Donnerstag, 31. Dezember 2015

Mittwoch, 30. Dezember 2015

Flüchtige Notizen VII: Diktatorisch

20.11.2005:

Nur soviel: dass die Diktatur des Proletariats in seinen Effekten genau so wenig gerecht sein kann wie die Diktatur einer Minderheit und in seinen Effekten dem ursprünglich gewollten ganz entgegengesetzte Wirkungen erzielen kann, dürfte durch die Geschichte des real existierenden Sozialismus einigermaßen einleuchtend sein. Dass die Menschheit an sich jedoch absolut nicht imstande ist, jemals den Kommunismus zu erreichen erklärt sich für mich durch die Unmöglichkeit, alle Menschen unter einem gleichen Gedanken zu vereinen ohne Zwang auszuüben. Jeder Versuch muss zwangsläufig in eine Überwachungs- und Erziehungsdikatur münden, da jeder Mensch ein gewisses Maß an (zugegebenermaßen oft irrationaler) Distinktion anstrebt, in jedem System. Und damit geht nicht nur die Freiheit, sondern gleichzeitig auch die Gleichheit unter, weil es mindestens eines Ungleichen (eines Tyrannen wie Stalin, einer Parteidiktatur, eines Systems der Systemprofiteure, einer elitären Kontrollinstanz, etc.) bedarf. Damit aber unterläuft und korrumpiert sich das System selbst, wird also ein Unrechts- und Ungleichheitsstaat unter dem Banner von Gleichheit und Gerechtigkeit. Es entsteht Unsicherheit, Angst, und damit die Tendenz zur Anpassung und Unterordnung. Konflikte werden unter den Teppich gekehrt oder mit Gewalt unterdrückt. Die dynamische Selbstregulierung einer Gesellschaft wird unterlaufen und damit erstarrt das System - oder es gerät auf fatale Irrwege.

Montag, 21. September 2015

Jochen Distelmeyer - die Geschichte eines Scheiterns

Kaum jemand, der es gelesen hat, fand „Otis“ wirklich überzeugend. Genüsslich wurde der erste Roman des Blumfeld-Sängers in den Feuilletons zerrissen. Nicht mal ein Dutzend Zuhörer fanden im März den Weg zur Lesung in der Schorndorfer Manufaktur. Doch warum scheitern Musiker eigentlich so häufig beim Schreiben von Büchern?

Vielleicht, weil das Medium so unterschiedlich ist: auf der einen Seite die dichtende, verdichtete, deklamierende und zugespitzte Sprache des Popsongs. Auf der anderen das Epische, Detailreiche, Vielgestaltige und Ausufernde des Romans. Vielleicht auch, weil sich mancher Sänger aus grandioser Selbstüberschätzung zu Höherem berufen fühlt. Schließlich wird gemeinhin – von Ausnahmen wie Dylan oder Cohen mal abgesehen – nur derjenige als Literat ernst genommen, der seine Texte nicht singend vorträgt, sondern zwischen zwei Buchdeckeln packt. Und weil es der Sänger gewohnt ist, von den Massen gehört und bewundert zu werden, hält er seine Texte für wichtig genug, dass sie da auch hingehören.

Musiker-Romane: Leider allzu oft nur ein großes Missverständnis

Auf eben jene Bekanntheit stürzen sich dann allzu oft auch renommierte Verlage – im hoffentlich vollen Bewusstsein, zwar keine große Literatur, dafür aber einen auflagenstarken Bestseller zu landen. Diese Melange ermöglicht erst jenes Missverständnis, das sich am Ende in den Regalen der Buchläden der Republik findet. Und das von niemandem so recht geschätzt wird.

Das muss beileibe nicht immer so sein. Es gibt auch leuchtende Gegen-Beispiele, allen voran jenes von Sven Regener, der als Sänger von Element of Crime gehaltvolle melancholische Chansons schrieb. Und dann als Schriftsteller eine zweite, ungleich größere Bekanntheit erreichte. Sein lakonisch-komischer „Herr Lehmann“ war völlig zu Recht ein Erfolg. Leander Haußmanns Verfilmung mit Christian Ulmen in der Hauptrolle wurde 2003 sogar ein veritabler Erfolg an den Kinokassen. Aber auch Kollegen aus der deutschen Musikszene wie Peter Licht oder Frank Spilker (Die Sterne) haben als Schriftsteller zumindest nicht gerade unglücklich debütiert.

