Montag, 31. Dezember 2012

High Fidelity Teil 5: Zeichen & Pfade


Heute: Willkürlich und ephemer - eine Lektüreliste (Belletristik)*:

2012:
1. David Foster Wallace - Unendlicher Spaß (1996)
2. Jörg Fauser - Rohstoff (1985)
3. Christian Kracht - Imperium (2012)
4. Thomas Bernhard - Holzfällen (1984)
5. Karl Capek - Der Krieg mit den Molchen (1936)


Bestenliste:
1. Fjodor Dostojewski - Der Idiot (1869)
2. David Foster Wallace - Unendlicher Spaß (1996)
3. Gabriel Garcia Marquez - Hundert Jahre Einsamkeit (1967)
4. Imre Kertesz - Roman eines Schicksallosen (1975)
5. Jean Paul Sartre - Der Ekel (1938)
6. Lu Xun - Auf der Suche (1924)
7. Hans Fallada - Der Trinker (1944)
8. George Orwell - 1984 (1948)
9. Jörg Fauser - Rohstoff (1985)
10. Art Spiegelman - Maus - die Geschichte eines Überlebenden (1986/91)

*"Talent borrows - genius steals"

Freitag, 26. Oktober 2012

Impressionen XXVI

Ideologie.

Reduktion.

Schauspiel.

Lichtblick.

Blues.

The XX - Heart skipped a beat (2009)

Donnerstag, 25. Oktober 2012

Flüchtige Notizen VI: Fragment

5/5/2006:

Was war? Was ist passiert? Welch vollendete Wunder anzuschauen! In der Zauberei war sie mehr. Gekonnte Illusion, und auf der Straße begegnete ich ihr, bekleidet mit einem gelben Umhang...

Es war an jenem Punkt, da ich wusste, dass es gut war, der Suche zu folgen, ohne zu wissen was, noch wen. Wer aufwacht, schläft ein andermal. Wenn es dieses Glück ist, das ich nicht verlieren möchte, schlafe ich ein andermal ein, und sie kommen, zu geben. Danach weiter, den Wind im Gesicht, das Meer atmend.

Einige Zeit später, in einem Schiff, ich könnte sie küssen und wüsste, dass ich sie lieben werde. In ihrem besonderen Schaukelstuhl könnte sie sich nicht entschließen, sich anzuvertrauen, so hypnotisiert sie auch war. Es war dort...

Heute ist wie immer gestern, heute, da genau so ein morgen existiert.

Freitag, 12. Oktober 2012

R.I.P. Nils Koppruch


Unlängst veröffentlichte er noch ein viel und zurecht gelobtes Album mit Gisbert zu Knyphausen. Als Kid Kopphausen begannen sie gerade ihre Tour. Beide hatten zusammen noch viel vor. Doch nun ist der Hamburger Musiker Nils Koppruch völlig überraschend verstorben. Deutschland verliert mit ihm einen seiner profiliertesten Musiker. Der Leisetreter war musikalisch einer der Großen. Sein kulturelles Verdienst ist es, deutschsprachige Countrymusik mit Stil und (wie es die Zeit einst formulierte) als proletarisches Statement im Pop etabliert zu haben. Ein Billiger Trick? Mitnichten. Das Leben? Ein Messerkampf

Mit seiner 1996 gegründeten Band Fink ebnete er den Weg für seine hierzulande bisweilen immer noch exotisch anmutende musikalische Ausdrucksform. Nach sechs Alben (von denen ich Mondscheiner, 1999, sowie das selbstbetitelte Fink, 2001, für die gelungensten halte) und einer immer mehr ins elektronisch-repetitive tendierenden Entwicklung löste sich die Band im Jahre 2006 auf. Es folgten zwei reduziert wirkende Soloalben und das bereits erwähnte Album mit Knyphausen.

Nils Koppruch erlangte über eine bis zuletzt viel zu kleine Anhängerschaft hinaus kaum größere Bekanntschaft. Seinen Lebensunterhalt verdiente sich der Hamburger als freischaffender und recht erfolgreicher Maler. Für den Mann der mit knarziger Stimme vorgetragenen lakonischen Zwischentöne hat der Lebensweg mit 46 Jahren ein viel zu frühes Ende genommen. Am Mittwoch, den 10. Oktober ist er friedlich eingeschlafen. Doch, in seinen Worten: Es gibt ne menge Leute, aber er war Immerhinda.

 "Hier kannst du mich finden / wenn du mich suchst / wenn du nicht siehst / dass ich längst neben dir sitz"

Fink - Sieh mich nicht an... (2001)


Kurzportrait von KonspirativeKüchenKonzerte

Freitag, 28. September 2012

Steinbrücks Kandidatur

Schon seit Monaten hatte man es raunen gehört. Doch jetzt ist es endlich gewiss: Peer Steinbrück wird Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten. Im nächsten Herbst will er Angela Merkel herausfordern. Der Wahlkampf könnte also am Ende doch nicht gar so langweilig werden. Denn Steinbrück genießt bis weit ins CDU-Lager hinein Anerkennung.

Die SPD will es nun also doch wissen und lässt den Kandidaten ins Rennen, der die besten Aussichten hat, parteiintern allerdings wohl auch am schmerzhaftesten sein wird. Sonderlich beliebt hat er sich in der SPD nie gemacht. Und als diplomatisch wird er auch nicht gerade gerühmt. Der Hanseate gilt als herrisch, undiplomatisch und autoritär. Zudem steht er mit vielen Ansichten am rechten Rand der Sozialdemokratie. In Helmut Schmidt-Manier könnte er also theoretisch einen Kanzler abgeben, der respektiert wird, aber nach Ansicht vieler Wähler "leider in der falschen Partei" ist.

Das wahrscheinlichste Szenario: Steinbrück wird Vizekanzler

Auch wenn der Wahlkampf so an Spannung gewinnt, deutet nur wenig darauf hin, dass er Angela Merkel als Kanzler beerben wird. Das wahrscheinlichste Szenario für die kommende Bundestagswahl ist eine Wiederauflage der Großen Koalition von 2005-2009 mit Peer Steinbrück als Vizekanzler (auch wenn der Kandidat das momentan noch kategorisch ausschließt). Denn es wird wohl für keines der beiden politischen Lager reichen. Dafür ist unser Parteiensystem schlicht zu fragmentiert. Außerdem ist bekannt, dass die Kanzlerin den ungeliebten Koalitionspartner nur allzu gerne loswerden würde.

