch ihre sogenannten Vertreter muss zugunsten einer ständigen, politischen Einflussnahme der gesamten Bevölkerung abgeschafft werden. Es ist Schwachsinn, dass dieses System alternativlos ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen Politik leben und ein andauernder Diskurs grundlegende Veränderungen ermöglicht. Dafür ist eine radikale Form der Demokratie notwendig.

Statt der Entwicklung politischer Visionen zur Verbesserung der allgemeinen menschlichen Lebensumstände beherrscht ein unkritischer Wirtschaftsglaube das politische Handeln. Das heutige politische System hat das nationale Wirtschaftwachstum zum einzigen Maßstab politischen Erfolgs erkoren. Konsum gilt als Ausdruck individueller Selbstverwirklichung. Es handelt sich hierbei um ein System, das, in seiner einzig logischen Konsequenz, die Umwelt zerstören, soziale Ungleichheit verschärfen und das menschliche Leben in Formen pressen muss.
Der Mensch ist ein austauschbarer Funktionsträger in einer sinnlos wachsenden Wirtschaft, wer sich weigert oder scheitert, ist nur noch Abfall. In einer Gesellschaft, in der es wichtig ist, zu den Gewinnern zu gehören, bleibt immer eine Mehrheit von Verlierern übrig. Das Ideal des mobilen, flexiblen, motivierten und leistungsbereiten Menschen führt zu einer vereinzelten Gesellschaft, in der ein solidarisches Miteinander zugunsten eines wirtschafts-vergötternden Denkens dem Geld geopfert wird.

Gerade junge Menschen gestalten ihr Leben nur noch nach Bewerbungskriterien. Unter dem Damoklesschwert der Arbeitslosigkeit ordnen viele ihr Leben scheinbar freiwillig der wirtschaftlichen Verwertbarkeit unter.

Wir brauchen die Entkopplung von Arbeit und materieller Grundausstattung. Eine kostenlose Grundversorgung, sprich Bildung, Gesundheit, Wohnraum, Lebensmittel und Kultur, ist notwendig, um den Menschen ein freies und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen.

Die immer stärkere Einflussnahme der Wirtschaft auf Bildungseinrichtungen sowie die Orientierung vorgefertigter Lehrinhalte an ihrer ökonomischen Nutzbarkeit sind maßgeblich verantwortlich für eine geistige Verkümmerung und Normierung der Gesellschaft. Nicht soziales Denken, sondern Konkurrenz und Leistungsdruck bestimmen den Ausbildungsalltag. Ziel einer jeden freien und emanzipierten Gesellschaft muss es sein, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit und selbstbestimmten Meinungsbildung zu fördern. Dabei darf es Selektionskriterien wie solche nach sozialem Status, persönlichen Fähigkeiten, Geschlecht sowie religiösem, nationalem oder kulturellem Hintergrund, nicht mehr geben.

Während der Großteil der Weltbevölkerung in Armut lebt und durch transnationale Konzerne ausgebeutet wird, kaufen wir alle wesentlich mehr, als wir tatsächlich benötigen, als für uns ausreichend ist. Um den Menschen in eine den Rest der Welt und die Herstellung ihres Produkts ignorierende Kaufmaschine verwandeln zu können, bedient sich die Wirtschaft eines trickreichen Instruments: der Werbung. Werbung ist keine Produktinformation, sie ist Propaganda - subtile Propaganda, welche uns einen Lebensstil aufzwängen soll, der dem Unternehmen Gewinne beschert und der Volkswirtschaft gute Zahlen. Dass ein Geländewagen und Billigflüge den Klimawandel anheizen, Kleidung unter menschenrechtsverachtenden Zuständen entsteht, wird in dieser freundlichen Warenwelt nicht erwähnt. Wir lehnen Werbung ab. Die Öffentlichkeit muss einer politisierten Gesellschaft zurückgegeben werden.

Die Wirtschaft wird immer mehr von größeren Subjekten bestimmt und unterwirft alles ihrem Streben nach Gewinn. Hier an das nicht vorhandene Verantwortungsdenken der Unternehmen zu appellieren, greift zu kurz.
Den Konzernen muss der politische Einfluss und die Beherrschung öffentlicher Räume entrissen werden. Dabei ist eine Zerschlagung aller Konzerne notwendig, darunter verstehen wir eine Zerteilung und Vergesellschaftung. Die Gesellschaft könnte somit wieder selbständig handeln, ihren politischen Rahmen selbst definieren.

Wir verlangen, Utopien leben zu dürfen. Die Menschen sollten auf ihre Art und Weise leben und an der Gesellschaft partizipieren dürfen. Die fortschreitende technische Entwicklung und Produktivitätssteigerung würde der Bevölkerung ermöglichen, weniger zu arbeiten für das Lebensnotwendige und insgesamt mehr Freiräume zu haben. Der Einzelne muss den Glauben an die Gesellschaft, an einen Sinn in seinem Leben außerhalb des Geldbeutels wiederfinden.

Wir treten für eine Demokratie ein, die es Menschen gestattet, den politischen Rahmen und ihr Umfeld zu gestalten und mitzubestimmen. Wir treten für eine menschliche, ökologische und soziale Wirtschaft ohne Konzerne und eine solidarische, freie, emanzipatorische Gesellschaft ein.

Unsere Forderungen richten sich an keine herrschende Elite. Wir rufen zu einem öffentlichen Diskurs und zu einer neuen freien Bewegung auf. Mit dieser Aktion setzen wir ein Zeichen gegen das derzeitige System. Alle, die mit dem Bestehenden unzufrieden ist und die Hoffnung auf eine freie bessere Gesellschaft nicht aufgegeben hat, rufen wir auf, Widerstand zu leisten.