Jetzt also Distelmeyer, der als Sänger von Blumfeld zunächst Diskurs-Rock, dann Songwriter-Pop machte und unter Musikkritikern lange Zeit als sakrosankt galt. Zumindest bis zum Ende von Blumfeld und seinem Solo-Album „Heavy“. Distelmeyer galt mit seinen wortgewaltigen Texten, zumal den frühen aus den 90er Jahren, als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten Hamburger Schule.

Dass gerade Distelmeyer irgendwann mit einem Roman aufwarten würde, war im Grunde absehbar. Schließlich finden sich in den frühen, diskursiven Texten des Wahl-Hamburgers zahllose literarische Bezüge: von Gottfried Benn bis Rolf-Dieter Brinkmann oder Else Lasker-Schüler. Hardcore-Fans machten es sich einst zur Aufgabe, die Texte darauf abzuklappern und mit Fußnoten zu versehen. Auch hat seine einstige Band ihren Namen von einer Erzählung Kafkas. Und auf zwei Blumfeld-Alben rezitierte der Sänger lange Gedichte. Das Gefühl und der Anspruch für das Literarische schienen also durchaus vorhanden zu sein.

Dennoch entstand „Otis“ nun als Nebenprodukt auf der Suche nach Songtexten. Einer Suche, die so ausuferte, dass der Autor beschloss, daraus einen Roman zu stricken. Das merkt man der Geschichte nun leider auch an: Tristan Funke, Schriftsteller und Protagonist des Romans, flieht aus Liebeskummer in die Hauptstadt und arbeitet dort an einem Romanprojekt zu Homers Odyssee, das am Ende – kaum überraschend – grandios scheitern wird.

In der Zwischenzeit quält sich der Leser durch viele nichtssagende Dialoge, durch Beschreibungen des Innenlebens gelangweilter Hauptstädter – und fragt sich, wohin der Autor mit seiner Geschichte eigentlich will. Daneben serviert Distelmeyer etliche zwar interessante, doch selten für die Geschichte notwendige Exkurse, etwa zum Holocaustmahnmal, der Geschichte des Tierparks und natürlich Homers Odyssee. Oder steigt in eine Nebenerzählung ein, die weder zu Ende erzählt wird noch in irgendeinem Zusammenhang mit der Geschichte steht. In die Mitte des Romans hat der Autor dann ein skurriles Theaterstück namens „Das Loch“ gepackt, was angesichts der eher bescheidenen Rahmenhandlung doch reichlich prätentiös wirkt. Kaum zu fassen, dass der Mann mal für große Texte stand.

Weshalb der Roman dennoch lohnt? Weil er ein gutes Negativ-Beispiel liefert, wie es ein Autor nicht machen sollte. Und der Leser nach rund 80 Seiten erleichtert feststellt, dass „Otis“ dennoch kein Totalausfall ist, sondern durchaus lesbar. Immerhin.

Otis. Jochen Distelmeyer. 288 Seiten. Rowohlt Verlag. ISBN 97-3-498-01203-8

Dienstag, 15. September 2015

Michel Houellebecq: Eine Abrechnung mit der französischen Republik

Es war der Literaturskandal des Jahres: Michel Houellebecqs Beschreibung eines Frankreichs im Ausnahmezustand. Einer Republik, die nicht mehr an sich selbst glaubt und darum ihr Heil im Islam sucht.

Die Wucht, mit der das Buch in der literarischen Welt – und auch darüber hinaus – aufgenommen wurde, sie erklärt sich vor allem aus dem seltsamen historischen Zufall, dass am Tag der Veröffentlichung Terroristen das Büro der Satiriker von Charlie Hebdo stürmten. Auf dem Cover: eine Karikatur des Autors Houellebecq.

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Buch ist keine islamfeindliche Hetzschrift, auch wenn der Franzose mit dem seltsamen Haarschnitt und dem ungesunden Lebenswandel gerne provoziert. Auch wenn Houellebecq mit Sicherheit kein großer Menschenfreund ist und sich daher in der Vergangenheit unter anderem abfällig über den Islam geäußert hat. Denn bei der Lektüre von „Unterwerfung“ wird schnell klar, wem hier eigentlich der Frontalangriff gilt: der Französischen Republik und ihren Eliten, die sich Houellebecq nicht scheut zu nennen und – von Hollande und Sarkozy bis Henry-Levy – namentlich zu diffamieren. Zu dieser Elite zählt sich auch Literaturprofessor François, der Ich-Erzähler des Romans. Doch an die Werte der Republik glaubt er schon lange nicht mehr. Stattdessen flüchtet sich der oberflächlich Unpolitische in seine Bücherwelt (der Professor ist Experte für den Schriftsteller Joris-Karl Huysman), unbefriedigende Liebschaften mit seinen Studentinnen und den Alkohol. Doch so einsam und trüb seine Existenz, so klar der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse.

