Sonntag, 22. Oktober 2006

Mein Name ist Mensch


Passau ist an diesem faulen Sonntag mal wieder komplett vernebelt und ich beschäftige mich mal wieder mit allen möglichen Dingen, nur nicht mit dem, was ich sollte. So zum Beispiel mit den alten TON STEINE SCHERBEN, die nun schon vor gut zwanzig Jahren das Zeitliche segneten – Rios zehnter Todestag war übrigens im August auch zu betrauern, alles also schon etwas länger her. Dessen ungeachtet erschien dieses Jahr der dritte Teil der legendären Live-Serie auf dem guten alten hauseigenen David-Volksmund-Label (dem ersten und ältesten deutschen Independent-Label mit der berühmten Schleuder). Für mich war LIVE III selbstverständlich ein Pflichtkauf, da die beiden Livealben der Scherben mit ihrer Energie & Spielfreude deren fünf regulare Scheiben (die Scherben selbst waren mit der Qualität ihrer Studioalben nie wirklich zufrieden) qualitativ in den Schatten stellten – eine echte Liveband eben – und zu meiner meistgehörten Musik zählen. So begab es sich daher, dass ich aus Mangel an Plattenläden im örtlichen (sic!) DM meine erste Scherben-CD erstand. Dass diese in einem schicken Pappschuber fabriziert wurde und die CD astrein wie eine extrem kleine 7" aussieht (oben und unten schwarz, sogar mit Rillen) kam mir dabei natürlich entgegen und auch sonst wollte ich mich zunächst nicht beklagen: mit sechzehn Songs und 63 Minuten Laufzeit versprach das schicke Pappteil eine ordentliche Dosis TSS. Voller Enthusiasmus, vom Kaufrausch erfasst und vom letzten (und vielleicht besten) Rio-Album HIMMEL & HÖLLE im Kopfhörer gepusht schwang ich mich auf meinem Fahrrad Richtung CD-Player. Dass ich ihn noch enischaltete bevor ich dazu kam, meine Schuhe auszuziehen versteht sich natürlich von selbst. Doch dann… Enttäuschung? Ein wenig. Ernüchterung? Bestimmt. Ich weiß nicht woran es lag: an der modernen Mischung, daran dass es kein Vinyl ist, an der Song- und Instrumentenauswahl, aber irgendwie fehlte mir der right-in-your-face-sound, von dem vor allem LIVE IN BERLIN lebte und der hier einem sehr klaren, etwas höhenlastigen Klang wich. Das Album brauchte einige Zeit, auch da ich mich an die etwas seltsamen (aber letztlich doch guten) Interpretationen einiger Songs zu gewöhnen hatte.

Und jetzt? Nach drei Wochen hat LIVE III doch noch seinen verdienten Platz in meinem Regal gefunden, den es auch bei Gelegenheit verlässt. Unter den drei Livealben ist es, da aus drei Konzerten in drei verschiedenen Jahren zusammengesetzt, das seltsamste, das unzusammenhängendste, das abwechslungsreichste (mit Schwerpunkt auf den Songs der späten, mystischen Scherben, die sich allesamt stark von den Studioaufnahmen unterscheiden), aber vielleicht auch am wenigsten mitreißendste. Negativ aufgefallen ist mir insbesondere die Verwendung von Synthesizern, auf die bei den anderen beiden Livealben weitestgehend verzichtet wurde, was aber wohl in Anbetracht der Entstehungszeit im tiefen musikalischen Tal der Achtziger nicht weiter verwundern sollte, sondern in dem Kontext beinahe schon durch ihre Dezens glänzen. Besonders herauszuheben dagegen ist das wunderbare Der Turm stürzt ein, das den Turm wahrhaftig einstürzen lässt und die Originalversion auf der Schwarzen weit in den Schatten stellt: "Ruße in Beton und Stahl / müde alles Material /Hörst du das Flüstern im Land? / Jesus kommt trotz Pillenknick / Flöte hat mit Faust gekickt / Die Postbeamten tragen schwarz / ´ne Tonne Öl kost´ tausend Mark / Siehst du die Schrift an der Wand? / Der Turm stürzt ein / Hallelujah der Turm stürzt ein." Und so ist LIVE III letztlich auch ein stetiges Wechselbad von Schatten und Licht, bei dem doch letztlich die Gratwanderung gelingt. Der Traum ist also (doch) nicht aus...

Und nun, da der Nebel sich pünktlich um elf so langsam lichtet und die Sonne durch mein Fenster zu scheinen beginnt wende ich mich mal wieder den wichtigeren Dingen zu und ignoriere oder verdränge mal ganz einfach, dass so etwas wie eine „Ton Steine Scherben Family“, die sich tatsächlich als Nachfolgeband ausgibt, wirklich existieren soll, aber dazu ein andermal…

Die anderen beiden Livealben der Scherben:
1985 LIVE IN BERLIN





1996 LIVE II


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