Geld oder Leben“

Donnerstag, 26. April 2007

"Die neurotische Nation"


Nach langen Jahren habe ich mir heute mal wieder aus Interesse (man sollte ja wissen, was der politische Gegner so denkt) die aktuelle Ausgabe der JUNGEN FREIHEIT, dem Zentralorgan aller Rechtsintellektuellen und solcher, die es noch werden wollen, gelesen. Dabei habe ich mich erwartungsgemäß an vielem gerieben, was dort in ein durchaus angenehmes Layout verpackt wurde, aber eine Sache stieß mir dabei mir dabei ganz besonders auf. Gleich auf der ersten Seite befindet sich ein Artikel über "die neurotische Nation" (der auch kostenlos auf deren Homepage verfügbar ist), in dem auf intellektuell durchaus hohem Niveau über das mangelnde Geschichtsbewusstsein der Deutschen sinniert wird. Die Quintessenz des Artikels: Wir befänden uns inzwischen in einer geschichtlichen Phase, in welcher der positiv besetzte bundesrepublikanische "Aufbaumythos" schon durch die Katastrophe des Holocaust als Gründungsmythos der Nation ersetzt wurde, und nun verstärkt nationale Artefakte banalisiert oder abgeschafft werden. Dieses ungesunde Verhältnis zur eigenen Nation - die Negierung des eigenen Selbst - führe letztlich zu seiner Schwächung: "Da im Trauerkultus und im Gedenken auch "die Dauer des menschlichen Wesens (über) die Verwesung" triumphiert, fordern ihre Leugner ihr eigenes, furchtbares Schicksal heraus. Denn welchen Grund haben sie den Nachkommenden hinterlassen, an ihnen einmal besser zu handeln? Während sie noch leben, vollzieht sich an ihnen bereits symbolisch eine Verwesung. Eine Ansammlung derartiger Individuen kann auf längere Sicht weder einen Staat noch eine Nation, auch keine Kultur-oder verfassungspatriotische Gemeinschaft bilden." So weit, so kritisch.

Aber ein Blick in den Kulturteil dieser jener berüchtigten Wochenzeitung lässt mich da doch an der Ernsthaftigkeit der Thesen zweifeln, befinden sich doch unter den vom JF-Buchdienst angeboten Büchern nahezu ausschließlich solche, die sich mit diesen verfluchten zwölf dunkelsten Jahren deutscher Geschichte beschäftigen. Schlägt da der kollektive Neurotizismus auf Redaktion und Leserschaft zurück? Oder ist es vielleicht gerade die Rechte, die das Gefühl hat, sich zwanghaft selbst vergewissern zu müssen, dass die Deutschen immer noch ein Recht auf nationale Selbstbestimmung und -bewusstsein haben (und damit wunderbar selbst an jener Perpetuierung der Auseinandersetzung teilnimmt), anstatt die Jahre des Dritten Reichs einfach zu akzeptieren und dem angeblich zu konstatierenden Opfermythos mit einem Geschichtsbewusstsein zu begegnen, das den Horizont über jene zwölf Jahre hinaus ausdehnt?

Dass die Rechte in Deutschland ein europaweit einmaliges Strukturproblem hat mag sicher eine Folge der Tabuisierung rechtsextremen Gedankengutes sein, welche natürlich auch auf alles zurückfällt, was tatsächlich jedoch "nur" rechtskonservativ ist. Das ist in der Tat ungesund. Aber ein anderer, mindestens genauso bedeutender Grund mag sein, dass sie hierzulande nie so recht mit ihren Paradoxien vernünftig umzugehen vermochte und im Endeffekt selbst jenem Phänomen anheimfiel, das sie doch im "politisch korrekten" Deutschland so sehr beklagt. Mich als Linken sollte das eigentlich freuen, im Umkehrschluss jedoch befördert die Tabuisierung natürlich auch eine Stigmatisierung, welche wiederum eine Radikalisierung zur Folge haben kann. Dies wäre ein möglicher Grund, weshalb sich gerade eine sozialrevolutionär-anti- kapitalistische Anti-System-Partei wie die NPD etablieren kann, während im restlichen Europa beinahe durchweg bürgerlich- wohlstandschauvinistische System-Parteien den Weg in die Parlamente fanden.

Sonntag, 22. April 2007

Manderlay: oder was ist Freiheit?



Mitte der Neunziger Jahre verfassten vier dänische Regisseure, unter ihnen Lars von Trier, ein Manifest, mit dem sie ein Gelübde ablegten wider den Geist des modernen Films mit seiner zunehmenden Wirklichkeitsverfremdung. Die Regeln von Dogma 95 hießen wie folgt:

1. Als Drehorte kommen ausschließlich Originalschauplätze in Frage, Requisiten dürfen nicht herbeigeschafft werden.
2. Musik muss im Film vorkommen (zum Beispiel als Spiel einer Band) und darf nicht nachträglich eingespielt werden.
3. Zur Aufnahme dürfen ausschließlich Handkameras verwendet werden.
4. Die Aufnahme erfolgt in Farbe, künstliche Beleuchtung ist nicht akzeptabel.
5. Spezialeffekte und Filter sind verboten.
6. Der Film darf keine Waffengewalt oder Morde zeigen.
7. Zeitliche oder lokale Verfremdung ist verboten – d.h. der Film spielt hier und jetzt.
8. Es darf sich um keinen Genrefilm handeln.
9. Das Filmformat muss Academy 35 mm sein.
10. Der Regisseur darf weder im Vor- noch im Abspann erwähnt werden.

Doch durch Dogville, den ersten Film seiner Amerika-Trilogie wurde das Dogma teilweise wieder durchbrochen. Als Kulisse diente lediglich eine aufs wesentliche reduzierte Theaterbühne, auf der mit einigen wenigen auf den Boden geschriebenen Wörtern und Linien der Schauplatz, jenes gottverlassene Dorf in der amerikanischen Provinz namens Dogville, dargestellt wurde. Eben jene Reduktion, und die einfache, aber harte Geschichte von Ausgrenzung und Erniedrigung waren es, die den Film so radikal machten. Manderlay verkörpert sowohl inhaltlich wie darstellerisch die Fortsetzung dieses düsteren, ersten Amerikafilms.

Der Film thematisiert die alte Freiheitsproblematik explizit an einem erschreckend rückständigen amerikanischen Dorf der Dreißiger Jahre, in dem, als hätte es den Amerikanischen Bürgerkrieg nie gegeben, die Sklaverei noch immer existiert. Grace, die weiße Hauptprotagonistin schafft diese – mithilfe der Waffengewalt ihres kriminellen Vaters und eines guten Advokaten – ab und hofft auf den Freiheitswillen der schwarzen Bewohner des Dorfes. Sie führt Regeln der Demokratie ein, will den ehemaligen Sklaven die positiven Seiten der Freiheit und der Demokratie nahe legen. Doch „Mam’s Law“, das ehemalige Manifest der Unterdrückung (in dem die „Nigger“ nach sieben Kategorien eingeteilt und dementsprechend behandelt wurden) übt weiterhin Macht über die ehemals Unfreien aus. Sie verhalten sich nicht so, wie es sich die liberale, progressive Humanistin, die mit dem Gefühl handelt, über hundert Jahre Unterdrückung sühnen zu müssen, erhofft hatte. So konnte sie zwar die physischen Ketten, die geistigen allerdings blieben bestehen, denn: „Wir sind, wozu sie uns gemacht haben!“ Und so bleiben die Menschen auch in der Freiheit ganz bewusst Sklaven: "Amerika war vor siebzig Jahren nicht bereit, uns Neger als Gleiche willkommen zu heißen, und ist es immer noch nicht. (...) Ich habe Angst, dass die Erniedrigung, die dieses Land für uns freie Schwarze bereit hält, jede Vorstellung überschreiten wird. Also haben wir abgestimmt. Und wir haben uns dafür entschieden, auf Manderlay einen Schritt rückwärts zu gehen und das alte Gesetz wieder einzuführen."