Und die sind zu Beginn des Romans im Frankreich des Jahres 2012 reichlich prekär. Das Land wird zerrieben zwischen den politischen Extremen, zwischen Front National, Identitärer Bewegung und islamischen Extremisten. Auf den Straßen tobt ein blutiger Bürgerkrieg, von dem das Volk nichts mitbekommen soll. Und bei den Wahlen schickt sich derweil ein Muslim an, Präsident zu werden. Was ihm schließlich auch gelingt.

François nimmt diese gesellschaftlichen Veränderungen vor der Schablone seiner eigenen, zunehmend ins Abseits schlitternden Existenz wahr. Mit dem Sieg der muslimischen Partei und unter dem Präsident Mohamed Ben Abbès kehrt schnell Ruhe ein. Schnell zeigt sich, zumal für die Elite, dass die neue Führung mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringt. Viele, die gerade noch glühende Verfechter der Aufklärung waren, konvertieren – und wechseln die Seiten.

Im Grunde also ein recht simpler Plot, der dennoch eine beachtliche Sogwirkung entfaltet – und am Ende dieses leicht lesbaren Buchs mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt. Denn das hat Houellebecqs Romane seit jeher ausgezeichnet: dass er bei seiner Gesellschafts- und Kulturkritik niemanden ausnimmt, auf keiner Seite steht, keine Politik betreibt – und sich daher auch nicht so einfach vereinnahmen lässt.

Unterwerfung. Michel Houellebecq. 260 Seiten. DuMont Buchverlag. ISBN: 978-383-2-19795-7

Freitag, 3. April 2015

Freitag, 20. März 2015

Sonnenfinsternis

20. März, 10.15 Uhr

Mittwoch, 18. März 2015

regenwürmer


in jenem sommer lag die erde rissig
und trocken da. mit wechselstrom und drähten
im boden schufen wir ein falsches wetter
und lockten würmer hoch, um jene zwitter
an blanke haken auszuliefern. jahre später

seh ich am himmel ihre schatten ziehen, riesig,
in dunklen wolken, präsentiert sich mir die welt
vorm fenster als kaltes quadrat. ich warte auf das klopfen
an meiner tür und vor der scheibe fällt und fällt
der regen. ich mißtraue jedem tropfen.

(Jan Wagner, Guerickes Sperling, 2004)

Samstag, 14. März 2015

Impressionen No. XL: Wem gehört die Welt?

 
"Wem gehört die Welt?" - Ausstellung von und mit Asylbewerbern in der Kill Galerie im KunstWerk, Fellbach und ein Bericht von mir darüber.

Montag, 2. März 2015

Die Rettungspolitik ist eine Farce


Die Rettungspolitik der Institutionen - formerly known as Troika - ist eine Farce. Sie basiert auf falschen Prämissen, falschen Versprechungen und einer demokratisch nicht legitimierten Entscheidungsstruktur.

Dabei sind ihre Prämissen recht simpel: Was staatlich ist, funktioniert schlecht, was privat ist hingegen effizient. Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen sind Wettbewerbshemmnisse, die es abzuschaffen gilt. Wenn Staaten Geld sparen entsteht Wirtschaftswachstum, wenn sie zuviel davon ausgeben Rezession. Banken sind systemrelevant, Menschen nicht. Wer eine Uni besucht hat, kennt diesen aus den Untiefen der Wissenschaftsdisziplin Wirtschaft entsprungenen Tunnelblick zur Genüge.

Die neoliberalen Ideen haben jedoch im Ergebnis die europäischen Krisenländer zugrunde gerichtet. Niemand kann das noch ernsthaft bezweifeln. Sie haben Arbeitnehmerrechte abgeschafft, viele Millionen Menschen in die Armut und ein Leben ohne soziale Absicherung, ohne Krankenversicherung befördert. Sie haben Steuereinnahmen und Wirtschaftswachstum abgewürgt und stattdessen eine nie dagewesene Umverteilung von unten nach oben, von Staat zu privat, von der Real- in die Finanzwirtschaft bewirkt. Während immer größere Teile der gebildeten doch chancenlosen jungen Menschen in Portugal, Griechenland, Spanien oder Irland auswandern. 

