Dienstag, 28. August 2012

Mixtape No. 6: An den Rändern


1. Christian Rottler - Feuer (2006)
2. Tim Kasher - Bad, bad dreams (2010)
3. Soléy - Pretty face (2012)
4. Wilco - On and on and on (2007)
5. Gravenhurst - Cities beneath the sea (2005)
6. The XX - Crystalized (2009)
7. Destroyer - Kaputt (2011)
8. Cursive - We're going to hell (2009)
9. Vincent Gallo - Yes, I'm lonely (2001)
10. Songs: Ohia - Captain Badass (1999)

...und hier das Mixtape als Youtube-Playlist.


Montag, 20. August 2012

Das Fanal von Rostock


Es war ein Fanal in der jungen Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands. Ein Rostocker Hochhaus stand im August 1992 unter tagelanger Belagerung des rassistischen Mobs - auch weil die Sicherheitskräfte zu zurückhaltend agierten. Nur mit Glück konnten Tode verhindert werden.

1992, Deutschland ist gerade wiedervereinigt, der Eiserne Vorhang gefallen. Auf dem Balkan nimmt derweil der Jugoslawienkrieg seinen Lauf. Und Deutschland erlebt einen nie gekannten Ansturm an Asylbewerbern. Insgesamt sollten bis Ende des Jahres rund 440 000 Anträge gestellt werden. Etwa zwei Drittel aller Anträge der Europäischen Union fallen zu diesem Zeitpunkt auf Deutschland. Gut vier Prozent davon werden bewilligt. Der Zustrom erhitzt die Gemüter der Deutschen und lässt die Asyldebatte hochkochen. Die Republikaner sitzen seit 1989 im Europaparlament und haben im April des Jahres mit 10,9 Prozent den Einzug in den baden-württembergischen Landtag geschafft. Aber auch Unionspolitiker wie der Bremer Spitzenkandidat Ulrich Nölle machten Wahlkampf unter dem Schlagwort "Asylmissbrauch".

Zu diesem Zeitpunkt war Antonia Amadeo Kiowa - das erste Opfer rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung - bereits fast zwei Jahre tot. Der Mosambikaner kam als Vertragsarbeiter im Jahre 1987 in die DDR und wurde in einer Dezembernacht von Neonazis brutal ermordet, ohne dass anwesende Polizisten einschritten. Bereits im September 1991 tobte auch ein Mob im sächsischen Hoyerswerda, der sich gegen ein Heim von Vertragsarbeitern und Flüchtlingen richtete. Nachdem dieses über eine Woche lang immer wieder belagert und angegriffen wurde, kamen die Flüchtlinge schließlich unter Polizeischutz aus dem Ort. Im Deutschland der frühen 1990er Jahre herrschte eine feindselige Stimmung gegenüber Fremden.

Unhaltbare Zustände im Aufnahmelager

So auch in Rostock-Lichtenhagen, wo sich ein großes zentrales Aufnahmelager für Flüchtlinge befand. Aufgrund der starken Zuströme, vor allem aus dem Osten Europas, war dieses im Sommer 1992 heillos überlastet. Für hunderte Asylbewerber, darunter viele Sinti und Roma, fand sich nicht einmal mehr ein Platz in der Unterkunft. Sie campierten - bar jeglicher sanitären Versorgung - vor dem Hochhaus. Anwohner Lichtenhagens beschwerten sich über die Zustände vor dem "Sonnenblumenhaus" genannten Plattenbau. Bereits im Juli 1991 warnte Oberbürgermeister Klaus Kilimann: „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen“.

Doch es geschah... nichts. Neonazis nutzten die aufgeladene Stimmung und verteilten Flugblätter mit Aufrufen zur Gewalt. Am frühen Abend des 22. August versammelten sich schließlich rund 2 000 Menschen vor dem Zentralen Aufnahmelager und skandierten ausländerfeindliche Parolen. Eintreffende Polizisten wurden verprügelt. Der Mob hatte zeitweise die Kontrolle über Lichtenhagen erlangt. Was dann in den darauffolgenden Stunden und Tagen passierte, ist ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte. Denn erst in der Nacht des 25. August sollte es der Polizei gelingen, die Kontrolle über den Stadtteil zurückzuerlangen.