Die Handlung von Manderlay ist größtenteils angelehnt an Pauline Réages Histoire d'O: Eine Gruppe von Schwarzen, denen vor kurzem vom Gesetz die Freiheit geschenkt wurde, wendet sich an ihren ehemaligen Herrn, den sie darum bitten, sie wieder als Sklaven aufzunehmen. Doch dieser weigert sich, niemand weiß, ob aus Furcht oder aus Skrupel, oder einfach weil er ein gesetzestreuer Bürger war. Seine früheren Sklaven begannen nun, Gewalt auszuüben. Nachdem ihre vorsichtigen Versuche keinen Erfolg hatten, massakrierten sie ihren ehemaligen Herrn und dessen Familie. In der selben Nacht zogen die Schwarzen wieder in ihre ehemaligen Quartiere, wo sie damit fortfuhren, ihrer einstigen Arbeit so nachzugehen, wie sie es vor der Abschaffung der Sklaverei getan hatten.

Der Film hat, im Gegensatz zu Dogville, keine eindeutigen oder einfachen Antworten zu bieten. Er lässt den Zuschauer etwas ratlos zurück, auch da sich gegen Ende die Rollen vertauschen. Er provoziert, da er die üblichen Denkmuster verwirft. Manderlay ist ein schmutziger, hässlicher Ort, auf den zu schauen man, wie bei ein hässlichen Ekzem, lieber verzichten mag. Aber er existiert noch in viel zu vielen Köpfen. Wann sind Menschen wirklich bereit für die Freiheit? Und wenn sie es sind, was machen sie mit ihrer Freiheit? Dass sie leider sehr oft die schlimmste Barbarei gebiert, dass sich Menschen, die plötzlich in Freiheit leben, aber noch nicht dazu bereit sind, mitunter fatal verhalten, zeigt die Menschheitsgeschichte ja nur zu deutlich...

Samstag, 21. April 2007

Musik...

...für ein Appartement und sechs Schlagzeuger. Ein Kurzfilm von Ola Simonsson und Johannes Stjärne Nilsson. Wirklich erstaunlich, was sich so alles mit Haushaltsgegenständen machen lässt.

Sonntag, 15. April 2007

Schreiben Sie so über Afrika!

Als ich vor kurzem wieder einmal in dem wunderbaren Bildband "Unterwegs in Afrika" von Michael Martin und Andreas Allmann blätterte und einige der Geschichten las, kam mir folgender bitterböser Artikel des kenianischen Schriftstellers Binyavanga Wainaina wieder in den Kopf, der Anfang letzten Jahres in diversen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurde:

Schreiben Sie so über Afrika!
Stöhnen ist gut: Eine Anleitung

Verwenden Sie im Titel die Worte "Afrika", "Finsternis" oder "Safari", im Untertitel können außerdem Begriffe wie "Sansibar", "Nil", "Groß", "Himmel", "Schatten", "Trommel" oder "Sonne" auftauchen. Immer hilfreich sind Wörter wie "Guerillas", "zeitlos", "ursprünglich" oder "Stamm". Zeigen Sie niemals das Bild eines modernen Afrikaners auf dem Buchumschlag, es sei denn, er hätte den Nobelpreis gewonnen. Verwenden Sie stattdessen: eine Kalaschnikow, hervortretende Rippen, nackte Brüste. Falls Sie tatsächlich einen Afrikaner abbilden müssen, nehmen Sie einen Massai, Zulu oder Dogon.

In Ihrem Text sollten Sie Afrika als ein einziges Land behandeln. Es sollte heiß und staubig sein mit wogenden Weiden, riesigen Tierherden und großen, dürren Menschen, die Hunger leiden. Oder heiß und schwül mit sehr kleinen Menschen, die Affen essen. Verzetteln Sie sich nicht in detaillierten Beschreibungen. Afrika ist groß: 54 Länder und 900 Millionen Menschen, die viel zu sehr damit beschäftig sind, zu hungern, zu sterben, zu kämpfen und auszuwandern, als dass sie Zeit hätten, Ihr Buch zu lesen. Der Kontinent ist randvoll mit Wüsten, Regenwald, Savanne und vielem anderem, aber Ihrem Leser ist das egal, deshalb beschränken Sie sich am besten auf romantische, raunende und eher unspezifische Darstellungen. Betonen Sie, wie tief Musik und Rhythmus in der afrikanischen Seele verwurzelt sind, und bemerken Sie, dass Afrikaner Dinge essen, die niemand sonst runterbringt. Kein Wort über Reis, Rindfleisch oder Weizen. Zur afrikanischen Cuisine gehört Affenhirn, außerdem Ziege, Schlange, Würmer, Larven und jede Sorte Wild. Lassen Sie den Leser wissen, wie Sie gelernt haben, alles dies zu essen und sogar zu genießen. Weil Ihnen daran liegt. Enden Sie mit Mandela.

Tabu-Themen sind Alltag, Liebe (es sei denn, es ginge auch um Tod), afrikanische Schriftsteller oder Intellektuelle, Schulkinder, die nicht unter Ebola oder anderen schlimmen Krankheiten leiden. Der Ton Ihres Buches sollte gedämpft sein und eine gewisse Komplizenschaft mit dem Leser zum Ausdruck bringen. Ihre Haltung ist ein betrübtes "Ich-hatte-so-viel-erwartet". Erwecken Sie früh den Eindruck einer zutiefst liberalen Grundeinstellung, und kommen Sie rasch auf Ihre unerschütterliche Liebe zu Afrika zu sprechen. Afrika ist der einzige Kontinent, den Sie lieben dürfen - machen Sie was draus! Wenn Sie ein Mann sind, werfen Sie sich dem jungfräulichen Regenwald in die Arme. Sind Sie eine Frau, betrachten Sie Afrika als Mann mit Buschjacke auf dem Weg in den Sonnenuntergang. Afrika muss man bemitleiden, ihm huldigen oder es beherrschen. Aber ganz egal, wofür Sie sich entscheiden - ohne Ihr Engagement und Ihr Buch würde Afrika vor die Hunde gehen. Lassen Sie daran keinen Zweifel.

