Freitag, 19. April 2013

Die Last der Freiheit


Es sind nur wenige Informationen, die aus Nordkorea nach außen dringen. Wenn wir etwas über das Land erfahren, dann meist nur, wenn die Führung dieses bitterarmen Staates wieder einmal militärisch provoziert. Dabei geht es stets um das politische Überleben dieses seltsamen Staates und seiner Führungs-Dynastie. George Friedman beschrieb diese Strategie in einer lesenswerten Analyse unlängst als ein Wechselspiel von "ferocious, weak and crazy". 

Doch über die Menschen und ihren Alltag ist nur wenig bekannt. Auch eine der dunkelsten Seiten dieses Landes, sein Lagersystem, ist bisher kaum beleuchtet. Dabei existieren die Arbeitslager, in denen noch heute Hunderttausende leben, arbeiten und sterben, bereits doppelt so lang wie Stalins Gulags und zwölf mal so lang wie Hitlers KZs. Nordkoreas Führung bestreitet ihre Existenz bis heute, obwohl sie mit Google Earth inzwischen für jeden sichtbar sind.

Einem Mann jedoch, Shin Dong-Hyuk, gelang die Flucht aus einem der berüchtigsten Lager, dem Camp 14. Seine Lebensgeschichte ist mittlerweile in einer Biographie beschrieben und verfilmt worden (hier der Trailer). "Escape from Camp 14" von Blane Harden sei hiermit jedem ans Herz gelegt, der verstehen will, wie dieses sehr fremde Land funktioniert und was es mit den Menschen macht, die unter dem Regime der Kims aufwachsen und leben.

Besonders bemerkenswert ist die Geschichte dieses Mannes, weil er einer jenen Menschen ist, die in diesen Lagern geboren wurden. Eine Welt außerhalb hat er bis zu seiner Flucht nie kennengelernt.  Liebe, Vertrauen, Freiheit hatte er nie erfahren. Stattdessen Zwangsarbeit, Hunger, Folter, Verrat und Mord. Seit seinem sechsten Lebensjahr musste er arbeiten - stets mit hungrigem Magen. Als 13-Jähriger musste er mit ansehen, wie Mutter und Bruder öffentlich exekutiert wurden, nachdem er deren Fluchtpläne verraten hatte. Nach den Regeln des Lagers war dies die einzig vernünftige Entscheidung. Shin Dong-Hyuk war sich sicher, die beiden hätten diese Strafe verdient. Er war nicht traurig. So etwas wie Trauer kannte er nicht. Er war wütend.

In dem gut 200 Seiten starken Buch wird aber nicht nur die so berührende wie bedrückende Vita des jungen Mannes erzählt. Der Leser erfährt auch einiges über den sonst kaum beleuchteten Alltag der Nordkoreaner, für die der Hunger ein ständiger Begleiter ist. Als Shin Dong-Hyuk von der Freiheit zu träumen beginnt, stellt er sich diese in Form von gegrilltem Fleisch vor. Etwas, das er im Lager nur zu essen bekam, wenn er heimlich Ratten jagte und dabei harte Strafen riskierte. Das Essen ist ein wichtiges Thema für den jungen Mann, dessen Leben im Lager vor allem in einem permanenten Konkurrenzkampf um die knappen, kargen Mahlzeiten bestand. Er kann sich an keinen Moment seines Lagerlebens erinnern, an dem er sich satt fühlte. 

Doch nicht nur für die Menschen in den Lagern ist der Hunger Teil des Alltags. Mehr als eine Million Nordkoreaner sind in den 90er Jahren verhungert, als die Wirtschaft des Landes nach dem Untergang der Sowjetunion zusammenbrach. Und das bei einer Bevölkerung von rund 23 Millionen. Noch immer ist das Volk unterernährt, aber dank internationaler Lebensmittellieferungen (von denen nur ein Teil wirklich beim Volk ankommt) stirbt heute kaum jemand mehr daran. 

Der Leser erfährt auch einiges über den Wandel, den die große Hungersnot im Land mit sich gebracht hat. Mehr Menschen sind inzwischen informiert über den Rest der Welt. Das Schauen südkoreanischer Serien und das Hören freier Radiosender ist zwar strengstens verboten, aber mittlerweile durchaus verbreitet. Es gibt im Ansatz so etwas wie freie Märkte. Diebstahl und Korruption nehmen zu. Ohne die von der Militär erzeugte Angst würde das Regime wohl kaum mehr die Kontrolle behalten. Männer müssen zehn, Frauen sieben Jahre dienen. Mit den Reservisten beträgt die Größe der Armee fünf Millionen.

Doch das Land ist noch stabil. Auch dank der von Friedman beschriebenen Strategie: Das Regime gibt sich zugleich ferocious (grimmig), weak (schwach) und crazy (verrückt). Zwischen diesen Polen schwankt die Politik des Landes nach außen. Es wirkt zu schwach, um eine wirkliche Bedrohung zu sein, erscheint dem Zusammenbruch stets nah, gibt sich aber grimmig und gefährlich, so dass es dennoch ernst genommen wird. Und die Führung erweckt einen unberechenbaren, verrückten Eindruck, scheint zu allen Opfern bereit. Eine letztlich sehr erfolgreiche Strategie. 

Auch das von Kim Il Sung etabliere neofeudalistische Kastensystem trägt zur Stabilität bei. Drei Großkasten mit 51 Unterkasten gibt es in Nordkorea. Die Herrscherkaste befindet sich in und um Pjöngjang und genießt (zumindest nach nordkoreanischen Standards) außerordentliche Privilegien. Nur ihnen ist es vorbehalten Regierungs- oder Parteiarbeiten zu übernehmen. Sie besteht im Wesentlichen aus den Familien, die gemeinsam mit Kim Il Sung gegen die Japaner gekämpft haben. Die mittlere, neutrale Kaste führt ein bescheidenes Leben in begrenzter Freiheit. Der Teil der Bevölkerung, der zur untersten, feindlichen Kaste gezählt wird, darbt - oft seit Generationen in den Arbeitslagen. 1957 legte der ewige Staatschef des Landes diese Unterteilung fest. Am schlimmsten erging es dabei jenen, deren Familienangehörige in den Süden flohen oder für die japanischen Besatzer tätig waren. Über drei Generationen, so seine Ansicht, vererbe sich diese Blutschuld. Auch Shin Dong-Hyuks Familie hat solch eine Schuld auf sich geladen. 

Inzwischen lebt der Nordkoreaner in Freiheit. Zumindest äußerlich. Denn das Leben und die Regeln des Lagers stecken immer noch in ihm, halten ihn weiterhin gefangen. Der Verrat an seiner Familie ist ihm erst jetzt bewusst geworden und quält. So viel Stärke der junge Mann, der in seinem kurzen Leben unfassbare Grausamkeiten erlebte, auch bewiesen hat - auf ein Leben in Freiheit hat ihn niemand vorbereitet. Die Regeln des Lagers, die über Leben und Tod entschieden, sind plötzlich nutzlos. Nach acht Jahren in Freiheit sehnt sich Shin Dong-Hyuk zurück nach Nordkorea. Er möchte wieder leben - in einem Arbeitslager.

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