Und doch wird uns diese Politik nach fünf Jahren immer noch als heroische Rettung auf unsere Kosten verkauft. Was skurril anmutet, denn gerettet wurden eigentlich nur Banken, hauptsächlich deutsche und französische, die mit ihren Spekulationen den Zustand mitverursacht haben, der von der europäischen Politik seitdem in regelmäßigen Abständen "gelöst" wird. Profitiert haben zudem Oligarchen, also private Akteure ohne jedes gesamtgesellschaftliche Interesse.

Eine Politik, durchgesetzt von Menschen, die nie gewählt wurden, darum keinem Wähler Rechenschaft schuldig sind, die sich auch keiner Schuld bewusst sind und keine Probleme damit haben, souveräne Staaten schamlos und ihren eigenen Interessen folgend zu entmündigen.

Die Doku von Wirtschaftsjournalist Harald Schumann vertieft das in anderthalb Stunden recht eindeutig, anhand vieler unbestreitbarer Fakten, Zeugen, Betroffener und - als Gegenpol - Vertretern der Institutionen, die sich hinter diese Politik stellen. Die echten Entscheider von EZB, EU-Kommission und IWF hingegen haben sich der Stimme wohlweislich besser enthalten.

Sonntag, 1. März 2015

Impressionen No. XXXIX: Retrospektiv

 

Schmutzige Kriege


Nichts hat den Terrorismus nach 9/11 mehr gefördert als der "Krieg gegen den Terror" selbst. In "Dirty Wars" berichtet der US-amerikanische Kriegsberichterstatter Jeremy Scahill - unter anderen tätig für "The Nation" - über die verdeckten Aktionen der Joint Special Operations Command (JSOC), die unter Präsident Obama stetig ausgebaut wurden. Mittlerweile ist die 1980 gegründete und zunächst hauptsächlich bei Geiselnahmen zum Einsatz gekommene JSOC in mehr als 75 Ländern aktiv.

Todeslisten, Drohnenangriffe, gezielte Tötungen, nächtliche Angriffe mit zivilen Opfern, die vertuscht werden und investigative Journalisten, die auf persönliche Anweisung Obamas inhaftiert werden - darauf trifft der Autor bei seinen Recherchen in Irak, Afhganistan, Jemen und Somalia. Ein weiteres dunkles Kapitel der US-Außenpolitik.

Das dreckige Fleisch

Fleisch aus dem Discounter für drei Euro: Dass so etwas nur mit unwürdiger und hygienisch fragwürdiger Tierhaltung zu bewerkstelligen ist, dürfte jedem einleuchten. Aber die billigen Fleischberge sind auch auf menschlicher Seite mit viel Leid erkauft. Denn die großen Schlachthöfe dieses Landes setzen auf menschenunwürdige Arbeitsbedigungen. Indem man den Arbeitsschutz umgeht, sittenwidrige Löhne zahlt und die Arbeitskraft der Schlachter aufs Äußerste ausbeutet.

Möglich macht das eine Gesetzeslücke namens Werkvertrag. Bei der EU-Osterweiterung hat die Bundesregierung einst durchgesetzt, dass die Osteuropäer bis zu sieben Jahre auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit verzichten. Eigentlich sollte damit genau das verhindert werden, was in der Folge eintrat. Doch die Dienstleistungsfreiheit galt natürlich trotzdem. Betriebe bzw. als Briefkastenfirmen getarnte Betrieb aus dem Osten konnten also ihre Dienstleistungen - zu den Bedingungen in ihren Ländern wohlgemerkt - auch in Deutschland anbieten.

Die großen Schlachthöfe erkannten darin eine Chance, die Kosten weiter zu senken und setzen verstärkt auf osteuropäische, vornehmlich rumänische und bulgarische Subunternehmer, die gleich ganze Produktionsschritte übernahmen. Im Ergebnis leben nun mitten in Deutschland Schlachthof-Mitarbeiter und sklavenähnlichen Bedingungen, mies bezahlt, im Stall oder gleich im Wald schlafend. Und ständig in Kontakt mit Billigfleisch, verseucht mit Antibiotika und multiresistenten Keimen. Ohne anständigen Arbeitsschutz. Und oft ohne Krankenversicherung.

Nach der Lektüre dessen, was Anne Kunze bereits Ende letzten Jahres da in der Zeit aufdeckte, ist mir buchstäblich schlecht geworden.