Zu den afrikanischen Figuren Ihres Buches könnten nackte Krieger, treue Diener, Wahrsager und Seher gehören, weise alte Männer in phantastischer Einsamkeit. Außerdem korrupte Politiker, polygame Reiseleiter und Prostituierte, mit denen Sie geschlafen haben. Der Treue Diener benimmt sich in der Regel wie ein Siebenjähriger und braucht eine strenge Hand. Er fürchtet sich vor Schlangen, ist kinderlieb und verwickelt Sie ständig in seine häuslichen Streitereien. Der Weise Alte Mann gehört immer zu einem edlen Stamm (nicht zu den geldgierigen Gikuju, Igbo oder Shona). Er hat triefende Augen und ist innig mit der Erde verbunden. Der Moderne Afrikaner ist ein raffgieriger Fettsack, der in einem Visabüro arbeitet und sich weigert, qualifizierte Mitarbeiter aus dem Westen einreisen zu lassen, obwohl ihnen wirklich an Afrika liegt. Er ist ein Feind jeder Entwicklung und nutzt sein Regierungsamt, um pragmatische und gutherzige Ausländer daran zu hindern, eine Nicht-Regierungs-Organisation aufzuziehen. Vielleicht ist er aber auch ein ehemaliger Oxford-Absolvent, der in der Politik zum Serienkiller wurde und feine Anzüge trägt. Ein Kannibale mit einer Vorliebe für eine bestimmte Champagner-Marke und einer Hexe als Mutter, die in Wahrheit das Land regiert.

Auf keinen Fall darf die Hungernde Afrikanerin fehlen, die sich halbnackt von Lager zu Lager schleppt. Ihre Kinder haben Fliegen in den Augenwinkeln und Hungerbäuche, ihre Brüste sind leer. Sie hat keine Geschichte, keine Vergangenheit, das würde nur die Dramatik des Augenblickes stören. Stöhnen ist gut. Bringen Sie außerdem irgendwie eine warmherzige, mütterliche Frau mit tiefem Lachen unter. Sie nennen sie Mama. Ihre Kinder sind Kriminelle. Gruppieren Sie diese Figuren um Ihren Helden. Der Held sind Sie selbst (Reportage) oder eine gut aussehende tragische Berühmtheit, die sich im Tierschutz engagiert (Roman). Zu den Bösewichtern aus dem Westen könnten die Kinder konservativer Abgeordneter gehören oder Afrikaner, die für die Weltbank arbeiten. Falls Sie die Ausbeutung durch ausländische Investoren erwähnen möchten, denken Sie an Chinesen und Inder. Geben Sie dem Westen die Schuld an der Misere in Afrika. Aber bleiben Sie vage.

Vermeiden Sie es, lachende Afrikaner zu beschreiben oder Menschen, die einfach nur ihre Kinder erziehen oder irgendetwas Banales tun. Die Afrikaner in Ihrem Buch sollten bunt, exotisch, überlebensgroß sein - aber hohl, ohne Entwicklungen und Tiefe. Das würde die Sache nur verkomplizieren. Beschreiben Sie detailliert nackte Brüste (junge, alte, vor kurzem vergewaltigte, große, kleine), verstümmelte Genitalien oder geschmückte Genitalien. Jede Art von Genitalien. Und Leichen. Nein, noch besser: nackte Leichen. Am besten: nackte verwesende Leichen. Denken Sie daran, dass schmutzige, unglückliche Menschen als das "wahre Afrika" gelten. Sie müssen sich deshalb nicht schlecht fühlen. Sie versuchen ja nur, Hilfe aus dem Westen zu mobilisieren. Keinesfalls sollten Sie allerdings jemals tote oder leidende Weiße zeigen. Tiere wiederum beschreiben Sie als hochkomplexe Charaktere. Tiere sprechen oder grunzen, sie haben Namen, Ziele und Sehnsüchte. Und sie legen Wert auf ihre Familien: Haben Sie bemerkt, wie schön die Löwen mit ihren Jungen spielen? Elefanten sind liebevoll, sie sind gute Feministinnen oder eindrucksvolle Patriarchen. Gorillas ebenfalls. Sagen Sie nie, nie, nie etwas Schlechtes über einen Elefanten oder einen Gorilla. Selbst wenn ein Elefant Häuser niedertrampelt und vielleicht Menschen tötet.

Neben Prominenten und Helfern sind Umweltschützer die wichtigsten Menschen in Afrika. Legen Sie sich nicht mit ihnen an, schließlich wollen Sie sie mal auf ihrer riesigen Ranch interviewen. Jeder sonnengebräunte Weiße in Khaki-Shorts, der mal eine Hausantilope hatte, ist ein Tierschützer, der um Afrikas reiches Erbe ringt. Fragen Sie nie, wie viel Geld er wirklich für Afrika ausgibt. Fragen Sie nie, wie viel er mit seiner Safari-Ranch verdient. Fragen Sie nie, was er seinen Angestellten zahlt.

Vergessen Sie nicht, das Licht in Afrika zu erwähnen, Ihre Leser wären enttäuscht. Den großen, roten Sonnenuntergang. Den weiten Himmel. Weite leere Räume und wilde Tiere sind unverzichtbar. Afrika ist geradezu das Land weiter leerer Räume. Sollten Sie allerdings über die Vielfalt von Pflanzen und Tieren schreiben, erwähnen Sie die Überbevölkerung. Sollte sich Ihr Held in der Wüste oder im Dschungel bei irgendeinem indigenen Volk befinden (Hauptsache, es ist klein), dürfen Sie erwähnen, dass Aids und Kriege Afrika entvölkern. Beenden Sie Ihr Buch mit einem Nelson-Mandela-Zitat, am besten mit irgendetwas über Regenbögen oder Wiedergeburt. Weil Ihnen daran liegt.

Samstag, 14. April 2007

Peinliche Lieblingslieder Teil 1



"Ein verhallender Gesang von der Utopie der Schönheit und von der Schönheit der Utopie, die vielleicht die wahre Liebe erahnt und vielleicht nie ganz erreicht".