Zu den kleinen Parteien: Der Höhenflug der Grünen, die letztes Jahr schon vor der SPD gesehen wurden, ist definitiv beendet und die Partei auf Normalmaß zurückgestutzt. Ein gutes Wahlergebnis werden sie dennoch erzielen. Probleme, die sich die Liberalen nur erträumen dürfen. Die FDP kann froh sein, wenn sie es überhaupt wieder in den Bundestag schafft. Doch am Ende wird sie den Sprung schon schaffen. Allerdings werden die entscheidenden Prozente für Schwarz-Gelb fehlen. Auch die Linke wird an den Wahlerfolg von 2009 nicht anknüpfen können, aber nicht aus dem Bundestag fliegen. Und die Piraten? Wenn sie die 5-Prozent-Hürde überwinden, wird es definitiv weder für Rot-Grün noch Schwarz-Gelb reichen. Schwer vorherzusagen, ob sie es schaffen werden. In einem wohl von der Euro-Krise dominierten Wahlkampf werden sie es allerdings sehr schwer haben, sich zu profilieren.

Zu den beiden - gar nicht mehr so - großen Parteien: Es sind Krisenzeiten, und in diesen fürchten die Menschen nichts mehr als die Veränderung. Ein Großteil der Deutschen fühlt sich schließlich von Angela Merkel gut durch die Krise geführt, welche die meisten hierzulande ohnehin nur aus dem Fernsehen kennen. Die Kanzlerin ist beliebt, beliebter auch als ihre Partei. Von einer Wechselstimmung ist nichts zu spüren. Das liegt auch an einer SPD, deren Glaubwürdigkeit in den langen Jahren der Regierungszeit nachhaltig Schaden genommen hat. Während sich die CDU modernisierte und teils gar sozialdemokratische Agenda kaperte, wirkt die SPD immer noch traumatisiert. Eine wirkliche politische Alternative, eine Gegen-Agenda zu Schwarz-Gelb, ist von der Oppositionspartei bisher nicht erkennbar.

Zwar wird die SPD sicher besser abschneiden als bei ihrer historischen Wahlniederlage von 2009. Aber auch mit einem Steinbrück, der jetzt die Finanzmärkte regulieren will, die er einst deregulierte, wird es der SPD wohl kaum gelingen, stärkste Partei zu werden. Das haben in der deutschen Geschichte ohnehin nur zwei Sozialdemokratien geschafft: Willy Brandt anno 1972 gegen Rainer Barzel und Gerhard Schröder 1998 gegen den altersmüden Helmut Kohl. Doch besitzt weder Steinbrück das Charisma von Brandt oder Schröder, noch lässt Angela Merkel Altersmüdigkeit erkennen.

Angela Merkel - die ewige Kanzlerin?

Für die SPD kommt erschwerend hinzu, dass die Regierungsjahre, insbesondere die Agenda-Politik, immer noch auf den Genossen lasten. Unter Schröder und in der Großen Koalition hat die Partei viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt und bis heute keinen richtigen Umgang mit dieser Zeit gefunden. Viele traditionelle SPD-Wähler haben sich enttäuscht abgewendet. Und mit Steinbrück wird einer der prominentesten Protagonisten dieser Zeit nun zum Gesicht der Partei werden. Ein glaubwürdiger Neuanfang sieht anders aus. Innerparteiliche Konflikte sind vorprogrammiert.

Und Angela Merkel? Ein Ende ihrer Kanzlerschaft liegt wohl noch in weiter Ferne. Nach der Wende galt sie als "Kohls Mädchen". Diese Zeiten sind lange vorbei. Niemand wird die Kanzlerin heute noch ernsthaft unterschätzen. Ihr einstiger Förderer - "der ewige Kanzler" - stand 16 lange Jahre an der Spitze dieses Staates. Die Kanzlerin ist nun bereits sieben Jahre im Amt., und weit und breit niemand in Sicht, der sie beerben könnte. Angela Merkel - auf dem Weg zur "ewigen Kanzlerin"?

Montag, 24. September 2012

Impressionen XXV: Trophane


et henüz pişmemiş...

Jörg Fauser - Trophane (1984), aus seinem
autobiographischen  Roman Rohstoff komprimierte Lyrik.

Kule Optik.

No more lies.

Montag, 3. September 2012

Cradle to Cradle


Jeder Deutsche produziert rund 450 Kilogramm Hausmüll - und das jedes Jahr. Im EU-Durchschnitt sind es sogar stolze 524 Kilogramm. Würde die ganze Welt so viel Abfall hinterlassen wie die EU-Bürger, wären das 3 668 000 000 000 Kilogramm Müll pro Jahr. Dass unser Planet dies nur schwer verkraften kann, liegt auf der Hand. Doch noch konsumieren nicht alle Menschen so viel wie die Europäer. 

Damit auch der Rest der Welt künftig unserem Konsumverhalten frönen kann, bedarf es eines neuen Umgangs mit dem Abfall, den wir produzieren. Denn momentan wird in den Entwicklungsländern ein Großteil unseres teils gefährlichen Abfalls wiederverwertet - auf Kosten von Natur und Gesundheit der dortigen Bevölkerung. Doch es gibt auch Konzepte, die es ermöglichen, aus diesem ungesunden Kreislauf auszusteigen. Das Stichwort heißt Cradle to Cradle (C2C), zu deutsch: von der Wiege bis zur Wiege. 

Umweltschutz ist mehr als effektive Müllproduktion 

Einer der deutschlandweit bekanntesten Befürworter von C2C ist der Chemiker Michael Braungart. Sein Credo lautet: "Müll ist Nahrung". Im Jahre 1987 trennte er sich von seinem vorherigen Arbeitgeber Greenpeace und gründete das EPEA-Institut, um Organisationen hinsichtlich ihrer Ökoeffektivität zu beraten. Dabei kritisiert er das hierzulande vorherrschende Mainstream-Verständnis von Ökologie. Im Gespräch mit N-TV sagt er: "Es ist irrsinnig zu glauben, Umweltschutz besteht aus einer möglichst effektiven Zerstörung der Rohstoffe." Sein Vorwurf an die Deutschen: Sie optimieren, aber leider optimieren sie das falsche System.


Braungarts Grundprinzip: Schon bei der "Geburt" eines Produktes soll ein mögliches zweites Leben eingebaut sein: von der Wiege bis zur Wiege eben - ein Kreislaufsystem. Mit den Produkten sollen keine Giftstoffe in die Umwelt gelangen, für ihre Produktion und Entsorgung keine Rohstoffe ausgebeutet und keine fossilen Brennstoffe verheizt werden. Für Braungart sind potenziell alle Materialien kompostierbar, egal ob Metall, Plastik, Textilien oder Holz. Und Waren wie Möbel, Elektrogeräte oder Textilien lassen sich so produzieren, dass die Hersteller sie nach Gebrauch in ihre Einzelteile zerlegen und wiederverwerten können. 