Samstag, 28. Februar 2015

Ob ich es liebe, weiß ich nicht

Warum man als Linker nicht unbedingt antideutsch sein, sondern für ein gutes Leben hier streiten sollte, erklärte Franz-Josef Degenhardt bereits 1977 in seiner unnachahmlichen Art und Weise. Schon gut drei Jahre ist es nun her, dass der singende Jurist von uns gegangen ist. Eine Stimme, die fehlt.

Dies Land ist unser Land

Ob ich es liebe, weiß ich nicht. Ich lebe hier und lebe gern,
schon weil die anderen Vaterländer auch bloß Vaterländer sind.
Die sind trotz allem ziemlich fremd und sind trotz allem ziemlich fern,
und — weil geschrien hab ich hier in diesem Land nicht nur als Kind;
hineingeschrien in dieses Land wo alles lautlos funktioniert,
die Überwachung und Verwaltung, Todesschuß und Zugverkehr
und wo das Schreien aus Beton und aus Baracken nicht mehr stört,
und wo auch alles seinen Preis hat und der Preis steigt immer mehr.
Und wo die alten Herren neu in alter Phalanx aufgestellt,
mit neuen alten Herren laut nach alten neuen Märkten schrein,
von ihrem Großkotz Deutschland zwischen Maas und Memel, Etsch und Belt,
ist ihnen bloß der Rest geblieben, zwischen Elbe, Alpen, Rhein.

Dies Land ist unser Land —
So wie es ist, so wie es kommt, so wie es war.
Dies Land ist unser Land
und wie es kommt, so ist es nicht, wie es mal war.

Der ist in einem Tag durchfahren, dieser abgebhiebene Rest.
Ich fahre gern durch diese schwarz-rot-goldene zweite Republik.
Und abgebhieben ist ja nicht nur dieser Haufen alter Mist,
im Schwarz der Pfaffen, Gold der Händler, gibt‘s das rote Fahnenstück.
Und gibt die lauten bunten Plätze und den Wind vom Wattenmeer,
und diese Brücken über die man immer weiter fahren will
und tausend Tauben Sonntag morgens überm schlafenden Revier,
da ist Amerika noch weit, und manchmal ist es blond und still.
Und hier verstehe ich die Sprüche und den falschen Zungenschlag
und spür im Bauch den Arbeitsrhythmus, hör den Sound der darauf klingt.
Ja — und hier kenn ich die Gerüche zwischen Mitternacht und Tag
aus diesem Land sind meine Lieder, die der Rundfunk nicht mehr bringt.

Dies Land ist unser Land —
so wie es ist, so wie es kommt, so wie es war.
Dies Land ist unser Land,
und wie es kommt, so ist es nicht wie es mal war.

Noch spricht man Völkermörder frei und neue Nazis wachsen nach
und die Chemiekonzeme heizen weiter für ein nächstes Mal.
Und gibt Millionen ohne Arbeit, Millionäre gibt es noch,
noch sterben Flüsse, zieht der gelbe, grüne Qualm durchs Gonsbachtal.
Aber auch hier kämpfen Genossen, haben dabei sogar Spaß —
so ganz allein ist man ja nicht in dieser Welt und auch nicht hier,
obwohl der Spaltpilz stinkt und wuchert, aber der wächst ja auch bloß,
wo schon der Boden ziemlich brüchig ist und sauer manches Bier.
So wie es ist, ist es geworden, eben deshalb ändert‘s sich,
in diesem Land; ist schon viel reif trotz alledem ist es noch weit,
und muß verschiedenes passieren — paar Reformen tun es nicht —
wenn unsere Enkel singen sollen: Kein schöner Land in dieser Zeit.

Dies Land ist unser Land —
so wie es ist, so wie es kommt, so wie es war.
Dies Land ist unser Land,
und wie es kommt, so ist es nicht wie es mal war.

Ob er dies Land liebt, Rudi Schulte? Der verzieht nur sein Gesicht
so wie er macht, wenn einer labert und von übermorgen spinnt.
Zum Beispiel Jubeln oder Klatschen — so was macht er sicher nicht
wenn FC Bayern gegen Jena 1:0 beim Spiel gewinnt.
Nein — sehr viel Liebes hat dies Land ihm all die Jahre nicht verschafft
So 33 im KZ und daran starb er sogar fast
und 44 war er nochmal in Gestapo-Einzelhaft
und 55 saß er dann in Konrad Adenauer‘s Knast
und 66 die Verhöre, und der Unfall, Atemnot
und ohne Arbeit und die Schatten, wenn er nachts nicht schlafen kann,
und 77 haben seine Enkel ein Berufsverbot
doch 88 — lacht er leise — gilt das noch genauso, Mann:

Dies Land ist unser Land —
so wie es ist, so wie es kommt, so wie es war.
Dies Land ist unser Land,
und wie es kommt, so ist es nicht wie es mal war.