Rassistische Volksfeststimmung vor dem Sonnenblumenhaus

In der Zwischenzeit herrschte auf dem Platz vor dem Sonnenblumenhaus eine Art Volksfeststimmung. Neonaziführer aus dem Westen wie Christian Worch gesellten sich unter die Menge und heizten die Stimmung an. Zuschauer applaudierten und gröhlten rassistische Parolen. Am Abend des 23. August stürmten dann hunderte von Jugendlichen das Haus. Wieder gelang es den Polizeibeamten nur schwer, die Meute zu kontrollieren. Am 24. August wurde das Aufnahmelager geräumt. Die Situation schien sich zu beruhigen. Gegen 21 Uhr zogen sich die Polizisten fatalerweise zurück. Denn der Mob gab sich keineswegs damit zufrieden. Nun verlagerte sich das Geschehen auf das daneben liegende Wohnheim, in dem sich über 100 Vietnamesen befanden. Molotow-Cocktails wurden geworfen, das Haus gestürmt. Ein Reporter-Team von "Kennzeichen D" war zu diesem Zeitpunkt mit den Vietnamesen im Haus, weshalb Flucht und Todesangst filmisch gut dokumentiert sind (bei Youtube leider nur mit italienischen Untertiteln).

Nur knapp konnten die Vietnamesen in dieser Nacht dem Flammentod entgehen. Stundenlang hindern Randalierer die Feuerwehr an Löscharbeiten, von der Polizei ist lange nichts zu sehen. Im letzten Moment retten sich die eingeschlossenen Vietnamesen über das Dach des Nachbarhauses, Kurz vor Mitternacht gelang den Sicherheitskräften schließlich die Evakuierung der gut hundert Menschen aus dem brennenden Gebäude. Unter dem Beifall einer johlenden, "Deutschland den Deutschen" gröhlenden Menge wurden sie schließlich mit Bussen abtransportiert. Am letzten Tag der Ausschreitungen, dem 25. August, waren schließlich keine Fremden mehr da. Die Gewalt richtete sich nun direkt gegen die Staatsgewalt, die drei Tage lang nicht nur zu schlecht ausgestattet war, sondern auch zu zögerlich und nicht weitsichtig genug agierte. Dann war der Spuk vorbei. Der Staat hatte versagt, der Mob sein Ziel erreicht. Aber Rostock-Lichtenhagen bildete nur den Auftakt. Noch im selben Jahr kam es zum Mordanschlag von Mölln, kurz darauf zum Brandanschlag von Solingen.

Lehren aus den Ausschreitungen?

Das politische Ergebnis dieser rassistischen Pogrome war der Asylkompromiss Ende 1992. War Deutschland bis dahin eines der eher liberaleren Länder für Asylsuchende, wurde es nun zu einem der europaweit restriktivsten. Die Aussicht auf Anerkennung eines Asylantrags tendiert seitdem gegen Null. Die Zahl der Asylanträge ging in den nächsten Jahren stetig zurück. Ebenso die Erfolge der Republikaner. Der erste Jugoslawienkrieg ging 1995 zu Ende. Das Thema Asyl verschwand mehr und mehr aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Eine nennenswerte juristische Aufarbeitung der Brandnacht hat aber nie stattgefunden. Zwar wurden 370 Personen festgenommen, doch die meisten Verfahren schnell eingestellt. Lediglich vier Brandstifter kamen ins Gefängnis, drei von ihnen erst zehn Jahre nach dem Pogrom. Zehn Jahre später und wenige Tage vor dem Lichtenhagener Friedensfest verübten Jugendliche einen Brandanschlag auf einen asiatischen Imbiss, einen asiatischen Supermarkt, sowie ein Büro der Arbeiterwohlfahrt im Sonnenblumenhaus.

