Mittwoch, 25. Oktober 2006

"Ich bin nicht der offizielle Kirchenjesus"














Jaja, der Kinski... Wer erinnert sich nicht gerne an diesen völlig wahnsinnigen, aber genialen Schauspieler, der hin und wieder zu unkontrollierten und völlig maßlosen Wutausbrüchen neigte? Einige schöne Beispiele finden sich in der Doku "Mein liebster Feind" von Werner Herzog, der zusammen mit Kinski einige seiner wichtigsten Filme (Aguirre, Nosferatu, etc.) unter teils grenzwertigen Bedingungen drehte und mit seinen Eigenarten sehr vertraut war. Dass die Doku gleichermaßen eine Selbstdarstellung Herzogs wie Kinskis darstellt - geschenkt. Dafür bekommt der Zuschauer gleich zu Beginn eine legendäre Szene Kinskis geliefert: 1971 absolvierte er seinen letzten Bühnenauftritt unter dem Motto "Jesus Christus Erlöser - Klaus Kinski spricht das Neue Testament", der heftigste Reaktionen hervorrief. Zwei Minuten dieses Irsinns schafften es in den Film und bieten den perfekten Einstieg in die Psyche dieses wahnsinnigen Genies...

Sonntag, 22. Oktober 2006

Mein Name ist Mensch


Passau ist an diesem faulen Sonntag mal wieder komplett vernebelt und ich beschäftige mich mal wieder mit allen möglichen Dingen, nur nicht mit dem, was ich sollte. So zum Beispiel mit den alten TON STEINE SCHERBEN, die nun schon vor gut zwanzig Jahren das Zeitliche segneten – Rios zehnter Todestag war übrigens im August auch zu betrauern, alles also schon etwas länger her. Dessen ungeachtet erschien dieses Jahr der dritte Teil der legendären Live-Serie auf dem guten alten hauseigenen David-Volksmund-Label (dem ersten und ältesten deutschen Independent-Label mit der berühmten Schleuder). Für mich war LIVE III selbstverständlich ein Pflichtkauf, da die beiden Livealben der Scherben mit ihrer Energie & Spielfreude deren fünf regulare Scheiben (die Scherben selbst waren mit der Qualität ihrer Studioalben nie wirklich zufrieden) qualitativ in den Schatten stellten – eine echte Liveband eben – und zu meiner meistgehörten Musik zählen. So begab es sich daher, dass ich aus Mangel an Plattenläden im örtlichen (sic!) DM meine erste Scherben-CD erstand. Dass diese in einem schicken Pappschuber fabriziert wurde und die CD astrein wie eine extrem kleine 7" aussieht (oben und unten schwarz, sogar mit Rillen) kam mir dabei natürlich entgegen und auch sonst wollte ich mich zunächst nicht beklagen: mit sechzehn Songs und 63 Minuten Laufzeit versprach das schicke Pappteil eine ordentliche Dosis TSS. Voller Enthusiasmus, vom Kaufrausch erfasst und vom letzten (und vielleicht besten) Rio-Album HIMMEL & HÖLLE im Kopfhörer gepusht schwang ich mich auf meinem Fahrrad Richtung CD-Player. Dass ich ihn noch enischaltete bevor ich dazu kam, meine Schuhe auszuziehen versteht sich natürlich von selbst. Doch dann… Enttäuschung? Ein wenig. Ernüchterung? Bestimmt. Ich weiß nicht woran es lag: an der modernen Mischung, daran dass es kein Vinyl ist, an der Song- und Instrumentenauswahl, aber irgendwie fehlte mir der right-in-your-face-sound, von dem vor allem LIVE IN BERLIN lebte und der hier einem sehr klaren, etwas höhenlastigen Klang wich. Das Album brauchte einige Zeit, auch da ich mich an die etwas seltsamen (aber letztlich doch guten) Interpretationen einiger Songs zu gewöhnen hatte.