Ein weiterer Protagonist der C2C-Szene ist der US-amerikanische Architekt William Mc Donough. Er übersetzte die Ideen Braungarts in eine nachhaltige Gebäudeplanung. Beide blicken auf eine langjährige gemeinsame Zusammenarbeit zurück, haben Bücher verfasst und Büros in vielen Ländern eröffnet. Mit ihren Konzepten haben die beiden so manches Unternehmen überzeugt, darunter Größen wie Nike oder Puma. Der Sportartikelhersteller Nike nimmt inzwischen Turn­schu­he aller Marken zu­rück und verwertet sie weiter zu Laufbahnen oder Bas­ket­­ball­plät­zen. Oder hierzulande Trigema. Der Burladinger Textilhersteller hat seit kurzem eine eigene C2C-Kollektion und produziert kompostierbare Klamotten. Firmenchef Grupp gegenüber dem Wirtschaftsmagazin Enorm: "Nichts Unverwertbares entsteht, nichts geht verloren. Das ist die eigentliche Revolution." 

Taugt C2C zu mehr als Sonntagsreden? 

Kritik an C2C gibt es ausgerechnet vom Umweltbundesamt. Dieses zweifelt an der Praktikabilität der Vorschläge Braungarts. Die seien nicht ausreichend zu Ende gedacht, Rohstoffströme nur unzureichend geplant. Das bereits bestehende Kreislauswirtschaftsgesetz reiche vollkommen aus. Zwar machen sich, so Joachim Wuttke vom Fachbereich Nachhaltige Produktion in der Zeit, seine Ideen gut in Sonntagsreden. Aber "in der praktischen flächendeckenden Umsetzung stoßen wir auf zahlreiche Grenzen, die uns politische und ökonomische Rahmenbedingungen setzen." Damit seine Ideen funktionieren, müssten schon alle mitmachen, am besten weltweit. 

Braungart würde dem wohl nur zum Teil widersprechen, fordert er doch, so der Titel eines seiner Bücher, nicht weniger als "die nächste industrielle Revolution". Davon ist die weltweite industrielle Produktion zwar noch weit entfernt. In den Niederlanden aber hat sich die C2C-Idee bereits verbreitet. Zahlreiche Firmen haben auf ein Kreislaufsystem umgestellt. Die Region Venlo bezeichnet sich gar als "Cradle-to-Cradle-Region". Die niederländische Regierung unterstützt das nachhaltige Konzept und will in Zukunft nur noch C2C-Design einkaufen. Seit 2008 gibt es auch einen eigenen Cradle-to-Cradle-Lehrstuhl an der Erasmus-Universität Rotterdam. Die Professur hat Michael Braungart. 

Annäherung an ein Ideal 

Braungart versteht C2C als Prozess. Unsere Konsumprodukte enthalten eine Vielzahl von Chemikalien. Zudem kommen allein bei der Herstellung von Textilien rund 7 000 Chemikalien zum Einsatz. Dass von heute auf morgen ohne diese hergestellt werden kann, hält auch er für illusorisch. Daher zertifiziert das EPEA -Institut C2C-Produkte mit Bronze, Silber, Gold und Platin, je nachdem wie sehr sich das jeweilige Produkt dem Ideal annähert. So versucht man auch der Gefahr zu entgegnen, dass Unternehmen, die sich mit C2C schmücken nur Greenwashing betreiben. 

Auch in den USA ist das Interesse an C2C groß. Im Jahre 2003 wurde Braungart mit dem "Presidential Green Chemistry Award" ausgezeichnet. 2007 ernannte das Time Magazine McDonough und Braungart zu "Helden der Umwelt". Einer seiner prominentesten Befürworter ist außerdem Arnold Schwarzenegger. In seiner Zeit als kalifornischer Gouverneur machte er die Idee prominent. San Francisco feiert inzwischen einmal jährlich den Cradle-to-Cradle-Tag. Auch Regisseur Steven Spielberg arbeitet an einem Dokumentarfilm über den Visionär und unterstützt die Idee mit Millionenspenden. In Deutschland , dem Mutterland der Ökologiebewegung, wird Braungart hingegen mit seinen Ideen hingegen noch kaum wahrgenommen. Die von ihm ersehnte "nächste industrielle Revolution" werde hierzulande bisher verschlafen. 

Links: 

Dienstag, 28. August 2012

Mixtape No. 6: An den Rändern


1. Christian Rottler - Feuer (2006)
2. Tim Kasher - Bad, bad dreams (2010)
3. Soléy - Pretty face (2012)
4. Wilco - On and on and on (2007)
5. Gravenhurst - Cities beneath the sea (2005)
6. The XX - Crystalized (2009)
7. Destroyer - Kaputt (2011)
8. Cursive - We're going to hell (2009)
9. Vincent Gallo - Yes, I'm lonely (2001)
10. Songs: Ohia - Captain Badass (1999)

...und hier das Mixtape als Youtube-Playlist.


Montag, 20. August 2012

Das Fanal von Rostock


Es war ein Fanal in der jungen Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands. Ein Rostocker Hochhaus stand im August 1992 unter tagelanger Belagerung des rassistischen Mobs - auch weil die Sicherheitskräfte zu zurückhaltend agierten. Nur mit Glück konnten Tode verhindert werden.

1992, Deutschland ist gerade wiedervereinigt, der Eiserne Vorhang gefallen. Auf dem Balkan nimmt derweil der Jugoslawienkrieg seinen Lauf. Und Deutschland erlebt einen nie gekannten Ansturm an Asylbewerbern. Insgesamt sollten bis Ende des Jahres rund 440 000 Anträge gestellt werden. Etwa zwei Drittel aller Anträge der Europäischen Union fallen zu diesem Zeitpunkt auf Deutschland. Gut vier Prozent davon werden bewilligt. Der Zustrom erhitzt die Gemüter der Deutschen und lässt die Asyldebatte hochkochen. Die Republikaner sitzen seit 1989 im Europaparlament und haben im April des Jahres mit 10,9 Prozent den Einzug in den baden-württembergischen Landtag geschafft. Aber auch Unionspolitiker wie der Bremer Spitzenkandidat Ulrich Nölle machten Wahlkampf unter dem Schlagwort "Asylmissbrauch".

Zu diesem Zeitpunkt war Antonia Amadeo Kiowa - das erste Opfer rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung - bereits fast zwei Jahre tot. Der Mosambikaner kam als Vertragsarbeiter im Jahre 1987 in die DDR und wurde in einer Dezembernacht von Neonazis brutal ermordet, ohne dass anwesende Polizisten einschritten. Bereits im September 1991 tobte auch ein Mob im sächsischen Hoyerswerda, der sich gegen ein Heim von Vertragsarbeitern und Flüchtlingen richtete. Nachdem dieses über eine Woche lang immer wieder belagert und angegriffen wurde, kamen die Flüchtlinge schließlich unter Polizeischutz aus dem Ort. Im Deutschland der frühen 1990er Jahre herrschte eine feindselige Stimmung gegenüber Fremden.