Mal ehrlich, jeder von uns hat insgeheim diese Vorliebe für Songs, die man höchstens seinen besten Freunden offenbart. Einer von jenen, dessen Name ich hier geflissentlich verschweige, hat vor bald sechs Jahren eben jene, im jungendlichen Überschwang verfasste Zeilen zu dem wohl besten der leider viel zu vielen Eurodancesongs der Neunziger auf Papier gebracht. Viel mehr fällt mir ehrlich gesagt dazu auch nicht ein, außer dass Haddaway sich hiermit ein kleines – wenn auch etwas zweifelhaftes – Denkmal, das die Roxbury Guys zusammen mit dem von mir eher gering geschätzten Jim Carrey schließlich ad absurdum geführt haben, gesetzt hat. Entscheidet selbst:

Freitag, 13. April 2007

Null Respekt?


Im vorwärts, der alteingesessenen SPD-Parteizeitschrift, die es seit einiger Zeit wieder am Kiosk zu kaufen gibt, und die zwar etwas zahm, aber alles in allem doch besser als von mir erwartet daherkommt, las ich heute einen Artikel von Sascha Verlan. Er zeichnet nicht nur verantwortlich für das legendäre blaue Reclambüchlein "Rap-Texte", sondern ist auch zusammen mit dem berüchtigten Hannes Loh Autor des kritischen Wälzers „25 Jahre Hip Hop in Deutschland“ und in letzter Zeit schwer damit beschäftigt, an eben jenem (leicht marxistisch angehauchte) Fundamentalkritik zu üben. Und dass ich dem grundsätzlich positiv gegenüber stehe dürfte dem aufmerksamen Leser sicher geläufig sein. Deshalb möchte ich euch hier einfach ein paar lesenswerte, wenn auch in ihrer Substanz nicht gerade revolutionäre, Ausschnitte aus dem Artikel zitieren:

Zunächst beschäftigt er sich mit den Ursprüngen der Hip Hop-Kultur in der New Yorker Bronx: „Am Anfang von Hip Hop stand die Gewalt, nämlich die Zerstörung eines intakten Wohnviertels: Ende der 60er Jahre treibt die New Yorker Stadtverwaltung eine vielspurige Autobahn durch die Bronx. (…) Wer die finanziellen Möglichkeiten hatte, der verließ die Bronx auf dem schnellsten Weg.“ Der Grundstein für die Ghettoisierung der Bronx – und damit die Entstehung von Hip Hop - war gelegt. „Hip Hop nimmt in vielerlei Hinsicht Bezug auf die Gewalt, die in den Ghettobezirken herrscht. Zu allererst natürlich in den Rap-Texten, aber auch ganz konkret: (…) Anstatt mit Fäusten aufeinander loszugehen, traf man sich zum Battle und löste seine Konflikte auf dem kreativen Schlachtfeld. (…) Durch Rap haben die Jugendlichen in den Armenvierteln die Definitionsmacht über ihr Leben und ihre Situation wiedererlangt. (…) So dass das Ghetto verherrlicht wird zu einem Ort, dem einzigen Ort, an dem man wirklich frei sein kein.“

Nicht so in Deutschland, denn „bis heute ist der Bezugspunkt hierzulande nicht das Ghetto oder die Straße, sondern die Hip Hop-Szene in den USA, kein existierender Ort also, sondern ein imaginärer. Der Bezugspunkt ist nicht sozial, sondern ästhetisch, ein medial verbreitetes und verzerrtes Abbild von Hip Hop.“ Auch wenn dies nicht immer so war, so wird es doch bei all den Möchtegern-Gangstern (vor allem aus Berlin) sichtbar, wie unter einem Brennglas. „Dabei ist nicht entscheidend, ob all die deutschen Gangster-Rapper in schwierigen Verhältnissen groß geworden sind oder nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass da keiner ist, der versuchen würde, die aktuelle Situation zu verändern. (…) Und zugleich ist keiner da, der dieses harte Leben in einer Art und Weise beschreiben könnte, dass es nachvollziehbar würde, (…) auch hier ist nichts außer Klischees und großen Worten: Alle sind gegen mich! Ich mach euch fertig! Ich zeigs euch! Ich komm von ganz unten! Während Hip Hop in den USA ein Weg war heraus aus dem Ghetto, kokettiert Hip Hop in Deutschland mit dem Ghetto-Feeling. (…) Dabei geht es nicht um Texte, sondern um Biographien. Und weil das so ist, messen sich Deutschlands Rapper nicht in ihrer eigenen Kunst, dem Rap, sondern mit ihren echten oder erfundenen kriminellen Taten. (…) Ein Wettstreit um Authentizität möchte man meinen.“ Aber dass es das nicht ist, wird jedem klar, der sich auch nur einen Moment lang mit der Situation in den USA beschäftigt hat, denn „das ist es, was einen Rapper authentisch und real macht, diese Rückbindung an sein Viertel, an seine Vergangenheit, dass er versucht, die sozialen Verhältnisse dort zu ändern.“ Hip Hop war, wie gesagt, in den USA immer ein Weg, diese sozialen Verhältnisse zu überwinden, „in Deutschland führt Hip Hop, wie er von den Berliner Krawall-Rappern verkörpert wird, geradewegs hinein in die Misere.“

Dienstag, 10. April 2007

Heilige Schriften?


Vor einiger Zeit habe ich – nach langer, langer Zeit – mal wieder in der Bibel gelesen, nachdem ich mich zuvor ein wenig dem Koran zugewendet hatte, aber ob der wortgewaltigen Sprache nur wenige Suren geschafft habe. Zudem hatte ich mir eine relativ schlechte Übersetzung besorgt – und wer weiß, dass das Schriftarabische völlig ohne Vokale auskommt, dem dürfte auch bewusst sein, wie wichtig und entscheidend es ist, eine gute Übersetzung dieser heiligen Schrift (die ja eigentlich gar nicht übersetzt werden dürfte, aber deswegen extra Arabisch zu lernen erschien mir dann doch zu viel des Guten) zu lesen. Zudem gibt es durchaus gravierende Unterschiede zwischen den verschiedenen Interpretationen (nichts anderes sind sie ja), wen es interessiert, der kann sich auf www.nur-koran.de alle gängigen Übersetzungen Stelle für Stelle gegenüber stellen lassen – kaum eine Religion ist wohl aus ihrer Schrift heraus so interpretationsfähig. Deshalb halte ich es auch immer für fragwürdig, wenn Islamkritiker aus Suren einer fundamentalistischen Übersetzung zitieren, um etwa die prinzipielle Frauenfeindlichkeit der Religion (meiner bescheidenen Meinung nach eher eine Folge der männlichen Interpretation, als in der Religion selbst verankert) beweisen zu wollen, weil es eine Eindeutigkeit vorspiegelt, die der Koran nun einmal nicht bietet. So ist es letztlich stets die Sichtweise des Exegeten, welche das Ergebnis der Lektüre vorherbestimmt.