Und jetzt? Nach drei Wochen hat LIVE III doch noch seinen verdienten Platz in meinem Regal gefunden, den es auch bei Gelegenheit verlässt. Unter den drei Livealben ist es, da aus drei Konzerten in drei verschiedenen Jahren zusammengesetzt, das seltsamste, das unzusammenhängendste, das abwechslungsreichste (mit Schwerpunkt auf den Songs der späten, mystischen Scherben, die sich allesamt stark von den Studioaufnahmen unterscheiden), aber vielleicht auch am wenigsten mitreißendste. Negativ aufgefallen ist mir insbesondere die Verwendung von Synthesizern, auf die bei den anderen beiden Livealben weitestgehend verzichtet wurde, was aber wohl in Anbetracht der Entstehungszeit im tiefen musikalischen Tal der Achtziger nicht weiter verwundern sollte, sondern in dem Kontext beinahe schon durch ihre Dezens glänzen. Besonders herauszuheben dagegen ist das wunderbare Der Turm stürzt ein, das den Turm wahrhaftig einstürzen lässt und die Originalversion auf der Schwarzen weit in den Schatten stellt: "Ruße in Beton und Stahl / müde alles Material /Hörst du das Flüstern im Land? / Jesus kommt trotz Pillenknick / Flöte hat mit Faust gekickt / Die Postbeamten tragen schwarz / ´ne Tonne Öl kost´ tausend Mark / Siehst du die Schrift an der Wand? / Der Turm stürzt ein / Hallelujah der Turm stürzt ein." Und so ist LIVE III letztlich auch ein stetiges Wechselbad von Schatten und Licht, bei dem doch letztlich die Gratwanderung gelingt. Der Traum ist also (doch) nicht aus...

Und nun, da der Nebel sich pünktlich um elf so langsam lichtet und die Sonne durch mein Fenster zu scheinen beginnt wende ich mich mal wieder den wichtigeren Dingen zu und ignoriere oder verdränge mal ganz einfach, dass so etwas wie eine „Ton Steine Scherben Family“, die sich tatsächlich als Nachfolgeband ausgibt, wirklich existieren soll, aber dazu ein andermal…

Die anderen beiden Livealben der Scherben:
1985 LIVE IN BERLIN





1996 LIVE II


Freitag, 20. Oktober 2006

Meister der Melancholie Teil 2














Ich erwähnte bereits, dass ich durch Elliott Smith auf Nick Drake kam. Zu Elliott wiederum kam ich (sic!) über eine Snippet-CD seines damaligen Albums Figure Eight in der INTRO, die ich zunächst nur ganz nett fand, weshalb ich mich nicht näher mit diesem Mann beschäftigte. Es zogen weitere drei Jahre ins Land, bevor ich (im Freien Radio für Stuttgart) auf Angeles stieß und schlichtweg fasziniert war. Ein solch eindringliches Stück Musik hatte ich lange nicht mehr gehört, und dieses kleine, leise, auf die Gitarre und seine Stimme reduzierte Lied sollte mich in den folgenden Jahren immer wieder begleiten. Der nächste Schritt führte mich in den Plattenladen und das zu Unrecht missachtete Figure Eight fand den Weg in meinen Gehörgang. Nach und nach erschloss sich so für mich das Universum eines sehr einsamen, depressiven und leider heroinabhängigen Songwriters. Denn wenige schaffen es wie er, Leichtigkeit und Tiefe so gut miteinander zu verbinden wie er, so dass er in manch einem seiner Songs schon mal wie ein melancholischer Brian Wilson klingt. Daneben gibt es aber auch immer die etwas schiefen, energischen und lauteren Songs, die seine Ursprünge in der ziemlich erfolglosen Grungeband Heatmiser erahnen lassen, aus der er sich Mitte der Neunziger löste, um der Welt sechs wunderbare Alben zu hinterlassen. Dabei sind seine Alben nie aufdringlich, eher unscheinbar (wie seine Person selbst) und brauchen deshalb ihre Zeit, um sich vollständig zu entfalten, wobei Figure Eight dabei vielleicht noch das eingängigste und direkteste darstellt. Elliott Smith starb 2004 unter nicht einwandfrei geklärten Umständen im Alter von nur 35 Jahren, innerlich und äußerlich durch seinen Drogenkonsum gezeichnet, ohne die Arbeit an seinem – schließlich erst posthum erschienen – Album From a basement on a hill vollenden zu können. R.I.P. Elliott!