Unhaltbare Zustände im Aufnahmelager

So auch in Rostock-Lichtenhagen, wo sich ein großes zentrales Aufnahmelager für Flüchtlinge befand. Aufgrund der starken Zuströme, vor allem aus dem Osten Europas, war dieses im Sommer 1992 heillos überlastet. Für hunderte Asylbewerber, darunter viele Sinti und Roma, fand sich nicht einmal mehr ein Platz in der Unterkunft. Sie campierten - bar jeglicher sanitären Versorgung - vor dem Hochhaus. Anwohner Lichtenhagens beschwerten sich über die Zustände vor dem "Sonnenblumenhaus" genannten Plattenbau. Bereits im Juli 1991 warnte Oberbürgermeister Klaus Kilimann: „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen“.

Doch es geschah... nichts. Neonazis nutzten die aufgeladene Stimmung und verteilten Flugblätter mit Aufrufen zur Gewalt. Am frühen Abend des 22. August versammelten sich schließlich rund 2 000 Menschen vor dem Zentralen Aufnahmelager und skandierten ausländerfeindliche Parolen. Eintreffende Polizisten wurden verprügelt. Der Mob hatte zeitweise die Kontrolle über Lichtenhagen erlangt. Was dann in den darauffolgenden Stunden und Tagen passierte, ist ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte. Denn erst in der Nacht des 25. August sollte es der Polizei gelingen, die Kontrolle über den Stadtteil zurückzuerlangen.

Rassistische Volksfeststimmung vor dem Sonnenblumenhaus

In der Zwischenzeit herrschte auf dem Platz vor dem Sonnenblumenhaus eine Art Volksfeststimmung. Neonaziführer aus dem Westen wie Christian Worch gesellten sich unter die Menge und heizten die Stimmung an. Zuschauer applaudierten und gröhlten rassistische Parolen. Am Abend des 23. August stürmten dann hunderte von Jugendlichen das Haus. Wieder gelang es den Polizeibeamten nur schwer, die Meute zu kontrollieren. Am 24. August wurde das Aufnahmelager geräumt. Die Situation schien sich zu beruhigen. Gegen 21 Uhr zogen sich die Polizisten fatalerweise zurück. Denn der Mob gab sich keineswegs damit zufrieden. Nun verlagerte sich das Geschehen auf das daneben liegende Wohnheim, in dem sich über 100 Vietnamesen befanden. Molotow-Cocktails wurden geworfen, das Haus gestürmt. Ein Reporter-Team von "Kennzeichen D" war zu diesem Zeitpunkt mit den Vietnamesen im Haus, weshalb Flucht und Todesangst filmisch gut dokumentiert sind (bei Youtube leider nur mit italienischen Untertiteln).

Nur knapp konnten die Vietnamesen in dieser Nacht dem Flammentod entgehen. Stundenlang hindern Randalierer die Feuerwehr an Löscharbeiten, von der Polizei ist lange nichts zu sehen. Im letzten Moment retten sich die eingeschlossenen Vietnamesen über das Dach des Nachbarhauses, Kurz vor Mitternacht gelang den Sicherheitskräften schließlich die Evakuierung der gut hundert Menschen aus dem brennenden Gebäude. Unter dem Beifall einer johlenden, "Deutschland den Deutschen" gröhlenden Menge wurden sie schließlich mit Bussen abtransportiert. Am letzten Tag der Ausschreitungen, dem 25. August, waren schließlich keine Fremden mehr da. Die Gewalt richtete sich nun direkt gegen die Staatsgewalt, die drei Tage lang nicht nur zu schlecht ausgestattet war, sondern auch zu zögerlich und nicht weitsichtig genug agierte. Dann war der Spuk vorbei. Der Staat hatte versagt, der Mob sein Ziel erreicht. Aber Rostock-Lichtenhagen bildete nur den Auftakt. Noch im selben Jahr kam es zum Mordanschlag von Mölln, kurz darauf zum Brandanschlag von Solingen.

Lehren aus den Ausschreitungen?

Das politische Ergebnis dieser rassistischen Pogrome war der Asylkompromiss Ende 1992. War Deutschland bis dahin eines der eher liberaleren Länder für Asylsuchende, wurde es nun zu einem der europaweit restriktivsten. Die Aussicht auf Anerkennung eines Asylantrags tendiert seitdem gegen Null. Die Zahl der Asylanträge ging in den nächsten Jahren stetig zurück. Ebenso die Erfolge der Republikaner. Der erste Jugoslawienkrieg ging 1995 zu Ende. Das Thema Asyl verschwand mehr und mehr aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Eine nennenswerte juristische Aufarbeitung der Brandnacht hat aber nie stattgefunden. Zwar wurden 370 Personen festgenommen, doch die meisten Verfahren schnell eingestellt. Lediglich vier Brandstifter kamen ins Gefängnis, drei von ihnen erst zehn Jahre nach dem Pogrom. Zehn Jahre später und wenige Tage vor dem Lichtenhagener Friedensfest verübten Jugendliche einen Brandanschlag auf einen asiatischen Imbiss, einen asiatischen Supermarkt, sowie ein Büro der Arbeiterwohlfahrt im Sonnenblumenhaus.

2012. Unlängst wurde die rassistische Mordserie des NSU aufgedeckt. Zwanzig Jahre später sitzt die NPD nun mit zwei Sitzen in der Rostocker Bürgerschaft und fünf Sitzen im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Einer von ihnen ist Michael Andrejewski, Initiator des hetzerischen Lichtenhagen-Flublatts im Sommer 1992. Und die NPD kommt immer wieder gerne zurück nach Lichtenhagen, um dort Wahlkampf zu machen gegen die Rostocker "Ausländer- und Überfremdungslobby". Oder erst kürzlich gegen den "Lichtenhagen-Schuldkult". Im Sonnenblumenhaus haben sich längst wieder Vietnamesen niedergelassen. Über die Geschehnisse im Sommer 1992 reden die Bewohner allerdings nur ungern. Zu tief sitzt das Trauma. Anfang August war Bundespräsident Gauck zu Besuch in Rostock. Er sprach davon, dass wir den Rechtsextremen "nicht unsere Angst schenken sollten". Doch die Angst, diese urdeutsche Angst, sie ist noch da.

Freitag, 17. August 2012

Zehn Jahre Hartz IV


Es war die größte Sozialstaatsreform der deutschen Geschichte - und eine der heißumstrittensten. "Hartz IV" wurde zum geflügelten Wort für Armut, Unterschicht und Ungleichheit. Die umstrittene Reform feiert nun ihren zehnten Geburtstag. Ein Grund, zu feiern? 