Nun, aber eigentlich sollte es hier ja nicht um den durchaus interessanten Islam, sondern um das alte Christentum und seine Heilige Schrift gehen, bei der (im Gegensatz zum Koran) wohl kein halbwegs vernünftiger Mensch bestreiten kann, dass sie von verschiedenen Menschen verfasst wurde und deshalb von vorne herein interpretationsbedürftig ist. Nun ist ja die Bibel als ein weitgehend dröges, widersprüchliches Märchenbuch verschrien, aber in dem - mit mehr als tausend Seiten gegenüber dem Koran wesentlich dickeren - Schmöker finden sich doch auch immer wieder erhellende, durchaus lesenswerte Passagen. So etwa die berühmt-berüchtigte Bergpredigt Jesu, die nicht nur Nietzsche gut zweitausend Jahre später in die Weißglut treiben sollte, da ihre Konsequenzen ziemlich radikal waren. Zwei Stellen in eben jener historisch nicht ganz folgenlosen Rede hatten mir es schon immer angetan. Da wir ja nicht nur gerade ein großes christliches Fest hinter uns gebracht haben und die Weltlage (verschuldet durch das Verhalten angeblich christlicher bzw. muslimischer Nationen) gerade mal wieder alles andere als rosig aussieht, zitiere ich hier einfach mal besagte, den meisten wohl bekannte Stellen aus meiner Luther-Bibel von 1912, die ich einfach mal so stehen lasse: „Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen“ (Mt, 5,44) und, noch viel schöner und passender: „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet. Denn mit welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden; und mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen. Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?(Mt, 7, 1-3)

Samstag, 7. April 2007

Trainspotting


„Sag ja zum Leben, sag ja zum Job, sag ja zur Karriere, sag ja zur Familie. Sag ja zu einem pervers großen Fernseher. Sag ja zu Waschmaschinen, Autos, CD-Playern und elektrischen Dosenöffnern. Sag ja zur Gesundheit, niedrigem Cholesterinspiegel und Zahnzusatzversicherung. Sag ja zur Bausparkasse, sag ja zur ersten Eigentumswohnung, sag ja zu den richtigen Freunden. Sag ja zur Freizeitkleidung mit passenden Koffern, sag ja zum dreiteiligen Anzug auf Ratenzahlung in hunderten von Scheiß-Stoffen. Sag ja zu Do-it-yourself und dazu, dass Du am Sonntagmorgen nicht mehr weißt, wer du bist. Sag ja dazu auf Deiner Couch zu hocken und Dir hirnlähmende Gameshows reinzuziehen, und Dich dabei mit scheiß Junk-Frass vollzustopfen. Sag ja dazu, am Schluss vor Dich hinzuverwesen, Dich in einer elenden Bruchbude vollzupissen und den missratenen Ego-Ratten von Kindern, die Du gezeugt hast, damit sie Dich ersetzen, nur noch peinlich zu sein. Sag ja zur Zukunft, sag ja zum Leben. Aber warum sollte ich das machen? Ich habe zum ja sagen nein gesagt. Die Gründe? Es gibt keine Gründe. Wer braucht Gründe, wenn man Heroin hat?“

Es gibt keinen Film, den ich in meinem kurzen Leben so oft gesehen habe wie Trainspotting. Die Geschichte um Rents, Sick Boy, Begbie und Spud, die im Schottland der ausgehenden Achtziger und frühen Neunziger Jahren spielt, habe ich inzwischen exakt vierzehn Mal gesehen. Was mich immer wieder an der Geschichte fasziniert? Ich hatte wohl schon immer eine Vorliebe für Geschichten von Verlierern, Menschen, die gescheitert sind, die sich der Gesellschaft entsagt haben, die abseitige Wege beschreiten, die Nein sagen. Und dieses Kleinod der Neunziger hat es mir vielleicht deshalb so angetan, weil es radikal ist, weil es unterhaltsam und zugleich erschreckend ist. Sich für ein Leben mit Heroin zu entscheiden ist sicher alles andere als eine intelligente Entscheidung, der Film ist auch gewiss keine Verleitung zum Drogenkonsum: „das sieht so aus, als ob es ganz easy wäre, aber das ist es nicht, es sieht aus wie der bequeme Weg, als würde man eine ruhige Kugel schieben, aber so zu leben ist ein Fulltimejob.“

Viel über die Geschichte zu verlieren, wäre unnötig, da es wohl kaum jemand gibt, der sie in den elf Jahren, die der Film inzwischen auf dem Buckel hat, noch nicht gesehen hätte, sie ist ein Klassiker – und einer DER Filme der Neunziger. Dass in einem geschätzten Viertel aller WG-Klos, die ich bisher aufgesucht habe, obiges, die legendäre Szene auf dem "beschissensten Klo Schottlands" widerspiegelnde Poster hing, spricht wohl für sich. Der Film beschreibt – eingebettet in einen grandiosen Soundtrack - alle Höhen und Tiefen im Leben eines Junkies, und zugleich die Ambivalenz von Rents, den Versuch, doch noch irgendwie den Weg in ein normales Leben zu finden, er erzählt von Hoffnungslosigkeit, Aggression und Lebensgier. Das schafft der Film, ohne sentimental zu werden, ohne mit dem pädagogischen Finger zu zeigen, ohne die Droge Heroin zu glorifizieren.

