Freitag, 19. April 2013

Augenrändercharme


Kaum ein Album habe ich im vergangenen Jahr öfter gehört als Augenrändercharme. Und dennoch fällt es mir immer noch schwer, darüber zu schreiben. Vielleicht, weil ich den Musiker kenne. Daher wird diese Besprechung zwangsweise etwas persönlich. Vielleicht aber auch, weil dieses Werk für mich nur schwer zu fassen ist. 

Das liegt mit Sicherheit an der Sprache von Christian Rottler, der auch schon mit mehreren Hörspielen glänzte. Nichts ist da klar, alles steckt voller Zitate, Anspielungen. Er stellt schier endlose Bezüge her - vor allem zu Literatur und Philosophie. Der Künstler ist ein sehr belesener Mensch. An manchen Stellen scheint er sich hinter diesen Bezügen verstecken zu wollen. Dann aber bringt er so ein Stück wie "Perfektion". Das ist keiner der Songs, die bei mir gleich angeschlagen haben. Überhaupt nicht. Aber irgendwann traf es mich. Da versucht einer, sich zu winden, ein Versprechen auf ein Morgen abzugeben, das wohl nie kommen wird. Verspricht "schlichte Perfektion".

Oder nehmen wir "Feuer", das es als Single anno 2006 in die Heavy Rotation von Motor-FM geschafft hat. Bilder steigen auf, aber am Ende bleibt vieles, wie so oft, unklar. Denn Christian Rottlers Texte sind meist eher assoziativ, denn erzählend. Sein musikalischer Stil hingegen ist spielerisch, regelrecht leicht, eigenwillig. Er lässt sich ebenso wenig in eine Schublade einordnen wie die Texte. Es sei denn, es würde Augenrändercharme draufstehen. 

Apropos Schubladen: Das erstaunlichste an dieser Platte ist, dass sie seit mittlerweile sieben Jahren in eben einer solchen liegt. Auf den Beachtungs-Erfolg der "Feuer"-EP, sowie die Split-EP "Das funktionierende Leben", die er mit Somos zusammen veröffentlichte, folgte einfach nichts. Wir haben es hier also mit einem Werk zu tun, das eine für den Künstler längst abgeschlossene Lebensphase abbildet. Vieles würde er heute wohl ein wenig anders machen. Die atemlose Dringlichkeit der Stücke etwa. Oder den Text von "Free Solo - Freihand". Das Gesamtwerk jedoch bleibt stimmig. Ob seine Abrechnung mit Proust (Proust ist mein Leben), sein Jörg Fauser-likes "Wasser hat ein Gedächtnis und schlägt mir gegen die Schädelwand", sein extrem assoziativer "Salon", in dem er Entspannungspolitik auf Taschendieb reimt. Oder die John Cage-Hommage 4:33. Christian Rottler hat seinen eigenen Stil.

Man darf dem Musiker daher nur wünschen, dass er über seinen Schatten springt und das Album endlich einmal veröffentlicht. Für die Schublade ist es einfach zu schade. Doch wie formuliert es Rottler in seinem Proust-Stück selbst so schön: "Verschwendung von Talent ist auch eine Entscheidung." Schade auch, dass es seine Band Galakomplex mittlerweile nicht mehr gibt. Seine Lieder sind in dieser Form wohl nur noch auf der Platte zu hören. Zeit, dass mehr Menschen etwas davon mitbekommen. 

Die Last der Freiheit


Es sind nur wenige Informationen, die aus Nordkorea nach außen dringen. Wenn wir etwas über das Land erfahren, dann meist nur, wenn die Führung dieses bitterarmen Staates wieder einmal militärisch provoziert. Dabei geht es stets um das politische Überleben dieses seltsamen Staates und seiner Führungs-Dynastie. George Friedman beschrieb diese Strategie in einer lesenswerten Analyse unlängst als ein Wechselspiel von "ferocious, weak and crazy". 

Doch über die Menschen und ihren Alltag ist nur wenig bekannt. Auch eine der dunkelsten Seiten dieses Landes, sein Lagersystem, ist bisher kaum beleuchtet. Dabei existieren die Arbeitslager, in denen noch heute Hunderttausende leben, arbeiten und sterben, bereits doppelt so lang wie Stalins Gulags und zwölf mal so lang wie Hitlers KZs. Nordkoreas Führung bestreitet ihre Existenz bis heute, obwohl sie mit Google Earth inzwischen für jeden sichtbar sind.

Einem Mann jedoch, Shin Dong-Hyuk, gelang die Flucht aus einem der berüchtigsten Lager, dem Camp 14. Seine Lebensgeschichte ist mittlerweile in einer Biographie beschrieben und verfilmt worden (hier der Trailer). "Escape from Camp 14" von Blane Harden sei hiermit jedem ans Herz gelegt, der verstehen will, wie dieses sehr fremde Land funktioniert und was es mit den Menschen macht, die unter dem Regime der Kims aufwachsen und leben.