Montag, 16. Februar 2015

Earth: Metal mit angezogener Handbremse

Drone Doom – damit sind nicht die verheerenden Drohnenangriffe der US-Armee gemeint. Vielmehr beschreibt es ein musikalisches Genre, das für die Band Earth quasi erfunden wurde. In der Schorndorfer Manufaktur zeigten sie nun, dass sie die Grenzen dieses Genres aber längst gesprengt haben. 

Gleich zwei Vorgruppen aus dem Umfeld der Band aus Olympia, Washington, eröffneten den Auftritt von Earth. Zunächst ein bekanntes Gesicht: Don McGreevy, ehemaliger Bassist der Band, der sich bei diesem Projekt an der Gitarre versucht und zusammen mit Drummer Rogier Smal in Schorndorf eine wilde Jam hinlegte. Zwei zugegebenermaßen gute Musiker, doch vermittelte der Auftritt eher Proberaumatmosphäre, klang so, als hätte die Band noch kein Konzept – oder die Konzeptlosigkeit zum Klangprinzip erhoben. Auch möglich, dass sich irgendwelche Free-Jazz-Reste, für die bei Anthony Braxton die Woche zuvor kein Platz mehr war, hier noch versendeten. 

Ein turbulenter Abend: Von der Strukturlosigkeit zur Präzision

Kaum weniger wild dann auch der Auftritt der Black Spirituals. Faszinierend, wie Drummer Marshall Trammell sein Schlagzeug bearbeitet, malträtiert, den Beat heftig vorantreibt. Ob dieser Höchstleistung läuft ihm der Schweiß dann auch in Strömen über den Krausebart. Schade nur, dass Zachary James Watkins, die andere Hälfte der Band, als Gitarrist dem nichts Entsprechendes entgegenzusetzen weiß. Ziel- und strukturlos jagt dieser seine E-Gitarre durchs Effektgerät. Außer einem konstanten Dröhnen kommt dabei aber nicht sehr viel herum. Watkins hat den Sound der Band in einem Interview mal als „empathische Maschine“ bezeichnet. Etwa mehr Emphase und etwas weniger Maschine hätte den Black Spirituals vielleicht gutgetan.

Ganz anders schließlich Earth. Keine Spur von Strukturlosigkeit ist da mehr zu spüren. Hier scheint alles präzise durchkomponiert, an die richtige Stelle gesetzt und konzentriert auf den Punkt gebracht. Klare Strukturen und keine Improvisationen: Die Musik der drei US-Amerikaner ist angenehm frei von Schnörkeln. Das war nicht immer so. Auch die Wurzeln der Urväter des Drone Doom – einer Kombination aus tieftönendem Metal mit angezogener Handbremse und dröhnender Verzerrung der E-Gitarre – liegen im Experimentellen. Auf den frühen Platten der Band lässt sich das noch nachhören. Da schepperte und dröhnte es noch ziemlich archaisch. Und da bestand ein Album von 74 Minuten schon mal aus ganzen drei Liedern. Wirkliche Strukturen hatte die Band zu Beginn noch nicht gefunden.


Doch spätestens seit Mitte des letzten Jahrzehnts hat Earth den eigenen Sound mit einem engen Korsett festgezurrt, Ecken und Kanten abgeschleift, so dass von Doom und Drone nicht mehr allzu viel übrig blieb und aus dem düsteren Gewand vielmehr eine Art von Postrock-Metal entwich, den so wohl nur Earth spielen. Als „Black Americana“ bezeichnete Gitarrist Dylan Carlson diesen Sound mal in einem Interview.