2012. Unlängst wurde die rassistische Mordserie des NSU aufgedeckt. Zwanzig Jahre später sitzt die NPD nun mit zwei Sitzen in der Rostocker Bürgerschaft und fünf Sitzen im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Einer von ihnen ist Michael Andrejewski, Initiator des hetzerischen Lichtenhagen-Flublatts im Sommer 1992. Und die NPD kommt immer wieder gerne zurück nach Lichtenhagen, um dort Wahlkampf zu machen gegen die Rostocker "Ausländer- und Überfremdungslobby". Oder erst kürzlich gegen den "Lichtenhagen-Schuldkult". Im Sonnenblumenhaus haben sich längst wieder Vietnamesen niedergelassen. Über die Geschehnisse im Sommer 1992 reden die Bewohner allerdings nur ungern. Zu tief sitzt das Trauma. Anfang August war Bundespräsident Gauck zu Besuch in Rostock. Er sprach davon, dass wir den Rechtsextremen "nicht unsere Angst schenken sollten". Doch die Angst, diese urdeutsche Angst, sie ist noch da.

Freitag, 17. August 2012

Zehn Jahre Hartz IV


Es war die größte Sozialstaatsreform der deutschen Geschichte - und eine der heißumstrittensten. "Hartz IV" wurde zum geflügelten Wort für Armut, Unterschicht und Ungleichheit. Die umstrittene Reform feiert nun ihren zehnten Geburtstag. Ein Grund, zu feiern? 

Am Ende der ersten Amtszeit von Gerhard Schröder war Deutschland in keiner guten Verfassung: Die deutsche Wirtschaft befand sich in einer Rezession, die Arbeitslosenzahlen waren so hoch wie nie. Und obendrein war man gerade dabei, als erstes europäisches Land die Maastricht-Kriterien zu brechen. Die Bundesrepublik galt als "kranker Mann Europas". Dabei war Schröder mit dem Versprechen angetreten, die Arbeitslosenzahlen deutlich zu senken. Daran wollte er seine Kanzlerschaft messen lassen. Oder zurücktreten. Wären das Elbhochwasser und das Nein zum Irakkrieg nicht gewesen, hätte Schröder wohl schon nach vier Jahren den Hut nehmen müssen.

Der Kanzler, Mann der Tat, berief daher eine Kommission ein, die Vorschläge für Wege aus dieser Krise liefern sollte. Zehn Jahre ist es nun her, dass diese Kommission um VW-Vorstand Peter Hartz Bundeskanzler Gerhard Schröder ihr Reformkonzept präsentierte. Als Schuldige waren dort schnell der angeblich verkrustete Sozialstaat und der unflexible Arbeitsmarkt ausgemacht. Ohne harte Strukturreformen, so das Fazit, ließe sich Deutschland nicht aus der Krise herausmanövrieren. Kernstück sollte die Aktivierung der Arbeitslosen werden: "Fordern und Fördern" war die Losung.

2005 wurde Hartz IV schließlich umgesetzt. Arbeitslosen- und Sozialhilfe wurden zusammengelegt und durch das Arbeitslosengeld II ersetzt. Wer dieses künftig beziehen wollte, musste seine Bedürftigkeit erst nachweisen und seine Vermögens-, Wohn- und Familienverhältnisse offen legen. Die als arbeitsfähig eingestuften (was laut Gesetz all jene sind, die drei Stunden pro Tag arbeiten können), mussten fortan beweisen, dass sie sich auch um eine Stelle bemühen. Als akzeptabel galt nun nahezu jede Arbeit. Wer sich etwas angespart hatte oder zu viel besaß, verfügte über keine Ansprüche mehr. Außerdem wurden Ein-Euro-Jobs eingeführt, mit denen Langzeitarbeitslose wieder ans Berufsleben herangeführt werden sollten. 

Nur Teil eines umfassenderen Reformkonzepts

Dass Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammengelegt wurden, war nur ein Teil eines umfassenderen Reformkonzepts. Die zentralen Ziele: Arbeitslosigkeit sollte bekämpft und die Arbeitsmärkte entlastet werden. Die Hartz-Reformen setzten dafür an drei Punkten an: Erstens wurden die Lohnnebenkosten gesenkt und Minijobs eingeführt, um die Arbeitskosten zu verringern. Zweitens sollte die unternehmerische Flexibilität gestärkt werden. Befristete Arbeitsverhältnisse wurden gefördert, der Kündigungsschutz gelockert, Leiharbeit vereinfacht und Existenzgründungen (etwa in Form von Ich-AGs) erleichtert. Und schließlich sollte drittens die Arbeitslosenvermittlung verbessert werden durch verschärfte Zumutbarkeitsregeln und eine Reform der Arbeitsämter.