Angeles

Someone's always coming around here trailing some new kill
Says I seen your picture on a hundred dollar bill
What's a game of chance to you, to him is one of real skill So glad to meet you
Angeles

Picking up the ticket shows there's money to be made
Go on and lose the gamble that's the history of the trade
Did you add up all the cards left to play to zero
Sign up with evil
Angeles

Don't start me trying now
Uh huh, uh huh, uh huh
Cause I'm all over it
Angeles

I could make you satisfied in everything you do
All your 'secret wishes' could right now be coming true
And be forever with my poison arms around you
No one's gonna fool around with us
No one's gonna fool around with us
So glad to meet you
Angeles

Diskografie


1994 Roman Candle


1996 Elliott Smith



1997 Either/Or



1998 XO


2000 Figure Eight




2004 From a basement on a hill

Mittwoch, 18. Oktober 2006

Prekarität ist überall

Als Beitrag zur aktuellen Debatte über die Prekarisierung der deutschen Gesellschaft, ange- stoßen durch den SPD- Vorsitzenden Kurt Beck und unterstützt durch die aktuelle Studie der Friedrich-Ebert- Stiftung, die eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft konstatiert und 4% der West- und 25% der Ostdeutschen zum sog. "abgehängten Prekariat" rechnet, hier ein Auschnitt aus einem Text des 2002 verstorbenen französischen Soziologen Pierre Bourdieu für alle, die etwas mehr Zeit für dieses spannende und wichtige Thema mitbringen:

„(…) Es ist deutlich geworden, dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist. Im privaten, aber auch im öffentlichen Sektor, wo sich die Zahl der befristeten Beschäftigungsverhältnisse und Teilzeitstellen vervielfacht hat; in den Industrieunternehmen, aber auch in den Einrichtungen der Produktion und Verbreitung von Kultur, dem Bildungswesen, dem Journalismus, den Medien usw. Beinahe überall hat sie identische Wirkungen gezeigt, die im Extremfall der Arbeitslosen besonders deutlich zutage treten: die Destrukturierung des unter anderem seiner zeitlichen Strukturen beraubten Daseins und der daraus resultierende Verfall jeglichen Verhältnisses zur Welt, zu Raum und Zeit. Prekarität hat bei dem, der sie erleidet, tief greifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt, verwehrt sie den Betroffenen gleichzeitig jede rationale Vorwegnahme der Zukunft und vor allem jenes Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft, das für eine vor allem kollektive Auflehnung gegen eine noch so unerträgliche Gegenwart notwendig ist.

Zu diesen Folgen der Prekarität für die direkt Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach Verschonten. Doch sie läßt sich niemals vergessen; sie ist zu jedem Zeitpunkt in allen Köpfen präsent (ausgenommen den Köpfen der liberalen Ökonomen, vielleicht deshalb, weil sie – wie einer ihrer theoretischen Gegner bemerkte – von dieser Art Protektionismus profitieren, den ihnen ihre tenure, ihre Beamtenstellung verschafft und die sie der Unsicherheit entreißt). Weder dem Bewußtsein noch dem Unterbewußten läßt sie jemals Ruhe. Die Existenz einer beträchtlichen Reservearmee, die man aufgrund der Überproduktion von Diplomen längst nicht mehr nur auf den Qualifikationsebenen findet, flößt jedem Arbeitnehmer das Gefühl ein, daß er keineswegs unersetzbar ist und seine Arbeit, seine Stelle gewisser Maßen ein Privileg darstellt, freilich ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg (daran erinnern ihn zumindest seine Arbeitgeber bei der geringsten Verfehlung und die Journalisten und Kommentatoren jeglicher Art beim nächsten Streik). Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche heutzutage mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind. Diese Art »kollektive Mentalität« (ich gebrauche diesen Begriff hier zum besseren Verständnis, obwohl ich ihn eigentlich nicht gern verwende), die der gesamten Epoche gemein ist, bildet die Ursache für die Demoralisierung und Demobilisierung, die man in den unterentwickelten Ländern beobachten kann (wozu ich in den 60er Jahren in Algerien die Gelegenheit hatte), die unter sehr hohen Arbeitslosen- und Unterbeschäftigungsraten leiden und permanent von der Angst vor Arbeitslosigkeit beherrscht werden.