Am Ende der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder war Deutschland in keiner guten Verfassung: Die deutsche Wirtschaft befand sich in einer Rezession, die Arbeitslosenzahlen waren so hoch wie nie. Und obendrein war man gerade dabei, als erstes europäisches Land die Maastricht-Kriterien zu brechen. Die Bundesrepublik galt als "kranker Mann Europas". Dabei war Schröder mit dem Versprechen angetreten, die Arbeitslosenzahlen deutlich zu senken. Daran wollte er seine Kanzlerschaft messen lassen. Oder zurücktreten. Wären das Elbhochwasser und das Nein zum Irakkrieg nicht gewesen, hätte Schröder wohl schon nach vier Jahren den Hut nehmen müssen.

Der Kanzler, Mann der Tat, berief daher eine Kommission ein, die Vorschläge für Wege aus dieser Krise liefern sollte. Zehn Jahre ist es nun her, dass diese Kommission um VW-Vorstand Peter Hartz Bundeskanzler Gerhard Schröder ihr Reformkonzept präsentierte. Als Schuldige waren dort schnell der angeblich verkrustete Sozialstaat und der unflexible Arbeitsmarkt ausgemacht. Ohne harte Strukturreformen, so das Fazit, ließe sich Deutschland nicht aus der Krise herausmanövrieren. Kernstück sollte die Aktivierung der Arbeitslosen werden: "Fordern und Fördern" war die Losung.

2005 wurde Hartz IV schließlich umgesetzt. Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt und durch das Arbeitslosengeld II ersetzt. Wer dieses künftig beziehen wollte, musste seine Bedürftigkeit erst nachweisen und seine Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offen legen. Die als arbeitsfähig eingestuften (was laut Gesetz all jene sind, die drei Stunden pro Tag arbeiten können), mussten fortan beweisen, dass sie sich auch um eine Stelle bemühen. Als akzeptabel galt nun nahezu jede Arbeit. Wer sich etwas angespart hatte oder zu viel besaß, verfügte über keine Ansprüche mehr. Außerdem wurden Ein-Euro-Jobs eingeführt, mit denen Langzeitarbeitslose wieder ans Berufsleben herangeführt werden sollten. 

Nur Teil eines umfassenderen Reformkonzepts

Dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden, war nur ein Teil eines umfassenderen Reformkonzepts. Die zentralen Ziele: Arbeitslosigkeit sollte bekämpft und die Arbeitsmärkte entlastet werden. Die Hartz-Reformen setzten dafür an drei Punkten an: Erstens wurden die Lohnnebenkosten gesenkt und Minijobs eingeführt, um die Arbeitskosten zu verringern. Zweitens sollte die unternehmerische Flexibilität gestärkt werden. Befristete Arbeitsverhältnisse wurden gefördert, der Kündigungsschutz gelockert, Leiharbeit vereinfacht und Existenzgründungen (etwa in Form von Ich-AGs) erleichtert. Und schließlich sollte drittens die Arbeitslosenvermittlung verbessert werden durch verschärfte Zumutbarkeitsregeln und eine Reform der Arbeitsämter.

Die Schröder'schen Reformen erschütterten die ganze Republik. Montagsdemos gegen Hartz IV überzogen monatelang das Land. Die Linke entstand als politische Kraft, und Oskar Lafontaine feierte ein triumphales Comeback als Anti-Schröder. Die Sozialdemokratie selbst verlor unzählige Mitglieder und die Kanzlerschaft. Und auch die Arbeitswelt wurde kräftig durcheinander geschüttelt. Ironie der Geschichte: Im Jahr der Hartz-Reformen sollte die Arbeitslosigkeit erst einmal auf ein Allzeithoch von über fünf Millionen steigen.

Ungleichheit als Preis der Reformen

Der Preis der Reformen war schließlich ein rasanter Anstieg der sozialen Ungleichheit in Deutschland. Bis Ende der 1990er Jahre hatte Deutschland bei der Einkommensverteilung einen Gini-Koeffizienten von 0,25. Nach den Hartz-Reformen betrug er 0,29. Auch die Vermögensverteilung im Lande ging zunehmend auseinander. Allein von 2002 bis 2007 stieg der Vermögens-Gini-Index um drei Prozent auf 0,799. Beides ist nicht alleine den Hartz-Reformen zuzurechnen. Doch die rot-grünen Reformen trugen ihren guten Teil dazu bei. Denn heute verfügt Deutschland über Europas größten Niedriglohnsektor. Jeder vierte Beschäftigte wird dazu gezählt.

Hartz IV hat den Sozialstaat zudem pädagogisiert. Die strukturellen wirtschaftlichen Defizite wurden einfach zu individuellen Defiziten umdefiniert. Von nun an gab es den "würdigen" Arbeitslosen, der Ansprüche geltend machen kann und gefördert wird. Und es gab den "unwürdigen", der als Belastung empfunden wird, den es zu erziehen gilt - und sei es mit Leistungsentzug. Die charakterschwachen Menschen sind nach dieser Logik das Problem. Nicht die Strukturen. Auch wenn in den darauffolgenden Jahren am Hartz-IV-System immer wieder herumgedoktort wurde, an diesem Grundsatz hat sich wenig geändert.

Fazit

Nach zehn Jahren ergibt sich so ein widersprüchliches Bild. Die Wirtschaft hat sich von ihrem Tief wieder erholt. Und seit den Kontinent infolge der Finanzkrise eine Krise nach der anderen erschüttert, werden die Arbeitsmarktreformen immer wieder gerühmt. Ohne diese, so heißt es, würde Deutschland heute nicht so gut dastehen. Für die deutsche Wirtschaft waren die Reformen ein Segen. Doch wie steht es um die gesellschaftliche Wirkung? Ist dieses Land etwa solidarischer geworden? Ängstlicher jedenfalls ist es. Die sozialen Konflikte haben sich verschärft. Denn die Mittelschicht fürchtet den Abstieg. Und das öffentliche Bild der Arbeitslosen ist schlechter denn je. Zehn Jahre Hartz IV - das ist nicht unbedingt ein Grund, zu feiern.

Samstag, 11. August 2012

Irrlichternde Groove-Geister


2011 hätte das Jahr der Tune-Yards werden müssen. Denn Whokill, das zweite Album der Band, begeisterte die Fachpresse. Doch die Kritikerlieblinge wurden keine Publikumslieblinge. Tune-Yards sind auch im August 2012 bei ihrem Auftritt in Schorndorf noch ein Geheimtipp.

Woran das liegen könnte, zeigt schon der wundersame Beginn des Konzerts. Sängerin Merill Garbus betritt alleine die Bühne. Sie beginnt damit, ihr Mikrofon mit Soundschnipseln zu befüttern. Ab und an schrammelt sie dazu auf ihrer E-Ukulele. Vor ihr steht der Rumpf eines Schlagzeugs, das sie dezent, aber effektiv einsetzt. Doch die Grundstruktur entwirft sie mit ihrem Gesang, der, mit einem Effektgerät wiederholt, einen Beat ergibt. Die ersten zehn Minuten nutzt sie fast ausschließlich ihre beeindruckende Stimme, in der ein schwarzafrikanischer Geist mitschwingt und das wohl markanteste Merkmal des Soundentwurfs der Tune-Yards darstellt.