Die Schröder'schen Reformen erschütterten die ganze Republik. Montagsdemos gegen Hartz IV überzogen monatelang das Land. Die Linke entstand als politische Kraft, und Oskar Lafontaine feierte ein triumphales Comeback als Anti-Schröder. Die Sozialdemokratie selbst verlor unzählige Mitglieder und die Kanzlerschaft. Und auch die Arbeitswelt wurde kräftig durcheinander geschüttelt. Ironie der Geschichte: Im Jahr der Hartz-Reformen sollte die Arbeitslosigkeit erst einmal auf ein Allzeithoch von über fünf Millionen steigen.

Ungleichheit als Preis der Reformen

Der Preis der Reformen war schließlich ein rasanter Anstieg der sozialen Ungleichheit in Deutschland. Bis Ende der 1990er Jahre hatte Deutschland bei der Einkommensverteilung einen Gini-Koeffizienten von 0,25. Nach den Hartz-Reformen betrug er 0,29. Auch die Vermögensverteilung im Lande ging zunehmend auseinander. Allein von 2002 bis 2007 stieg der Vermögens-Gini-Index um drei Prozent auf 0,799. Beides ist nicht alleine den Hartz-Reformen zuzurechnen. Doch die rot-grünen Reformen trugen ihren guten Teil dazu bei. Denn heute verfügt Deutschland über Europas größten Niedriglohnsektor. Jeder vierte Beschäftigte wird dazu gezählt.

Hartz IV hat den Sozialstaat zudem pädagogisiert. Die strukturellen wirtschaftlichen Defizite wurden einfach zu individuellen Defiziten umdefiniert. Von nun an gab es den "würdigen" Arbeitslosen, der Ansprüche geltend machen kann und gefördert wird. Und es gab den "unwürdigen", der als Belastung empfunden wird, den es zu erziehen gilt - und sei es mit Leistungsentzug. Die charakterschwachen Menschen sind nach dieser Logik das Problem. Nicht die Strukturen. Auch wenn in den darauffolgenden Jahren am Hartz-IV-System immer wieder herumgedoktort wurde, an diesem Grundsatz hat sich wenig geändert.

Fazit

Nach zehn Jahren ergibt sich so ein widersprüchliches Bild. Die Wirtschaft hat sich von ihrem Tief wieder erholt. Und seit den Kontinent infolge der Finanzkrise eine Krise nach der anderen erschüttert, werden die Arbeitsmarktreformen immer wieder gerühmt. Ohne diese, so heißt es, würde Deutschland heute nicht so gut dastehen. Für die deutsche Wirtschaft waren die Reformen ein Segen. Doch wie steht es um die gesellschaftliche Wirkung? Ist dieses Land etwa solidarischer geworden? Ängstlicher jedenfalls ist es. Die sozialen Konflikte haben sich verschärft. Denn die Mittelschicht fürchtet den Abstieg. Und das öffentliche Bild der Arbeitslosen ist schlechter denn je. Zehn Jahre Hartz IV - das ist nicht unbedingt ein Grund, zu feiern.

Samstag, 11. August 2012

Irrlichternde Groove-Geister


2011 hätte das Jahr der Tune-Yards werden müssen. Denn Whokill, das zweite Album der Band, begeisterte die Fachpresse. Doch die Kritikerlieblinge wurden keine Publikumslieblinge. Tune-Yards sind auch im August 2012 bei ihrem Auftritt in Schorndorf noch ein Geheimtipp.

Woran das liegen könnte, zeigt schon der wundersame Beginn des Konzerts. Sängerin Merill Garbus betritt alleine die Bühne. Sie beginnt damit, ihr Mikrofon mit Soundschnipseln zu befüttern. Ab und an schrammelt sie dazu auf ihrer E-Ukulele. Vor ihr steht der Rumpf eines Schlagzeugs, das sie dezent, aber effektiv einsetzt. Doch die Grundstruktur entwirft sie mit ihrem Gesang, der, mit einem Effektgerät wiederholt, einen Beat ergibt. Die ersten zehn Minuten nutzt sie fast ausschließlich ihre beeindruckende Stimme, in der ein schwarzafrikanischer Geist mitschwingt und das wohl markanteste Merkmal des Soundentwurfs der Tune-Yards darstellt.