Arbeitslose und Arbeitnehmer, die sich in einer prekären Lage befinden, lassen sich kaum mobilisieren, da sie die Fähigkeit, Zukunftsprojekte zu entwerfen, beeinträchtigt sind. Das ist jedoch die Voraussetzung für jegliches so genanntes rationales Verhalten, angefangen beim ökonomischen Kalkül oder, in einem völlig anderen Bereich, der politischen Organisation. Paradoxer Weise muß man – wie ich in meinem frühesten und vielleicht zugleich aktuellsten Buch über Arbeit und Arbeiter in Algerien gezeigt habe – wenigstens ein Minimum an Gestaltungsmacht über die Gegenwart haben, um ein revolutionäres Projekt entwerfen zu können, denn letzteres ist immer ein durchdachtes Bestreben, die Gegenwart unter Bezugnahme auf ein Zukunftsprojekt zu verändern. Im Unterschied zum Subproletariat verfügt der Proletarier über dieses Minimum an Gewißheit und Sicherheit, das die Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt die Idee in Betracht zu ziehen, die Gegenwart unter Bezug auf eine erhoffte Zukunft umzugestalten. Doch nebenbei bemerkt ist er eben auch jemand, der immerhin auch noch etwas zu verteidigen, etwas zu verlieren hat, nämlich seine auch noch so auszehrende und unterbezahlte Stelle, und viele seiner manchmal als allzu vorsichtig oder konservativ beschriebenen Verhaltensweisen rühren von der Furcht her, wieder ins Subproletariat zurückzufallen.

Wenn Arbeitslosigkeit heute in zahlreichen Ländern Europas so hohe Raten erreicht und Prekarisierung einen großen Teil der Bevölkerung, Arbeiter, Angestellte in Handel und Industrie, aber auch Journalisten, Lehrer und Studenten erfaßt, dann wird Arbeit zu einem raren Gut, das man sich um jeden Preis herbeisehnt und das die Arbeitnehmer auf Gedeih und Verderb den Arbeitgebern ausliefert, welche dann auch die ihnen auf diese Weise gegebene Macht, wie man Tag für Tag sehen kann, gebührlich gebrauchen bzw. mißbrauchen. Die Konkurrenz um die Arbeit geht einher mit einer Konkurrenz bei der Arbeit, die jedoch auch nur eine andere Form der Konkurrenz um die Arbeit ist, ein Arbeit, die man, mitunter um jeden Preis, gegen die Erpressung mit der angedrohten Entlassung bewahren muß. Aufgrund dieser Konkurrenz, die mitunter genauso rüde ist wie diejenige der Unternehmen untereinander, kommt es zu einem regelrechten Kampf aller gegen alle, der sämtliche Werte der Solidarität und Menschlichkeit zunichte macht, manchmal aber auch zu wortloser Gewalt. Diejenigen, die sich über den angeblichen Zynismus, den ihrer Meinung nach Männer und Frauen unserer Epoche an den Tag legen, beklagen, sollten zumindest auch den Zusammenhang mit den ökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen sehen, die einen solchen Zynismus begünstigen oder erforderlich machen, ja obendrein noch belohnen. Die Prekarität hat also nicht nur direkte Auswirkungen auf die von ihr Betroffenen (die dadurch außerstande geraten, sich zu mobilisieren), sondern über die von ihr ausgelöste Furcht auch indirekte Folgen für alle anderen – eine Furcht, die im Rahmen von Prekarisierungsstrategien systematisch ausgenutzt wird, wie etwa im Falle der Einführung der viel zitierten »Flexibilität«, von der wir ja wissen, daß sie ebenso politisch wie ökonomisch motiviert ist. Man wird den Verdacht nicht los, daß Prekarität gar nicht das Produkt einer mit der ebenfalls viel zitierten »Globalisierung« gleichgesetzten ökonomischen Fatalität ist, sondern vielmehr das Produkt eines politischen Willens.