Merill Garbus, die 2009 einst das erste Album „Bird-Brains“ im Alleingang mit LoFi-Methoden einspielte und als Pay-as-you-want-Download ins Netz stellte, polarisiert mit ihrem Organ, das über eine enorme Bühnenpräsenz verfügt. Als Sängerin, so wird Garbus zitiert, sei es dabei ihr Ziel, „nicht hübsch“ zu klingen, womit sie sich implizit den gängigen Rollenerwartungen an weibliche Musikerinnen verweigert. Ihre Stimme benutzt sie vielmehr wie ein eigenes Instrument, springt ständig über Oktaven auf- und abwärts und begleitet sich selbst auf zwei bis drei Spuren. Als Tochter zweier Folk-Musiker verbrachte sie ein Jahr in Kenia. Und das scheint Spuren hinterlassen zu haben, auch inhaltlich. Der Arbeitstitel ihres Debüts hieß „White Guilt“ und auch Whokill beschäftigt sich mit Themen wie Nationalismus, Feminismus und den Aufständen und Unruhen, die unsere Zeit so prägen.

All das tritt an diesem Abend aber in den Hintergrund. Und als nach zwei langen Solostücken, in denen der LoFi-Geist der frühen Tune-Yards noch spürbar ist, die restlichen Bandmitglieder auf die Bühne kommen, wird jeglicher Subtext ohnehin irrelevant. Ihre Begleitmusiker – Nate Brenner am Bass sowie Matt Nelson und Noah Bernstein am Saxofon – entfachen vielmehr ein mitreißendes Groove-Feuer.

Doch auch mit Begleitmusikern bleibt das Grundprinzip gleich: Schicht um Schicht schält sich der Tune-Yards-Sound heraus. Der fehlende Schlagzeuger wird durch den klugen und rhythmussicheren Einsatz des Effektgeräts gut kompensiert. Was folgt, ist eine recht frei arrangierte Mischung aus Afrobeat, Indie, einer guten Portion Jazz und Elektro à la M.I.A. mit den Stücken von Whokill als solider Basis. Aus dem ursprünglich fünfminütigen „Bizness“ wird da schon mal ein fast 20-minütiger ausufernder Jam, immer zusammengehalten von ihrer markanten, leicht exaltierten Stimme, die gängigen Hörgewohnheiten und -erwartungen widerspricht.

Rhythmus und Gesang werden zu den bestimmenden Elementen des – am Ende doch recht kurzen – Abends. Da wird schon mal das Publikum als Rhythmusmaschine benutzt, greifen die Saxofonisten zu Altmetall und hämmern zuckend, aber kontrolliert auf etwas, das aussieht wie ein demolierter Topfdeckel oder eine riesige geöffnete Sardinendose. Und auch der Bassist darf sein Instrument für einen Moment ablegen und Töne mit unterschiedlich gefüllten Gläsern erzeugen. Die US-amerikanischen Tune-Yards sind keine affektierte Kunststudenten-Band. Sie sind Punks im Geiste. Denn ihr Soundentwurf ist (gerade live) radikal, originell – doch für den großen Erfolg letztlich zu kompromisslos.

Samstag, 4. August 2012

Ein feines Gespür für Dynamiken


Die Schorndorfer Manufaktur entwickelt sich zu einem Mekka für Sonic-Youth-Fans. Nach Lee Ranaldo im Juli gab sich nun am Donnerstag Thurston Moore die Ehre und sorgte für einen Abend voller Überraschungen.

Überraschend gleich der Beginn: Auf der Bühne stehen zwölf Musiker. Etwas gelangweilt und in seltsamen Gewändern bieten sie eine Unmenge an Instrumenten auf: von einer Sitar über einen Riesengong bis zu diversen elektronischen Instrumenten.

Ein Free-Jazz-Mahlstrom ergießt sich über die Manufaktur. Das Stuttgarter Kollektiv kommt ohne feste Bandstrukturen und widmet sich der Zersetzung jeglicher Struktur. Politisch wie musikalisch sollen damit Grenzen gesprengt werden. Das ist nicht für alle Ohren leicht goutierbar, weshalb sich ein großer Teil des Publikums die Zeit im Hof vertreibt. Der strukturlose Free Jazz erinnert ein wenig an Alice Coltrane und die wundersame Klangwelt von Sun Ra. Pausen gibt es keine, alles zerfließt. Und irgendwann löst sich die Musik einfach im Nichts auf.

Auftritt Thurston Moore – entspannt und cool, mit der abgehangenen Aura eines alternden Rockstars. Erst einmal gibt’s Lob für Metabolismus, die in den USA ungleich erfolgreicher sind als in ihrer Heimat. Eine Ehre sei es für ihn, auf derselben Bühne stehen zu dürfen. Der Respekt klingt ehrlich, nicht nach Höflichkeitslob. Ebenso die Manu, die er ohne ironische Distanz als „harten Free-Jazz-Schuppen“ bezeichnet.

Moore beginnt sein Set akustisch mit einem Song aus seinem neuen Album „Demolished Thoughts“, das sehr folkig ausgefallen ist. Einen Bass gibt es nicht, dafür zwei Konzertgitarren, eine Geige und Drums. Die Band spielt solide, routiniert, aber nicht mitreißend. Nach der abgedrehten Vorband wirkt Moores Songwritermaterial nicht gerade aufregend. „Demolished Thoughts“ ist ein typisches Solo-Alterswerk: naturgemäß nicht gerade die spannendste Sorte von Alben. Doch schon beim zweiten Song durchbricht der Sonic-Youth-Sänger das enge Korsett seines neusten Albums und setzt zu einer Noise-Attacke mit seiner Akustikgitarre an.

Und es kommt noch besser: Das New Yorker Noise-Urgestein besinnt sich auf seine Stärken und greift zur E-Gitarre. Im Mittelteil des Sets wird es dann laut. Eine gute Entscheidung. Der gepflegte Lärm entfaltet eine überzeugende Laut-Leise-Dynamik und bleibt – anders als vor einem Monat bei Bandkollege Lee Ranaldo – kein öder Selbstzweck.

Doch die größte Überraschung des Abends: Angekündigt war zwar Thurston Moore – ohne Vorband wohlgemerkt. Präsentiert hat sich dann aber Chelsea Light Moving. So heißt die neue Band von Moore mit Keith Wood an der Gitarre, Samara Lubelski an Geige und Bass sowie John Moloney an den Drums. Ein Album gibt es zwar noch nicht, aber im Netz kursieren bereits eine Reihe von Songs. Und die überzeugen! Den Namen seiner Band erwähnt er an dem Abend übrigens kein einziges Mal.