Nein, der Film will unterhalten, aber zugleich zum Nachdenken anzuregen, er ist mit einem sehr trockenen, schwarzen Humor versehen – und zeigt zugleich, wie erbarmungslos Heroin Menschen zerstören kann. Dass er diese Balance hält zwischen Coolness und Grauen, zwischen Verständnis und Abscheu, das ist es wohl, was ihn zu einem wahrhaft großen Film macht. Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Irvin Welsh, der in ziemlich derber Sprache die dreckige Seite von (Leith, einem schmuddeligen Stadtteil von) Edinburgh thematisiert, gelang hier dem Regisseur Danny Boyle nicht nur eine kleine, wenn auch etwas ungewöhnlich Hommage an das (eigentlich wunderschöne) Schottland - "ich scheiß drauf Schotte zu sein, wir sind der letzte Dreck, der Abschaum der Menschheit, das erbärmlichste, jämmerlichste, unterwürfigste Gesindel, das jemals ins Leben geschissen wurde. Manche Leute hassen die Engländer, ich nicht, das sind ja nur Wichser. Wir dagegen haben uns von Wichsern kolonisieren lassen, wir konnten uns nicht mal von einer anständigen Zivilisation erobern lassen, beherrscht von degenerierten Arschlöchern, das ist ein scheiß Zustand" (Rents) - er erschuf auch einer der wohl besten (Drogen-)Filme aller Zeiten…

Donnerstag, 5. April 2007

König der Lügen

Und noch ein wunderschönes, poetisches Stück Musik von Tom Liwa, das mir – weshalb wohl? – gerade im Kopf herumschwirrt…


KÖNIG DER LÜGEN

Ich sitz in einem dunklen Kino,
das nach Bohnerwachs riecht
und aus irgendeinem Grund nach Äpfeln
Ich bin zu schnell in mir,
um dem Film zu folgen
und zu träge, um die Bilder zu fassen in meinem Kopf
Was genau ist bei Dir anders ?
Und was genau hat es zu tun mit mir ?
Du stehst am Fenster & ich merk, daß Du weit weg bist -
in Gedanken
wo ich noch nie war & niemals hinkomm
Schäfchenwolken zu meinen Füßen, meinen feuchten Zehen
Wieviel Katastrophen noch ?
Wieviel muß noch kaputtgehen,
bis ich ankomm am Ende meines Traums
und ohne Utopien ?
Ich wünschte, dieser Teil von mir
hätte kein Gefühl
doch wenn ich mich drüberwegsetz, dass es nicht so ist
& mich jenseits davon definier,
verbiet ich mir
jeden Schritt von hier -
egal in welche Richtung
Noch immer gilt mein Mitgefühl denen,
die naiv genug sind,
sich auf die eine oder andere Seite zu schlagen -
auch wenn ich lange schon ahne,
daß ihr Kampf nichts weiter als ein Bastard
der Erwartungen ist
Warum halt ich fest ?
Und was macht das Verlieren so romantisch
und den Verlust so endlos schal ?
Es muss doch jenseits der Todessehnsucht Liebe geben -
und jenseits dieser Liebe Leben ...
Deine Haut - Dein Körper
Dein Geruch sind soviel eindeutiger
als all die Worte & holen mich zurück
Da ist kein Tag, an dem ich mich nicht zu Dir hindenk
und doch bin ich auch hier
Und das zerreißt mich- oder
macht zumindest kraftlos,
wenn auch jung
& ich sagte schon: träge
Egal, wie die Sache läge,
würde ich probiern, mich ihr
von allen Seiten nacheinander anzuschleichen
In diesem dunklen Kino,
wo ich sitz
hab ich zum ersten mal seit Wochen
vergessen, mich zu erinnern
& stattdessen
mich von hier fort geschrieben
in eine Zukunft
ohne Sehnsucht nach dem Halt
Alles in Bewegung
hab ich einen neuen Namen
Nenn mich ab heute
König der Lügen
(und alle Sterne am Himmel
sind gefallene Könige wie ich-
und doch nicht mehr als Licht...)

(aus: Ich & Ich, 1996)

Mote

Mote, der vielleicht beste Song aus Goo, dem Album von Sonic Youth, das 1990 die Hinwendung zu leichter goutierbaren Klängen dokumentierte. Noch ist der Noise spür- und hörbar (gerade im hypnotischen Krach der letzten Minuten), schließlich waren es ja auch Sonic Youth, die ihn sozusagen salonfähig gemacht haben. Heute als Stilmittel weitestgehend akzeptiert, klangen die harten Dissonanzen in den Achtziger Jahren noch revolutionär. Dementsprechend hart bewegten sich die Alben der ersten Jahre auch an der Grenze der Hörbarkeit. Für in den Neunziger Jahren geschulte Ohren mag das heute alles relativ harmlos klingen, die meisten musikalischen Grenzen wurden schließlich längst überschritten, gerade was den Krach angeht. Aber man sollte nie vergessen, wer die Wege geebnet hat, wer die Grenzen zuerst ausgelotet und experimentiert hat. An dieser Band führt da kein Weg vorbei, auch wenn sie mit den Jahren schwer an Relevanz verloren haben, so schufen sie doch jene bahnbrechenden Werke, auf denen inzwischen ganze Generationen von Indiebands aufbauen konnten. Dass Sonic Youth unendlich viel spannender, weil roher, authentischer und radikaler versteht sich von selbst...

Sonic Youth sind bis heute ein vorbildliches (sich auch politisch verstehendes) und sehr aktives Konzept, das sich erfrischend abhebt von gängigen Rockmusik- wie Indieklischees, auch wenn die Hinwendung zu einer stärkeren Verknüpfung von Dissonanz und Harmonie der Musik vieles an Spannung genommen hat.


Mote

when you see the spiral turning through alone
and you feel so heavy that you just can't stop it
when this sea of madness turns you into stone
picture of your life shoots like a rocket
all the time

put 'me' in the equation it's alright
I've seen you moving in and out of sight
my friends tell you it'll all cut through you
from nowhere - to nowhere
cut together - cutting through

I'm island-bound, a mote inside my eye
I can't see you breathing as before
I am airless - a vacuum child
I can't stand to reason at your door
in this time

put 'me' in the equation it's alright
I've seen you moving in and out of sight
my friends tell me it's all cut through you
from nowhere - to nowhere
come together

I'm down in the daytime out of sight
comin' in from dreamland I'm on fire
I can see it's all been here before
dream a dream that lies right at your door

when the seasons circle sideways out of turn
and words don't speak just fall across the carpet
you're just in time to watch the fires burn
it seems a crime but your face is bright you love it
all the time

Mittwoch, 4. April 2007

Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht


Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht - und weiß nicht, wie ich es aushalten konnte. Was Tocotronic vor gut zwölf Jahren - im wahrsten Sinne des Wortes - hingeschrammelt haben ist nach wie vor ein Manifest für alle, die nicht verstehen können, wie die Jahre vergehen und das Leben dennoch weiter geht, wie wir weiter machen können, anstatt uns das Leben zu nehmen, wie wir weiter machen können in dieser Gesellschaft, "in der man bunte Uhren trägt - in einer Gesellschaft wie dieser bin ich nur im Weg".