Das »flexible« Unternehmen beutet gewissermaßen ganz bewußt eine von Unsicherheit geprägte Situation aus, die von ihm noch verschärft wird. Es sucht die Kosten zu senken, aber auch diese Kostensenkung möglich zu machen, indem es Arbeitnehmer der permanenten Drohung des Arbeitsplatzverlustes aussetzt. Die gesamte Welt der materiellen und kulturellen, öffentlichen wie privaten Produktion wird auf diese Weise in einen breiten Prekarisierungsstrom hineingezogen, was sich beispielsweise an der Entterritorialisierung bzw. Standortunabhängigkeit der Unternehmen zeigen läßt: Die Verbindung, die bisher zwischen ihm und einem Nationalstaat oder einem Ort (z.B. Detroit oder Turin für die Automobilindustrie) existierte, löst sich nun zunehmend mit dem Aufkommen so genannter »Netzwerk-Unternehmen« auf, die sich durch die Verknüpfung von Produktionssegmenten, technologischem Wissen, Kommunikationsnetzwerken, sowie durch geographisch weit verzweigte Ausbildungswege über einen ganzen Kontinent oder gar den gesamten Globus erstrecken können. Durch die Erleichterung oder gar Organisierung der Kapitalmobilität und durch die »Produktionsverlagerung« in Billiglohnländer, in denen die Arbeitskosten niedriger liegen, hat man die Ausweitung der Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern auf Weltmaßstab möglich gemacht. An die Stelle des an einen nationalen Kontext gebundenen oder gar verstaatlichten Unternehmens, dessen Konkurrenzgebiet sich mehr oder weniger genau mit dem Staatsgebiet deckte und das sich Märkte im Ausland erkämpfte, ist das multinationale Unternehmen getreten, das die Arbeitnehmer nicht mehr nur der Konkurrenz mit ihren Landsleuten oder gar, wie Demagogen glauben machen wollen, mit den auf dem eigenen Staatsgebiet niedergelassenen Ausländern aussetzt, die ja ganz offenkundig die ersten Opfer der Prekarisierung sind, sondern in Wirklichkeit mit den zur Annahme von Elendslöhnen gezwungenen Arbeitern am anderen Ende der Welt.

Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt und das Ziel hat, die Arbeitnehmer zur Unterwerfung, zur Hinnahme ihrer Ausbeutung zu zwingen. Zur Kennzeichnung dieser Herrschaftsform, die, obschon sie in ihren Auswirkungen stark dem wilden Kapitalismus aus den Frühzeiten der Industrialisierung ähnelt, absolut beispiellos ist, hat jemand das treffende und aussagekräftige Konzept der Flexploitation vorgeschlagen. Dieser Begriff veranschaulicht sehr treffend den zweckrationalen Gebrauch, der von Unsicherheit gemacht wird. Indem man, besonders über eine Konzertierte Manipulation der Produktionsräume, die Konkurrenz zwischen den Arbeitnehmern in den Ländern mit den bedeutendsten sozialen Errungenschaften und der bestorganisierten gewerkschaftlichen Widerstandskraft – lauter an ein Staatsgebiet und eine nationale Geschichte gebundene Errungenschaften – und den Arbeitnehmern in den, was soziale Standards anbelangt, am wenigsten entwickelten Ländern anheizt, gelingt es dieser Unsicherheit, unter dem Deckmantel vermeintlich naturgegebener Mechanismen, die sich schon dadurch selbst rechtfertigen, die Widerstände zu brechen und Gehorsam und Unterwerfung durchzusetzen.