Merill Garbus, die 2009 einst das erste Album „Bird-Brains“ im Alleingang mit LoFi-Methoden einspielte und als Pay-as-you-want-Download ins Netz stellte, polarisiert mit ihrem Organ, das über eine enorme Bühnenpräsenz verfügt. Als Sängerin, so wird Garbus zitiert, sei es dabei ihr Ziel, „nicht hübsch“ zu klingen, womit sie sich implizit den gängigen Rollenerwartungen an weibliche Musikerinnen verweigert. Ihre Stimme benutzt sie vielmehr wie ein eigenes Instrument, springt ständig über Oktaven auf- und abwärts und begleitet sich selbst auf zwei bis drei Spuren. Als Tochter zweier Folk-Musiker verbrachte sie ein Jahr in Kenia. Und das scheint Spuren hinterlassen zu haben, auch inhaltlich. Der Arbeitstitel ihres Debüts hieß „White Guilt“ und auch Whokill beschäftigt sich mit Themen wie Nationalismus, Feminismus und den Aufständen und Unruhen, die unsere Zeit so prägen.

All das tritt an diesem Abend aber in den Hintergrund. Und als nach zwei langen Solostücken, in denen der LoFi-Geist der frühen Tune-Yards noch spürbar ist, die restlichen Bandmitglieder auf die Bühne kommen, wird jeglicher Subtext ohnehin irrelevant. Ihre Begleitmusiker – Nate Brenner am Bass sowie Matt Nelson und Noah Bernstein am Saxofon – entfachen vielmehr ein mitreißendes Groove-Feuer.

Doch auch mit Begleitmusikern bleibt das Grundprinzip gleich: Schicht um Schicht schält sich der Tune-Yards-Sound heraus. Der fehlende Schlagzeuger wird durch den klugen und rhythmussicheren Einsatz des Effektgeräts gut kompensiert. Was folgt, ist eine recht frei arrangierte Mischung aus Afrobeat, Indie, einer guten Portion Jazz und Elektro à la M.I.A. mit den Stücken von Whokill als solider Basis. Aus dem ursprünglich fünfminütigen „Bizness“ wird da schon mal ein fast 20-minütiger ausufernder Jam, immer zusammengehalten von ihrer markanten, leicht exaltierten Stimme, die gängigen Hörgewohnheiten und -erwartungen widerspricht.

Rhythmus und Gesang werden zu den bestimmenden Elementen des – am Ende doch recht kurzen – Abends. Da wird schon mal das Publikum als Rhythmusmaschine benutzt, greifen die Saxofonisten zu Altmetall und hämmern zuckend, aber kontrolliert auf etwas, das aussieht wie ein demolierter Topfdeckel oder eine riesige geöffnete Sardinendose. Und auch der Bassist darf sein Instrument für einen Moment ablegen und Töne mit unterschiedlich gefüllten Gläsern erzeugen. Die US-amerikanischen Tune-Yards sind keine affektierte Kunststudenten-Band. Sie sind Punks im Geiste. Denn ihr Soundentwurf ist (gerade live) radikal, originell – doch für den großen Erfolg letztlich zu kompromisslos.

Samstag, 4. August 2012

Ein feines Gespür für Dynamiken


Die Schorndorfer Manufaktur entwickelt sich zu einem Mekka für Sonic-Youth-Fans. Nach Lee Ranaldo im Juli gab sich nun am Donnerstag Thurston Moore die Ehre und sorgte für einen Abend voller Überraschungen.

Überraschend gleich der Beginn: Auf der Bühne stehen zwölf Musiker. Etwas gelangweilt und in seltsamen Gewändern bieten sie eine Unmenge an Instrumenten auf: von einer Sitar über einen Riesengong bis zu diversen elektronischen Instrumenten.