Ein Weißweinglas als Plektron

Der sichtlich gut gelaunte Thurston Moore legt einen souveränen Auftritt hin. Er reagiert cool, als ein Gast in der ersten Reihe anfängt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während das Publikum seinen Unmut darüber äußert, meint er nur lapidar: „No problem. I like that.“ Und während ihm eine Flasche Riesling auf die Bühne gebracht wird, bietet er sie scherzeshalber auch dem Publikum an. Sein Weißweinglas nutzt er dann auch mal praktischerweise als Plektron. Gegen Ende wird es noch mal akustisch. Nach dem noisigen Mittelteil ist das nicht nur eine Verschnaufpause fürs Trommelfell. Die Songs aus „Demolished Thoughts“ vermögen nun auch beinahe zu überzeugen.

Noch eine kurze Anmerkung zur ungewissen Zukunft von Sonic Youth: Moore hatte sich unlängst nach 27-jähriger Ehe von seiner Bandkollegin Kim Gordon getrennt. Seitdem rätselt die Musikwelt, wie es mit Sonic Youth weitergeht.

Doch das Ende der Beziehung bedeutet nicht zwangsläufig das Ende musikalischer Zusammenarbeit: Die beiden werden im September ein gemeinsames Mini-Album mit Yoko Ono veröffentlichen. Der geneigte Hörer darf also weiter auf eine Fortsetzung hoffen.

Donnerstag, 5. Juli 2012

Die Kunst des gepflegten Lärms

Über der Zukunft der New Yorker Noise-Legende Sonic Youth steht ein großes Fragezeichen. Derweil touren die Bandmitglieder solo durch die Konzertsäle. Lee Ranaldo präsentierte am Mittwoch nun sein aktuelles Album „Between the tides and times“ in der Schorndorfer Manufaktur.

Der Abend beginnt mit den Disappears, die fleißig in den weiten Klanglandschaften von Sonic Youth wildern. Kein Wunder, bedient doch Steve Shelley von Sonic Youth das Schlagzeug. Ihren repetitiven Noise ergänzen die Chicagoer mit dezenten Psychedelic-Anleihen. Der Groove erinnert in seinen besten Momenten an die Rhythmusgruppe der Krautrock-Legende Can.

Die Disappears spielen ihr Set in einem Rutsch durch und bilden eine solide Basis für einen Abend mit immerhin zwei Fünfteln von Sonic Youth. Der großartige Steve Shelley bedient nämlich auch bei Lee Ranaldo das Schlagzeug.

Ranaldo beschränkt sein Repertoire auf die zehn Stücke seines neuen Albums, das überraschend eingängig geraten ist. In der Mitte des Sets überrascht er mit dem „Revolution Blues“ von Neil Young und einer noisigen Version des Talking-Heads-Stücks „Thank you for sending me an angel“.

Dazwischen plaudert er über die Occupy-Bewegung und seine Vision einer gewaltfreien Neuen Linken, die der gewalttätigen Welt, die uns umgibt, mit Herrschaftsfreiheit, Liebe und Respekt begegnet.

Die recht konventionell geratenen Songs seines neuen Albums spielt die Band solide, aber ohne große Leidenschaft herunter. Man ist fast geneigt, sich den Bassisten und Gitarristen der Vorband zurück auf die Bühne zu wünschen. Ranaldo hingegen spielt überzeugend. Immer wieder bearbeitet er seine Gitarre, um Lärmwände zu erzeugen. Dazu benutzt er einen Geigenbogen, Drumsticks oder einfach seine Faust.

Als Zugabe gibt es „Karen Revisited“, einen der besten Songs, die Ranaldo für Sonic Youth geschrieben hat. Die Strukturen lösen sich nach fünf Minuten in einer fulminanten Noise- und Feedback-Orgie auf, die manchen Zuschauer zum Verlassen des Saals bewegt. Einige halten sich am Ende des Konzerts die Ohren zu.

Der gepflegte Lärm erzeugt an diesem sehr kurzen Abend aber allzu oft nicht viel mehr als gepflegte Langeweile. Die für Sonic Youth so typische Gratwanderung zwischen Pop-Appeal und Avantgardismus geht hier leider schief. Der Edellärm gerät zum Selbstzweck und will sich nicht so recht einfügen in die sehr klassisch geprägten Rocksongs.

Auf der Bühne steht eben nicht Sonic Youth, sondern nur ein alt gewordener Veteran der Noise-Rock-Legende. Kim Gordon und Thurston Moore - neben Ranaldo die Gründungsmitglieder der Band - haben sich nach 27 Jahren Ehe letztes Jahr scheiden lassen.

Ob sie jemals wieder gemeinsam auf einer Bühne stehen werden, ist fraglich. Welch ein Verlust für die Musikwelt das wäre, wird dem geneigten Hörer an diesem Abend schmerzlich bewusst.

Samstag, 19. Mai 2012

Wozu noch schreiben? II

Schon vor einem knappen halben Jahr hat der Autor diese Frage gestellt. Eine Antwort darauf hat er bis heute nicht gefunden - weder in sich selbst, noch in der Welt da draußen. Er hat immer geschrieben, doch immer seltener hier. Das Ich ist schrittweise verschwunden von dieser Seite.

Er fühlt sich recht wohl damit. Zu vermissen scheint ihn ohnehin kaum jemand.

Impressionen XXIV


 DER SCHAUENDE

ICH sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, der Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlich den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.

(Rainer Maria Rilke)



Isobell Campbell & Mark Lanegan - Come on over (turn me on), 2012

Donnerstag, 10. Mai 2012

Ideal und Wirklichkeit

In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Du präparierst dir im Gedankengange das,
was du willst – und nachher kriegst dus nie...
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
C'est la vie –!
Sie muß sich wie in einem Kugellager
in ihren Hüften biegen, groß und blond.
Ein Pfund zu wenig – und sie wäre mager,
wer je in diesen Haaren sich gesonnt...
Nachher erliegst du dem verfluchten Hange,
der Eile und der Phantasie.
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
Man möchte eine helle Pfeife kaufen
und kauft die dunkle – andere sind nicht da.
Man möchte jeden Morgen dauerlaufen
und tut es nicht. Beinah... beinah...
Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
an eine Republik... und nun ists die!
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
(Kurt Tucholsky, 1929) 

Montag, 7. Mai 2012

Kreative Koalitionen


Ein überraschendes Comeback für die FDP, in den Landtag einziehende Piraten, eine sich in die Bedeutungslosigkeit verabschiedende Linke und „Volksparteien“, die zusammen auf nicht einmal mehr 2/3 der Stimmen kommen. Was bedeuten diese Wahlen für die Republik?