Die von der Prekarität bewirkten Dispositionen der Unterwerfung bilden die Voraussetzung für eine immer erfolgreichere Ausbeutung, die auf einer Spaltung zwischen einerseits der immer größer werdenden Gruppe derer, die nicht arbeiten, und andererseits, die immer mehr arbeiten, fußt. Bei dem, was man ständig als ein von den unwandelbaren »Naturgesetzen« des Gesellschaftlichen regierten Wirtschaftssystemen hinstellt, scheint es sich meines Erachtens in Wirklichkeit vielmehr um eine politische Ordnung zu handeln, die nur mittels der aktiven oder passiven Komplizenschaft der im eigentlichen Sinne politischen Mächte errichtet werden kann. Gegen diese politische Ordnung kann ein politischer Kampf geführt werden. Und er kann sich, ähnlich wie karitative oder militant-karitative Bewegungen, zunächst zum Ziel setzen, die Opfer der Ausbeutung, all die gegenwärtigen oder potentiell Prekarisierten zu ermutigen, gemeinsam gegen die zerstörerischen Kräfte der Prekarität anzugehen (indem man ihnen hilft zu leben, »durchzuhalten«, einen aufrechten Gang und Würde zu bewahren, der Zersetzung und dem Verfall ihres Selbstbildes, der Entfremdung zu widerstehen). Darüber hinaus sollten sie vor allem auch ermutigt werden, sich auf internationaler Ebene, also auf derselben Ebene, auf der auch die Folgen der Prekarisierungspolitik wirksam werden, mit dem Ziel zu mobilisieren, diese Politik zu bekämpfen und die Konkurrenz zu neutralisieren, die sie zwischen den Arbeitnehmern erzeugen will.

Der politische Kampf kann aber auch versuchen, die Arbeitnehmer der Logik früherer Kämpfe mit ihrer Forderung nach Arbeit oder besseren Arbeitslöhnen zu entreißen, weil sich diese Logik einzig und allein auf die Arbeit versteift und dadurch sozusagen die Ausbeutung (oder Flexploitation) zuläßt. An deren Stelle könnte eine Umverteilung der Arbeit (z.B. über eine massive Verkürzung der wöchentlichen Arbeitszeit auf europäischer Ebene) treten, eine Umverteilung, die untrennbar mit einer Neudefinition des Verhältnisses zwischen der Zeit der Produktion und der Zeit der Reproduktion, der Erholung und der Freizeit verknüpft wäre. Eine solche Revolution müßte mit dem Verzicht auf die ausschließlich berechnende und individualistische Sichtweise beginnen, welche den handelnden Menschen auf ein kalkulierendes Wesen reduziert, das nur mit der Lösung von Problemen rein ökonomischer Art im engsten Sinn des Wortes befaßt ist. Damit das Wirtschaftssystem funktionieren kann, müssen die Arbeitnehmer ihre eigenen Produktions- und Reproduktionsbedingungen, aber auch die Bedingungen für das funktionieren des Wirtschaftssystems selbst einbringen, angefangen bei ihrem Glauben an das Unternehmen, an die Arbeit, an die Notwendigkeit der Arbeit usw. All diese Dinge klammern die orthodoxen Ökonomen a priori aus ihren abstrakten und verstümmelten Berechnungen aus und überlassen so die Verantwortung für die Produktion und Reproduktion all der verborgenen ökonomischen und sozialen Voraussetzungen für das Funktionieren der Wirtschaft, wie sie sie kennen, stillschweigend den Individuen oder paradoxer Weise dem Staat, dessen Zerstörung sie im übrigen predigen.“

