Samstag, 19. Mai 2012

Wozu noch schreiben? II

Schon vor einem knappen halben Jahr hat der Autor diese Frage gestellt. Eine Antwort darauf hat er bis heute nicht gefunden - weder in sich selbst, noch in der Welt da draußen. Er hat immer geschrieben, doch immer seltener hier. Das Ich ist schrittweise verschwunden von dieser Seite.

Er fühlt sich recht wohl damit. Zu vermissen scheint ihn ohnehin kaum jemand.

Impressionen XXIV


 DER SCHAUENDE

ICH sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, der Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlich den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.

(Rainer Maria Rilke)



Isobell Campbell & Mark Lanegan - Come on over (turn me on), 2012

Donnerstag, 10. Mai 2012

Ideal und Wirklichkeit

In stiller Nacht und monogamen Betten
denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt.
Die Nerven knistern. Wenn wir das doch hätten,
was uns, weil es nicht da ist, leise quält.
Du präparierst dir im Gedankengange das,
was du willst – und nachher kriegst dus nie...
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
C'est la vie –!
Sie muß sich wie in einem Kugellager
in ihren Hüften biegen, groß und blond.
Ein Pfund zu wenig – und sie wäre mager,
wer je in diesen Haaren sich gesonnt...
Nachher erliegst du dem verfluchten Hange,
der Eile und der Phantasie.
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
Man möchte eine helle Pfeife kaufen
und kauft die dunkle – andere sind nicht da.
Man möchte jeden Morgen dauerlaufen
und tut es nicht. Beinah... beinah...
Wir dachten unter kaiserlichem Zwange
an eine Republik... und nun ists die!
Man möchte immer eine große Lange,
und dann bekommt man eine kleine Dicke –
Ssälawih –!
(Kurt Tucholsky, 1929) 

Montag, 7. Mai 2012

Kreative Koalitionen


Ein überraschendes Comeback für die FDP, in den Landtag einziehende Piraten, eine sich in die Bedeutungslosigkeit verabschiedende Linke und „Volksparteien“, die zusammen auf nicht einmal mehr 2/3 der Stimmen kommen. Was bedeuten diese Wahlen für die Republik?

Auf den ersten Blick nicht viel, handelt es sich doch um eine Wahl in einem kleinen, dünn besiedelten und ländlich geprägten Bundesland. Signalwirkungen sind kaum zu erwarten, auch nicht von der Regierungsbildung. Oder sollte der Südschleswigsche Wählerverband etwa bald Landesverbände in Niedersachsen oder Bayern gründen? Wohl kaum. Aber auf den zweiten Blick spiegelt die Wahl im hohen Norden ein paar grundsätzliche politische Entwicklungen wider:
  1. Die FDP darf wieder Hoffnung schöpfen, sie hat die Talsohle verlassen. Der Anti-Rösler Wolfgang Kubicki konnte die Partei deutlich vor dem Absturz in die Bedeutungslosigkeit bewahren. Zwar verloren die Liberalen auch hier einen Teil ihrer Wählerschaft. Die fast 15 % von 2009 sind jedoch kein Maßstab, acht Prozent sind für die Verhältnisse im Land durchaus gut. Doch Parteivorsitzender ist immer noch Philipp Rösler. Und eine grundsätzliche Erneuerung der Liberalen lässt immer noch auf sich warten.
  2. Die Linke hingegen ist abgestürzt. Vieles deutet darauf hin, dass sie sich auf lange Sicht im Westen wieder auf PDS-Niveau einpendeln werden. Die Westausdehnung (bis auf den Sonderfall Saarland) droht zu scheitern. Vieles wird von den Wahlen am kommenden Sonntag in NRW abhängen. Die Umfragen verheißen nichts Gutes. Letzte Hoffnung für die Partei: wieder einmal Oskar Lafontaine.
  3. Die Piraten können im Moment wohl einfach nichts falsch machen. Sie sind attraktiv für Protestwähler, integrieren Nichtwähler ins politische System, wirken jung, anders, bringen Bewegung in die Parteienlandschaft und können fordern, was sie wollen. Wenn sie denn mal etwas fordern. Kein Skandal kann ihnen etwas anhaben, und jeder negative Bericht in den Medien lässt sie nur noch attraktiver erscheinen. Nicht zuletzt sie haben den Höhenflug der Grünen jäh gestoppt. Wie die Ur-Grünen verbreiten sie den Charme einer Anti-Partei. Wie nachhaltig der Erfolg sein wird, ist schwer vorherzusagen. Der parlamentarische Test wird zeigen, wie schnell sich die Partei „normalisiert“.
  4. SPD und CDU haben ein strukturelles Problem: Sie sind selbst nicht mehr stark genug, um Mehrheiten zu generieren und leiden gleichzeitig unter der Schwäche ihrer „klassischen“ Partner. Weder für Rot-Grün noch für Schwarz-Gelb wird es in Schleswig-Holstein reichen. Aber auch im Bund hätte keine dieser Konstellationen eine Mehrheit. Auf absehbare Zeit dürfen wir daher immer mehr kreative Dreierkonstellationen (vielleicht sogar bald Rot-Grün-Pirat) erwarten – oder eine permanente Neuauflage der ungeliebten Großen Koalition.