In einer Gesellschaft, die ewige Jugend zu einem der wichtigsten Ziele auserkoren hat, ist es in der Tat schwer, erwachsen zu werden. Wir sind ein Land der ewig Jugendlichen, wir drücken uns vor der Verantwortung, die das Alter mit sich bringt und wollen stattdessen stets verweilen in der ewigen Rebellion, die zu vollziehen wir doch zu faul sind. "In dem Bett aus dem ich herkam / liegt es sich immer noch unbequem und einsam / ich habe nichts gegen Menschen als solche / meine besten Freunde sind welche / aber leider lebenslänglich mein Platz / an der Seite derer, die randvoll Beischlaf morden / als Lügner gefiel ich dir besser / gefiel ich dir besser?" formulierte schon 1992 Jochen Distelmeyer und traf damit den Nerv der Zeit, die auf Musik, welche die später titulierte Hamburger Schule fabrizieren sollte, nur zu warten schien. Tocotronic verkörperten damals die typischen Jugendkonflikte zwischen Ich und den Anderen, die Blumfeld auf einer höheren, mehr gesellschaftlichen Ebene schon formuliert hatten.

Während Tocotronic sich in ihrer Frühphase mit dem Sujet der Abgrenzung und Ich-Findung, dem Wunder des Lebens in modernen Zeiten und seinen Falltüren beschäftigten, waren Blumfeld mit ihrem ersten Album schon mindestens einen Schritt weiter, der unbedarfte, punkige und auf einzige Art und Weise naiv selbstreflektive Charme der ersten vier Tocotronic-Alben (der spätestens seit KOOK einer neoromantisch weltentrückten Poetik gewichen ist) jedoch bleibt unerreicht. Mit Digital ist besser konnten sich (aufgrund der gewollt diffus-dilletantischen Texte) viele identifizieren. Es heute zu hören erscheint mir wie eine Reise in die Vergangenheit, eine Zeit, in der Lehrer, das Schulsystem und das "System an sich" die größten Feinde waren, eine Welt, die noch Eindeutigkeiten kannte, eine Welt, die noch Orientierung versprach, schwarz und weiß kannte. Die Welt ist Ambivalenz in Reinform, das ist mir inzwischen klar. Dennoch: "Zahme Vögel singen von der Freiheit, wilde Vögel fliegen davon" (SAS)

Ich habe 23 Jahre mit mir verbracht


Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht
Und in 23 Jahren hab ich mich nie mit mir verkracht
Manchmal frag ich mich wie hab ich das gemacht
Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht

Ich bin zu jung um meine Biographie zu schreiben
Und zu alt um ewig jung zu bleiben
Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht

Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht
Und in 23 Jahren hab ich nie über mich gelacht
Manchmal frag ich mich wie hab ich das gemacht
Ich hab 23 Jahre mit mir verbracht (3x)

Ohhhoo...

Ich hab 23 verdammte Jahre mit mir verbracht

Ohhhoo...

Montag, 2. April 2007

Respekt


Die großartigen (wenn auch mit einem eher zweifelhaften Namen ausgestatteten) Flowerpornoes haben sich noch einmal aufgerafft und nach elf Jahren Pause eine neue Platte mit dem wunderbaren Namen "Wie oft musst du vor die Wand laufen bis sich der Himmel auftut" herausgebracht. Für gewöhnlich hasse ich Reunions, da meistens (aufgrund hauptsächlich finanzieller Motivation) nichts dabei herauskommt, als ein kalter Aufguss des schon dagewesenen, aber bei Tom Liwa und seinen Flowerpornoes habe ich (nicht zuletzt aufgrund der Songs, die ich bisher vom neuen Album gehört habe) ein gutes Vorgefühl. Diese Band hat, trotz absoluter kommerzieller Erfolglosigkeit, viele der schönsten und wichtigsten deutschen Lieder geschrieben, von denen im Internet leider nicht viel zu finden ist. Da die Texte jedoch stets wichtiger waren als die (nichtsdestrotz schöne) Musik, hier einer der Songs, die mich schon viele Jahre begleiten:

Respekt

Du kannst überall Liebe finden
In den Autos von Freunden
und in den Zimmern von Freundinnen
Doch da ist etwas, das viel schwerer zu finden ist
und das ist: Respekt
Sie sieht Dir in die Augen,
als würd sie sich selber sehn
Doch grade deshalb würd sie nie sagen,
sie könnte Dich verstehn
Respekt stiehlt Dein Herz
wie ein Meisterdieb
Respekt nimmt alles von Dir,
genau so, daß hinterher nichts fehlt
Sie kann Dich kritisieren -
härter als irgendwer sonst
Doch sie wird Dich nicht verletzen,
so daß Du werden kannst, was Du bist
Du kannst überall Liebe finden
Sie war schon da bevor Du kamst
Doch wenn Du Respekt auch nur einmal von weitem zu sehn kriegst,
hast Du Glück gehabt
Sie sieht Dir in die Augen,
sieht durch Dich durch nach draußen,
tut einfach so, als wärst Du gar nicht da
& fühlt sich wie zuhause
Respekt erschlägt Dich kurz und schmerzlos,
spielst Du nach Mitternacht Klavier
Respekt wird immer das beste draus machen,
gehst Du für fünf Minuten vor die Tür
Sie sagt : Du kannst überall Liebe finden
Selbst an einem Ort, an dem sie Dir erzählen,
auch Respekt wär nur ein Wort
Ist es nicht seltsam, wie Du immer wieder herkommst
und immer wieder merkst,
wie sich alles zu wiederholen scheint,
die Euphorie wie der Schmerz
Sie gibt Dir ein Dach überm Kopf
und nimmt Dich in den Arm,
macht Dir ein neues Paar Schuhe
damit Du weiterkannst,
hält Dich nicht einen Moment länger fest,
als bis Du gehen willst
und nimmt sich nicht vor, es wär das letzte Mal gewesen,
wenn Du Dich zu bedanken vergißt
Du kannst überall Liebe finden
und wirst nicht aufhörn,
ihr nachzuspüren
doch Respekt ist das einzige, was Dich retten kann
vor ihren Falltüren

(aus: Ich & Ich, 1996)