Samstag, 7. Oktober 2006

Meister der Melancholie Teil 1










In der weiten Welt da draußen gibt und gab es einfach schon immer viel zu viele unglückliche, traurige und melancholische Menschen. An die meisten wird sich leider kaum jemand mehr erinnern, sollten sie einmal freiwillig oder unfreiwillig aus dieser Welt getreten sein. Manche aber hinterlassen etwas, eine Familie, Kinder, Freunde. Und einige wenige bleiben auch im kollektiven Gedächtnis – durch ihre Taten, ihre Ideen, ihre Worte, ihre Musik. Einem dieser Menschen namens Nick Drake, dem die seltene Gabe gegeben war, seine Melancholie in Kreativität verwandeln zu können und der zu Unrecht in Vergessenheit geriet, bin ich in den letzten Wochen durch seine Musik näher gekommen und er wurde mir so zu einem tröstlichen Begleiter. Dass es gerade seine wunderschöne, tröstliche Musik war, an der er letztlich zu Grunde ging – und viel zu früh an einer Überdosis Antidepressiva starb – ist nicht minder tragisch wie der Werdegang eines seiner größten Bewunderer, dem ebenfalls mehr als begnadeten Songwriter Elliott Smith, der ein ähnliches Schicksal nahm, viel zu früh verstarb und dessen Tod bis heute nicht ganz eindeutig geklärt ist. Über eben jenen Elliott Smith gelangte ich nun auch zu Nick Drake, dessen letztes, sparsam instrumentiertes und vielleicht schönstes Album Pink Moon es mir seitdem besonders angetan hat. Er starb 1974 mit gerade mal 26 Jahren und brachte es in dieser Zeit auf ganze drei Alben von solcher Wirkungsmächtigkeit und Schönheit, dass die meisten Musiker davon Zeit ihres Lebens lediglich träumen können. Der River Man aus dem ersten Album Five Leaves Left sei hier stellvertretend angeführt für ein musikalisches Vermächtnis, das hoffentlich noch lange ausstrahlen wird:


RIVER MAN
Betty came by on her way
Said she had a word to say
About things today
And fallen leaves.

Said she hadnt heard the news
Hadnt had the time to choose
A way to lose
But she believes.

Going to see the river man
Going to tell him all I can
About the plan
For lilac time.

If he tells me all he knows
About the way his river flows
And all night shows
In summertime.

Betty said she prayed today
For the sky to blow away
Or maybe stay
She wasnt sure.

For when she thought of summer rain
Calling for her mind again
She lost the pain
And stayed for more.

Going to see the river man
Going to tell him all I can
About the ban
On feeling free.

If he tells me all he knows
About the way his river flows
I dont suppose
Its meant for me.

Oh, how they come and go
Oh, how they come and go

Diskografie

1969 Five leaves left



1970 Bryter Later



1972 Pink Moon

Mittwoch, 4. Oktober 2006

Adams Äpfel














Ein verrückter, lakonischer Film über Hoffung, Verzweiflung und die Herausforderungen, die das Leben einem Menschen abverlangt. Kein Meisterwerk, beileibe nicht, aber eine Ode an das Leben, ein seltsames, tragikomisches dänisches Stück Filmgeschichte – eine „Komödie über Gutmenschen und Unverbesserliche“.

Die grobe Handlung: ein Neonazi kommt aus dem Knast und wird dazu verdonnert, drei Monate auf dem Land bei einem Pfarrer zu verbringen, um dort seine Reue unter Beweis zu stellen und trifft dort auf weitere gescheiterte Existenzen. Neben einem schießwütigen, verbitterten, aber nichtsdestotrotz urkomischen Saudi trifft er noch auf einen ehemaligen Tennisprofi und Triebtäter, der sich inzwischen dem Alkohol und der Völlerei verschrieben hat. Zusammen müssen sie nun ihr Leben meistern.

Die einzige Herausforderung: jeder hat sich einer selbst gewählten Aufgabe zu stellen, die er zu meistern hat. Der etwas verdutzte und zunächst völlig desinteressierte Adam wählt die Option, sich um den hofeigenen Apfelbaum zu kümmern, und von seinen, eben Adams Äpfeln, einen Apfelkuchen zu backen. Was dann passiert ist manchmal absurd, bisweilen traurig, meistens komisch, mitunter (im ursprünglichen Wortsinne) fantastisch, aber durchaus mit Tiefgang. Das fanatisch christliche Weltbild des Pfarrers Iwan, der alles Böse aus der Welt zu verbannen versucht, wie die nationalsozialistische Ideologie Adams, die nur das Böse zulässt, werden im Laufe des Films auf die Probe gestellt.

Diese kleine, nachdenkliche Geschichte des Regisseurs von „In China essen sie Hunde“ und „Dänische Delikatessen“ ist ihr Geld auf jeden Fall wert und die Fabel über Mangel (oder Übermut) an religiösem Glauben, menschlichen Schwächen und der Frage, wie viel Güte (oder Leiden) ein Mensch ertragen kann, dürfte meines Wissens im Moment auch noch in ausgewählten Qualitätskinos zu bestaunen sein...