Gesangslos wie bereits die beiden Vorbands schickt die Band das Publikum dann auch auf einen ziemlich straighten musikalischen Weg. Hypnotisch, ja fast meditativ bearbeitet Earth die Instrumente. Besonders beeindruckt dabei Schlagzeugerin Adrienne Davies und ihr sehr eigenwilliger Drum-Stil. Wie eine Dirigentin schwingt sie die Sticks in einer Mischung aus Theatralik und Konzentration in die Höhe, holt weit aus – um schließlich wie mit angezogener Handbremse ihrem Instrument präzise Schläge zu versetzen. Dabei wippt sie mit dem Oberkörper auch in jenen Momenten vor und zurück, in denen das Schlagzeug schweigt, in denen nur Bass und Gitarre ertönen.

Gitarrist Carlson, das einzig verbliebene Gründungsmitglied, spielt dazu sanft tönend, wirkt dabei aber auch ein wenig hölzern. Ab und an entweichen ihm auf der Bühne szenetypische Gesten, dann reckt er die Gitarre einem Kreuze gleich in die Höhe – oder formt zwischen zwei Songs mit Zeige- und kleinem Finger das Teufelssymbol. Was ziemlich routiniert wirkt bei dem 46-Jährigen, der nun bald 30 Jahre auf der Bühne steht, darüber ziemlich gealtert wirkt und als solides Fundament des Klangkonzepts Earth schlichtweg unverzichtbar ist. Er verkörpert das Gegenteil von Spektakel und vibrierender Unruhe, das die beiden Vorbands aus dem Umfeld der Gruppe so eindrucksvoll, wenn auch wenig überzeugend darboten.

Überraschenderweise steht Don Mc Greevy an diesem Abend übrigens gleich zweimal auf der Bühne. Er nimmt für einen Abend die Position von Bill Herzog ein, der als Bassist bei Earth im Einsatz ist. McGreevy spielt unspektakulär routiniert. Mit Basslinien, die zumeist fast parallel verlaufen zur Gitarre. Es ist ein schnörkellos auf den Punkt gebrachtes Bassspiel.

Doch hierin liegt auch die größte Schwachstelle im Konzept, das Earth seit gut einem Jahrzehnt fährt: Mit eiserner Konsequenz haben sie einen Sound entwickelt, der in seiner Stringenz durchaus beeindruckt. Leider genügt sich Earth aber damit und variiert in knapp zwei Stunden nie das Tempo, die Stimmung oder die Lautstärke – und verlässt nicht für eine Sekunde den eingeschlagenen Weg. Schade.
Sub Pop und Cobain 
Musikalisch groß geworden ist die Band im Umfeld des Grunge. Ihr erstes Label war Sub Pop in Seattle. Kurt Cobain gehört zu den frühen Wegbegleitern von Bandgründer Carlson. Sie waren beste Freunde. Carlson war es auch, der Cobain jene Waffe lieh, mit der er sich schließlich das Leben nahm – ohne von dessen selbstmörderischen Absichten gewusst zu haben.

Samstag, 31. Januar 2015

High Fidelity Teil 6: Konstrukte

Meine Bücher des Jahres 2014:


1. Tristram Hunt: Friedrich Engels
2. Fjodor Dostojewksi: Die Brüder Karamasow
3. Peter Sloterdijk: Philosophische Temperamente
4. Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent
5. Iwan Turgenjew: Visionen und andere fantastische Erzählungen
Belletristik:
Begonnen hat es mit den besten: mit sehr guten Erzählungen von Turgenjew und einer wirklich rauschhaften Lektüre der "Brüder Karamasow". Ein großes Buch, wenn er auch in ihrer Gesamtaussage ziemlich orthodox-reaktionär. Deshalb bleibt "Der Idiot" auch weiterhin mein Lieblingsbuch von ihm.

Dann folgten ein paar durchwachsene Bücher, angefangen bei Gwisdeks verschwurbeltem unsichtbaren Apfel, der mich unschlüssig zurückließ. Vor allem weil ich gegen Ende immer mehr den Eindruck hatte, dass Gwisdek das Buch auf die Schnelle ziemlich planlos überfrachtet hat, um es nach einer intellektuellen Großtat aussehen zu lassen und am Ende logischerweise nur einen halbgaren Ausweg fand. Anschließend H.P. Lovecraft, den ich als zu wissenschaftlich-trocken und überhaupt nicht furchteinflößend empfand. Vielleicht muss man in der Zeit gelebt haben, um das für eine "Horrorgeschichte" halten zu können.

D.B.C. Pierres Drogen-Berlin-Selbstmord-letztes-quasi-religiöses-Rauscherlebnis-erzwingen-Roman begann hingegen großartig. Weil er stellenweise an David Foster Wallace andockte, weil er überraschte, weil es komisch war und geistreich. Am Ende blieb dann aber doch ein leicht fahler Beigeschmack. Wäre mehr drin gewesen, unterhaltsam immerhin. Was die Belletristik anbelangt, kam dann mit "Bullshit nation" der Tiefpunkt, ein wirklich unnötiges Werk.