Auf den ersten Blick nicht viel, handelt es sich doch um eine Wahl in einem kleinen, dünn besiedelten und ländlich geprägten Bundesland. Signalwirkungen sind kaum zu erwarten, auch nicht von der Regierungsbildung. Oder sollte der Südschleswigsche Wählerverband etwa bald Landesverbände in Niedersachsen oder Bayern gründen? Wohl kaum. Aber auf den zweiten Blick spiegelt die Wahl im hohen Norden ein paar grundsätzliche politische Entwicklungen wider:
  1. Die FDP darf wieder Hoffnung schöpfen, sie hat die Talsohle verlassen. Der Anti-Rösler Wolfgang Kubicki konnte die Partei deutlich vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit bewahren. Zwar verloren die Liberalen auch hier einen Teil ihrer Wählerschaft. Die fast 15 % von 2009 sind jedoch kein Maßstab, acht Prozent sind für die Verhältnisse im Land durchaus gut. Doch Parteivorsitzender ist immer noch Philipp Rösler. Und eine grundsätzliche Erneuerung der Liberalen lässt immer noch auf sich warten.
  2. Die Linke hingegen ist abgestürzt. Vieles deutet darauf hin, dass sie sich auf lange Sicht im Westen wieder auf PDS-Niveau einpendeln werden. Die Westausdehnung (bis auf den Sonderfall Saarland) droht zu scheitern. Vieles wird von den Wahlen am kommenden Sonntag in NRW abhängen. Die Umfragen verheißen nichts Gutes. Letzte Hoffnung für die Partei: wieder einmal Oskar Lafontaine.
  3. Die Piraten können im Moment wohl einfach nichts falsch machen. Sie sind attraktiv für Protestwähler, integrieren Nichtwähler ins politische System, wirken jung, anders, bringen Bewegung in die Parteienlandschaft und können fordern, was sie wollen. Wenn sie denn mal etwas fordern. Kein Skandal kann ihnen etwas anhaben, und jeder negative Bericht in den Medien lässt sie nur noch attraktiver erscheinen. Nicht zuletzt sie haben den Höhenflug der Grünen jäh gestoppt. Wie die Ur-Grünen verbreiten sie den Charme einer Anti-Partei. Wie nachhaltig der Erfolg sein wird, ist schwer vorherzusagen. Der parlamentarische Test wird zeigen, wie schnell sich die Partei „normalisiert“.
  4. SPD und CDU haben ein strukturelles Problem: Sie sind selbst nicht mehr stark genug, um Mehrheiten zu generieren und leiden gleichzeitig unter der Schwäche ihrer „klassischen“ Partner. Weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb wird es in Schleswig-Holstein reichen. Aber auch im Bund hätte keine dieser Konstellationen eine Mehrheit. Auf absehbare Zeit dürfen wir daher immer mehr kreative Dreierkonstellationen (vielleicht sogar bald Rot-Grün-Pirat) erwarten – oder eine permanente Neuauflage der ungeliebten Großen Koalition.

Mittwoch, 7. März 2012

Mixtape No. 5: The Inborn Drive Towards Perfection.

1. Laço Tayfa - Bazalika (2000)
2. Neşet Ertaş - Zahidem 
3. Slint - Washer (1991)
4. Can - Geheim (half past one) (1974)
5. Serge Gainsbourg - Melody (1971)
6. Mouse on the keys - Raumkrankheit (2007)
7. Tortoise - Charteroak Foundation (2009)
8. Arvo Pärt - Spiegel im Spiegel (1978)
9. Gustav Holst - Venus, the bringer of peace (1916)
10. Philip Glass - Koyaanisqatsi (1982)
11. Ostzonensuppenwürfelmachenkrebs - Von Haus aus allein (2000)
12. Motörhead - Ace of spades (1980)

...und das ganze gibt es natürlich auch diesmal wieder als Youtube-Playlist.


Freitag, 2. März 2012

Impressionen XXIII: Vom letzten Gang.




Finlale

Still. Kein Wort mehr, keine Nennung
ausgezählt das Lager, ab jetzt
die Stufen hinab und weg
kein daß mehr und kein wie
ein letztes also noch, aber dann
ist also Schluß, ausgezogen/schnurstraks
meinetwegen mit Lineal
der letzte Strich so
gerade eben noch ins Aus
in den lauten Schluß:
hat nicht viel gebracht
alles

(Franzobel)


The Death Defying Unicorn


Motorpsycho bleiben sich treu und arbeiten auch mit ihrem neuesten Werk konsequent weiter an ihrer Vorstellung einer zeitgemäßen, progressiven Rockmusik. Nach Ausflügen in ruhigere und kommensurablere Strukturen (u.a. Indie, Jazz & Country) Ende der 1990er Jahre, wandten sich die Norweger seit Black Hole/Black Canvas (2006), und noch deutlicher seit Little Lucid Moments (2008), der Neuvermessung eines vermeintlich Mitte der 1970er Jahre ins Maßlose ausgeuferten (und daher weitgehend gescheiterten) Genres zu.

"The Death Defying Unicorn" wirkt mit seinen opulenten Kompositionen und einer Spielzeit von annähernd 90 Minuten wie aus der Zeit gefallen. Die Zusammenarbeit mit Ståle Storløkken, seines Zeichens Jazz-Keyboarder, und dem Trondheim Jazz Orchestra bestand ursprünglich nur in einem Auftritt beim Molde International Jazz Festival 2010. Aus dem über weite Strecken improvisierten, instrumentalen, noch unausgereiften Konzert kristallisierte sich schließlich eine moderne Rockoper heraus, die es schafft, Kitsch und Effekthascherei zu vermeiden, weil sie das Orchester nicht bloß als reinen Verstärker instrumentalisiert, sondern sich an einer Symbiose aus Rock, Klassik und Jazz versucht und damit den ursprünglichen Anspruch des ProgRock (nämlich die Verschmelzung von U- und E-Musik) ernst nimmt.

Dass das musikalische Ergebnis alles andere als gefällig ist, versteht sich dabei von selbst. Doch um ihre Kommensurabilität scheinen sich Motorpsycho ohnehin nicht allzu sehr zu scheren. Stattdessen arbeiten die Trondheimer seit 1989 beständig an der Ausweitung ihrer musikalischen Ausdrucksformen, und stellen mit diesem dritten und wohl abschließenden ProgRock-Werk in Folge ein bemerkenswertes Maß an künstlerischer Autonomie unter Beweis. Hats off to Motorpsycho!

Donnerstag, 19. Januar 2012

A Love Supreme


Part 1: Acknowledgment (7:43)
Part 2: Resolution (7:20)
Part 3: Pursuance (10:42)
Part 4: Psalm (7:05)

Montag, 2. Januar 2012