Besonders bemerkenswert ist die Geschichte dieses Mannes, weil er einer jenen Menschen ist, die in diesen Lagern geboren wurden. Eine Welt außerhalb hat er bis zu seiner Flucht nie kennengelernt.  Liebe, Vertrauen, Freiheit hatte er nie erfahren. Stattdessen Zwangsarbeit, Hunger, Folter, Verrat und Mord. Seit seinem sechsten Lebensjahr musste er arbeiten - stets mit hungrigem Magen. Als 13-Jähriger musste er mit ansehen, wie Mutter und Bruder öffentlich exekutiert wurden, nachdem er deren Fluchtpläne verraten hatte. Nach den Regeln des Lagers war dies die einzig vernünftige Entscheidung. Shin Dong-Hyuk war sich sicher, die beiden hätten diese Strafe verdient. Er war nicht traurig. So etwas wie Trauer kannte er nicht. Er war wütend.

In dem gut 200 Seiten starken Buch wird aber nicht nur die so berührende wie bedrückende Vita des jungen Mannes erzählt. Der Leser erfährt auch einiges über den sonst kaum beleuchteten Alltag der Nordkoreaner, für die der Hunger ein ständiger Begleiter ist. Als Shin Dong-Hyuk von der Freiheit zu träumen beginnt, stellt er sich diese in Form von gegrilltem Fleisch vor. Etwas, das er im Lager nur zu essen bekam, wenn er heimlich Ratten jagte und dabei harte Strafen riskierte. Das Essen ist ein wichtiges Thema für den jungen Mann, dessen Leben im Lager vor allem in einem permanenten Konkurrenzkampf um die knappen, kargen Mahlzeiten bestand. Er kann sich an keinen Moment seines Lagerlebens erinnern, an dem er sich satt fühlte. 

Doch nicht nur für die Menschen in den Lagern ist der Hunger Teil des Alltags. Mehr als eine Million Nordkoreaner sind in den 90er Jahren verhungert, als die Wirtschaft des Landes nach dem Untergang der Sowjetunion zusammenbrach. Und das bei einer Bevölkerung von rund 23 Millionen. Noch immer ist das Volk unterernährt, aber dank internationaler Lebensmittellieferungen (von denen nur ein Teil wirklich beim Volk ankommt) stirbt heute kaum jemand mehr daran. 

Der Leser erfährt auch einiges über den Wandel, den die große Hungersnot im Land mit sich gebracht hat. Mehr Menschen sind inzwischen informiert über den Rest der Welt. Das Schauen südkoreanischer Serien und das Hören freier Radiosender ist zwar strengstens verboten, aber mittlerweile durchaus verbreitet. Es gibt im Ansatz so etwas wie freie Märkte. Diebstahl und Korruption nehmen zu. Ohne die von der Militär erzeugte Angst würde das Regime wohl kaum mehr die Kontrolle behalten. Männer müssen zehn, Frauen sieben Jahre dienen. Mit den Reservisten beträgt die Größe der Armee fünf Millionen.

Doch das Land ist noch stabil. Auch dank der von Friedman beschriebenen Strategie: Das Regime gibt sich zugleich ferocious (grimmig), weak (schwach) und crazy (verrückt). Zwischen diesen Polen schwankt die Politik des Landes nach außen. Es wirkt zu schwach, um eine wirkliche Bedrohung zu sein, erscheint dem Zusammenbruch stets nah, gibt sich aber grimmig und gefährlich, so dass es dennoch ernst genommen wird. Und die Führung erweckt einen unberechenbaren, verrückten Eindruck, scheint zu allen Opfern bereit. Eine letztlich sehr erfolgreiche Strategie. 

Auch das von Kim Il Sung etabliere neofeudalistische Kastensystem trägt zur Stabilität bei. Drei Großkasten mit 51 Unterkasten gibt es in Nordkorea. Die Herrscherkaste befindet sich in und um Pjöngjang und genießt (zumindest nach nordkoreanischen Standards) außerordentliche Privilegien. Nur ihnen ist es vorbehalten Regierungs- oder Parteiarbeiten zu übernehmen. Sie besteht im Wesentlichen aus den Familien, die gemeinsam mit Kim Il Sung gegen die Japaner gekämpft haben. Die mittlere, neutrale Kaste führt ein bescheidenes Leben in begrenzter Freiheit. Der Teil der Bevölkerung, der zur untersten, feindlichen Kaste gezählt wird, darbt - oft seit Generationen in den Arbeitslagen. 1957 legte der ewige Staatschef des Landes diese Unterteilung fest. Am schlimmsten erging es dabei jenen, deren Familienangehörige in den Süden flohen oder für die japanischen Besatzer tätig waren. Über drei Generationen, so seine Ansicht, vererbe sich diese Blutschuld. Auch Shin Dong-Hyuks Familie hat solch eine Schuld auf sich geladen. 

