Freitag, 17. August 2012

Zehn Jahre Hartz IV


Es war die größte Sozialstaatsreform der deutschen Geschichte - und eine der heißumstrittensten. "Hartz IV" wurde zum geflügelten Wort für Armut, Unterschicht und Ungleichheit. Die umstrittene Reform feiert nun ihren zehnten Geburtstag. Ein Grund, zu feiern? 

Am Ende der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder war Deutschland in keiner guten Verfassung: Die deutsche Wirtschaft befand sich in einer Rezession, die Arbeitslosenzahlen waren so hoch wie nie. Und obendrein war man gerade dabei, als erstes europäisches Land die Maastricht-Kriterien zu brechen. Die Bundesrepublik galt als "kranker Mann Europas". Dabei war Schröder mit dem Versprechen angetreten, die Arbeitslosenzahlen deutlich zu senken. Daran wollte er seine Kanzlerschaft messen lassen. Oder zurücktreten. Wären das Elbhochwasser und das Nein zum Irakkrieg nicht gewesen, hätte Schröder wohl schon nach vier Jahren den Hut nehmen müssen.

Der Kanzler, Mann der Tat, berief daher eine Kommission ein, die Vorschläge für Wege aus dieser Krise liefern sollte. Zehn Jahre ist es nun her, dass diese Kommission um VW-Vorstand Peter Hartz Bundeskanzler Gerhard Schröder ihr Reformkonzept präsentierte. Als Schuldige waren dort schnell der angeblich verkrustete Sozialstaat und der unflexible Arbeitsmarkt ausgemacht. Ohne harte Strukturreformen, so das Fazit, ließe sich Deutschland nicht aus der Krise herausmanövrieren. Kernstück sollte die Aktivierung der Arbeitslosen werden: "Fordern und Fördern" war die Losung.

2005 wurde Hartz IV schließlich umgesetzt. Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt und durch das Arbeitslosengeld II ersetzt. Wer dieses künftig beziehen wollte, musste seine Bedürftigkeit erst nachweisen und seine Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offen legen. Die als arbeitsfähig eingestuften (was laut Gesetz all jene sind, die drei Stunden pro Tag arbeiten können), mussten fortan beweisen, dass sie sich auch um eine Stelle bemühen. Als akzeptabel galt nun nahezu jede Arbeit. Wer sich etwas angespart hatte oder zu viel besaß, verfügte über keine Ansprüche mehr. Außerdem wurden Ein-Euro-Jobs eingeführt, mit denen Langzeitarbeitslose wieder ans Berufsleben herangeführt werden sollten. 

Nur Teil eines umfassenderen Reformkonzepts

Dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden, war nur ein Teil eines umfassenderen Reformkonzepts. Die zentralen Ziele: Arbeitslosigkeit sollte bekämpft und die Arbeitsmärkte entlastet werden. Die Hartz-Reformen setzten dafür an drei Punkten an: Erstens wurden die Lohnnebenkosten gesenkt und Minijobs eingeführt, um die Arbeitskosten zu verringern. Zweitens sollte die unternehmerische Flexibilität gestärkt werden. Befristete Arbeitsverhältnisse wurden gefördert, der Kündigungsschutz gelockert, Leiharbeit vereinfacht und Existenzgründungen (etwa in Form von Ich-AGs) erleichtert. Und schließlich sollte drittens die Arbeitslosenvermittlung verbessert werden durch verschärfte Zumutbarkeitsregeln und eine Reform der Arbeitsämter.

Die Schröder'schen Reformen erschütterten die ganze Republik. Montagsdemos gegen Hartz IV überzogen monatelang das Land. Die Linke entstand als politische Kraft, und Oskar Lafontaine feierte ein triumphales Comeback als Anti-Schröder. Die Sozialdemokratie selbst verlor unzählige Mitglieder und die Kanzlerschaft. Und auch die Arbeitswelt wurde kräftig durcheinander geschüttelt. Ironie der Geschichte: Im Jahr der Hartz-Reformen sollte die Arbeitslosigkeit erst einmal auf ein Allzeithoch von über fünf Millionen steigen.

Ungleichheit als Preis der Reformen

Der Preis der Reformen war schließlich ein rasanter Anstieg der sozialen Ungleichheit in Deutschland. Bis Ende der 1990er Jahre hatte Deutschland bei der Einkommensverteilung einen Gini-Koeffizienten von 0,25. Nach den Hartz-Reformen betrug er 0,29. Auch die Vermögensverteilung im Lande ging zunehmend auseinander. Allein von 2002 bis 2007 stieg der Vermögens-Gini-Index um drei Prozent auf 0,799. Beides ist nicht alleine den Hartz-Reformen zuzurechnen. Doch die rot-grünen Reformen trugen ihren guten Teil dazu bei. Denn heute verfügt Deutschland über Europas größten Niedriglohnsektor. Jeder vierte Beschäftigte wird dazu gezählt.

Hartz IV hat den Sozialstaat zudem pädagogisiert. Die strukturellen wirtschaftlichen Defizite wurden einfach zu individuellen Defiziten umdefiniert. Von nun an gab es den "würdigen" Arbeitslosen, der Ansprüche geltend machen kann und gefördert wird. Und es gab den "unwürdigen", der als Belastung empfunden wird, den es zu erziehen gilt - und sei es mit Leistungsentzug. Die charakterschwachen Menschen sind nach dieser Logik das Problem. Nicht die Strukturen. Auch wenn in den darauffolgenden Jahren am Hartz-IV-System immer wieder herumgedoktort wurde, an diesem Grundsatz hat sich wenig geändert.

Fazit

Nach zehn Jahren ergibt sich so ein widersprüchliches Bild. Die Wirtschaft hat sich von ihrem Tief wieder erholt. Und seit den Kontinent infolge der Finanzkrise eine Krise nach der anderen erschüttert, werden die Arbeitsmarktreformen immer wieder gerühmt. Ohne diese, so heißt es, würde Deutschland heute nicht so gut dastehen. Für die deutsche Wirtschaft waren die Reformen ein Segen. Doch wie steht es um die gesellschaftliche Wirkung? Ist dieses Land etwa solidarischer geworden? Ängstlicher jedenfalls ist es. Die sozialen Konflikte haben sich verschärft. Denn die Mittelschicht fürchtet den Abstieg. Und das öffentliche Bild der Arbeitslosen ist schlechter denn je. Zehn Jahre Hartz IV - das ist nicht unbedingt ein Grund, zu feiern.

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