Ein Free-Jazz-Mahlstrom ergießt sich über die Manufaktur. Das Stuttgarter Kollektiv kommt ohne feste Bandstrukturen und widmet sich der Zersetzung jeglicher Struktur. Politisch wie musikalisch sollen damit Grenzen gesprengt werden. Das ist nicht für alle Ohren leicht goutierbar, weshalb sich ein großer Teil des Publikums die Zeit im Hof vertreibt. Der strukturlose Free Jazz erinnert ein wenig an Alice Coltrane und die wundersame Klangwelt von Sun Ra. Pausen gibt es keine, alles zerfließt. Und irgendwann löst sich die Musik einfach im Nichts auf.

Auftritt Thurston Moore – entspannt und cool, mit der abgehangenen Aura eines alternden Rockstars. Erst einmal gibt’s Lob für Metabolismus, die in den USA ungleich erfolgreicher sind als in ihrer Heimat. Eine Ehre sei es für ihn, auf derselben Bühne stehen zu dürfen. Der Respekt klingt ehrlich, nicht nach Höflichkeitslob. Ebenso die Manu, die er ohne ironische Distanz als „harten Free-Jazz-Schuppen“ bezeichnet.

Moore beginnt sein Set akustisch mit einem Song aus seinem neuen Album „Demolished Thoughts“, das sehr folkig ausgefallen ist. Einen Bass gibt es nicht, dafür zwei Konzertgitarren, eine Geige und Drums. Die Band spielt solide, routiniert, aber nicht mitreißend. Nach der abgedrehten Vorband wirkt Moores Songwritermaterial nicht gerade aufregend. „Demolished Thoughts“ ist ein typisches Solo-Alterswerk: naturgemäß nicht gerade die spannendste Sorte von Alben. Doch schon beim zweiten Song durchbricht der Sonic-Youth-Sänger das enge Korsett seines neusten Albums und setzt zu einer Noise-Attacke mit seiner Akustikgitarre an.

Und es kommt noch besser: Das New Yorker Noise-Urgestein besinnt sich auf seine Stärken und greift zur E-Gitarre. Im Mittelteil des Sets wird es dann laut. Eine gute Entscheidung. Der gepflegte Lärm entfaltet eine überzeugende Laut-Leise-Dynamik und bleibt – anders als vor einem Monat bei Bandkollege Lee Ranaldo – kein öder Selbstzweck.

Doch die größte Überraschung des Abends: Angekündigt war zwar Thurston Moore – ohne Vorband wohlgemerkt. Präsentiert hat sich dann aber Chelsea Light Moving. So heißt die neue Band von Moore mit Keith Wood an der Gitarre, Samara Lubelski an Geige und Bass sowie John Moloney an den Drums. Ein Album gibt es zwar noch nicht, aber im Netz kursieren bereits eine Reihe von Songs. Und die überzeugen! Den Namen seiner Band erwähnt er an dem Abend übrigens kein einziges Mal.

Ein Weißweinglas als Plektron

Der sichtlich gut gelaunte Thurston Moore legt einen souveränen Auftritt hin. Er reagiert cool, als ein Gast in der ersten Reihe anfängt, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Während das Publikum seinen Unmut darüber äußert, meint er nur lapidar: „No problem. I like that.“ Und während ihm eine Flasche Riesling auf die Bühne gebracht wird, bietet er sie scherzeshalber auch dem Publikum an. Sein Weißweinglas nutzt er dann auch mal praktischerweise als Plektron. Gegen Ende wird es noch mal akustisch. Nach dem noisigen Mittelteil ist das nicht nur eine Verschnaufpause fürs Trommelfell. Die Songs aus „Demolished Thoughts“ vermögen nun auch beinahe zu überzeugen.

Noch eine kurze Anmerkung zur ungewissen Zukunft von Sonic Youth: Moore hatte sich unlängst nach 27-jähriger Ehe von seiner Bandkollegin Kim Gordon getrennt. Seitdem rätselt die Musikwelt, wie es mit Sonic Youth weitergeht.

Doch das Ende der Beziehung bedeutet nicht zwangsläufig das Ende musikalischer Zusammenarbeit: Die beiden werden im September ein gemeinsames Mini-Album mit Yoko Ono veröffentlichen. Der geneigte Hörer darf also weiter auf eine Fortsetzung hoffen.