Inzwischen lebt der Nordkoreaner in Freiheit. Zumindest äußerlich. Denn das Leben und die Regeln des Lagers stecken immer noch in ihm, halten ihn weiterhin gefangen. Der Verrat an seiner Familie ist ihm erst jetzt bewusst geworden und quält. So viel Stärke der junge Mann, der in seinem kurzen Leben unfassbare Grausamkeiten erlebte, auch bewiesen hat - auf ein Leben in Freiheit hat ihn niemand vorbereitet. Die Regeln des Lagers, die über Leben und Tod entschieden, sind plötzlich nutzlos. Nach acht Jahren in Freiheit sehnt sich Shin Dong-Hyuk zurück nach Nordkorea. Er möchte wieder leben - in einem Arbeitslager.

Donnerstag, 4. April 2013

Manchmal auch bei Nacht, Marie


Deutschsprachige Musik mit anständigen Texten ist leider immer noch eine Seltenheit. Zu sehr steckt unsere Sprache voller Fallstricke und Tücken für all jene, die sie laut zu singen wagen. Songwriter Tristan Vox weiß mit unserer Sprache umzugehen und verwendet sie auf seinem Debütalbum in einem zugleich episch wie lakonisch anmutendem Sinne. Musikalisch betritt er dabei nicht unbedingt Neuland. Während seine Stimme bisweilen an Tom Liwa, den großen Emo-Esoteriker unter den deutschen Songwritern, erinnert, lässt er an manchen Stellen den melancholisch-verträumten Charme von Element of Crime anklingen.

Doch seine Musik (die er komplett selbst eingespielt hat) weist über diese Bezüge hinaus, ertönt mal sanft, mal widerspenstig, stets dringlich. Tristan sinniert zwar mit Vorliebe melancholisch-schwelgerisch über das Zwischenmenschliche, doch dies mit solch kunstvoller Eleganz, dass die üblichen Vergleiche schon recht bald überflüssig werden. Der Kontext, in dem er sich popkulturell bewegt, funktioniert bei der Auseinandersetzung mit diesem erstaunlichen Werk letztlich nur als Fallnetz beim Erstkontakt. Je tiefer der Hörer in die zehn Stücke eintaucht, desto weniger nützen diese Referenzen. 

„Manchmal auch zur Nacht, Marie“ macht es dem Hörer daher gewiss nicht einfach. Hinter den oft unscheinbar wirkenden Worten verbirgt sich eine in deutscher Sprache selten zu vernehmende Tiefe. Trotz aller lyrischen Distanz haben wir es hier eben keinesfalls mit einem ironischen Beobachter zu tun. Ob der Tod des eigenen Vaters (Abendmahl) oder die fragile Konstruiertheit des Sozialen (Wirklich) – stets findet Tristan Vox treffende Worte, die sich schon bald ins Gedächtnis des Hörers einbrennen. Am stärksten wirken die mehrfach codierten Zwischentöne. So endet das Album konsequenterweise programmatisch. Und auf die von einer Spielfigur bewusst schief gespielte Internationale folgt das melancholische „Marie / Vielleicht“. Letztlich bleibt die Welt fragil, die Gewissheiten, das worauf wir bauen, flüchtig. Ein Feuer bricht aus, vielleicht.

Manchmal auch bei Nacht, Marie erscheint im Mai bei Voodokind

Dienstag, 2. April 2013

Das Eisenbahngleichnis

Wir sitzen alle im gleichen Zug
und reisen quer durch die Zeit.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir fahren alle im gleichen Zug.
Und keiner weiß, wie weit.

Ein Nachbar schläft, ein andrer klagt,
ein dritter redet viel.
Stationen werden angesagt.
Der Zug, der durch die Jahre jagt,
kommt niemals an sein Ziel.

Wir packen aus. Wir packen ein.
Wir finden keinen Sinn.
Wo werden wir wohl morgen sein?
Der Schaffner schaut zur Tür herein
und lächelt vor sich hin.

Auch er weiß nicht, wohin er will.
Er schweigt und geht hinaus.
Da heult die Zugsirene schrill!
Der Zug fährt langsam und hält still.
Die Toten steigen aus.

Ein Kind steigt aus. Die Mutter schreit.
Die Toten stehen stumm
am Bahnsteig der Vergangenheit.
Der Zug fährt weiter, er jagt durch die Zeit,
und niemand weiß, warum.

Die I. Klasse ist fast leer.
Ein feister Herr sitzt stolz
im roten Plüsch und atmet schwer.
Er ist allein und spürt das sehr.
Die Mehrheit sitzt auf Holz.

Wir reisen alle im gleichen Zug
zur Gegenwart in spe.
Wir sehen hinaus. Wir sahen genug.
Wir sitzen alle im gleichen Zug
und viele im falschen Coupé.

(Erich Kästner, 1931)

Impressionen No. XXX