Besser war dann wieder "Plattform" von Houellebecq, wenn auch eher einer seiner schlechten Romane, dasselbe gilt für Nacht des Orakels für das Werk Paul Austers. Solides Handwerk, mehr nicht. Ödön von Horvaths "Ein Kind seiner Zeit" fand ich wiederum gut und wichtig, genauso wie "Jugend ohne Gott". 

Peter Handkes "Die Stunde der wahren Empfindung" war dann auch schon das letzte Nicht-Sachbuch des Jahres. Ich musste mich stellenweise durchkämpfen und muss es wohl ein zweites Mal lesen, weil es zwar kurz, aber dafür sehr dicht geschrieben war. Typisch Handke eben.

Sachbücher:
Ein Auf und Ab auch bei den Sachbüchern: "Neue Nazis" war durchaus brauchbar für ein kurzes Update über die aktuellen Szeneentwicklungen. Ungleich wichtiger dagegen "The Myth of the Muslim Tide", der aktuelle islamophobe Argumente mit seinen historischen Vorbildern (antikatholisch / antisemitisch) vergleicht und frappierend ähnliche Probleme und Argumente diagnostiziert. In "Arrival City" schlendert Sanders dann panoramaartig durch die Aufnahmestädte der Welt (von Kreuzberg bis Manila), beschreibt die weltweiten Migrationsströme vor allem als eine enorme Landflucht und kommt zu dem verblüffenden Schluss: Das, was ihr als Problemviertel bezeichnet, ist in Wirklichkeit das wichtigste Tor zum sozialen Aufstieg - und es funktioniert fast überall, nur nicht in Deutschland.

Dann "Die letzte Weltmacht": nüchtern-realistischer Blick auf die Weltlage nach dem Ende des Kalten Krieges von einem langjährigen Berater der Amis. Ist von Ende der 90er und prognostiziert ziemlich vieles ziemlich richtig, unter anderem die Rückkehr der Geopolitik - und dass es auf dem "eurasischen Schachbrett", in der Ukraine, knallen wird.

Gewöhnt süffisant-geistreich sind die kurzen Schlaglichter, die Sloterdijk auf ausgewählte "Philosophische Temperamente" wirft. Ein seltenes Zusammentreffen von Kurzweil und Intellekt. Lesenwert auch der nüchterne Blick auf die Roma von Mappes Niedek.

Wirklich groß dann die Engels-Biografie von Tristram Hunt. Man wäre zu gerne Zeitgenosse dieses Mannes gewesen, in dessen Haus jeden Abend bis spät in die Nacht gesoffen wurde, dabei geistreiche Gespräche stattfanden, der stundenlange Korrespondenzen mit Intellektuellen ganz Europas geführt hat, ungemein sprachgewandt war, zeitlebens Marx durchfütterte, seine Texte redigierte, ergänzte, mit Ideen füllte, und nebenbei auch noch ein Unternehmen führte. Kaufen!

Zwiespältig dann die Lektüre von "Nüchtern" (Daniel Schreiber). Zweifellos ein kluger Kopf, der da über seinen jahrzehntelangen Alkoholismus schreibt. Keine Predigt an die Nüchternheit, da schreibt jemand reflektiert und mit Demut. Aber man fühlt sich halt an vielen Stellen selbst ertappt...

Wolfgang Pohrts "Das allerletzte Gefecht" wiederum kann sich absolut sparen, wer nicht selbst einmal überzeugter Kommunist war. Eine bitterböse Abrechnung mit der radikalen Linken, die seltsamerweise im wahrsten Sinne des Wortes theatralisch endet. 

Schließlich "Der taumelnde Kontinent": Ein geistreiches Buch über die Jahre 1900 bis 1914, das den Versuch unternimmt jenseits von Herrschaftsgeschichte die Stimmung in Gesellschaft und Kultur wiederzugeben ohne den Blick auf die aus unserer Sicht unvermeidliche Katastrophe zu richten. Was zwar nicht gelingen kann, aber auch noch in seinem Scheitern lehrreich und lesenwert ist. 

Donnerstag, 1. Januar 2015

Vorsätze


(Woody Guthries zeitlos gültige Neujahrsvorsätze von 1942)