Montag, 20. August 2012

Das Fanal von Rostock


Es war ein Fanal in der jungen Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands. Ein Rostocker Hochhaus stand im August 1992 unter tagelanger Belagerung des rassistischen Mobs - auch weil die Sicherheitskräfte zu zurückhaltend agierten. Nur mit Glück konnten Tode verhindert werden.

1992, Deutschland ist gerade wiedervereinigt, der Eiserne Vorhang gefallen. Auf dem Balkan nimmt derweil der Jugoslawienkrieg seinen Lauf. Und Deutschland erlebt einen nie gekannten Ansturm an Asylbewerbern. Insgesamt sollten bis Ende des Jahres rund 440 000 Anträge gestellt werden. Etwa zwei Drittel aller Anträge der Europäischen Union fallen zu diesem Zeitpunkt auf Deutschland. Gut vier Prozent davon werden bewilligt. Der Zustrom erhitzt die Gemüter der Deutschen und lässt die Asyldebatte hochkochen. Die Republikaner sitzen seit 1989 im Europaparlament und haben im April des Jahres mit 10,9 Prozent den Einzug in den baden-württembergischen Landtag geschafft. Aber auch Unionspolitiker wie der Bremer Spitzenkandidat Ulrich Nölle machten Wahlkampf unter dem Schlagwort "Asylmissbrauch".

Zu diesem Zeitpunkt war Antonia Amadeo Kiowa - das erste Opfer rechtsextremer Gewalt nach der Wiedervereinigung - bereits fast zwei Jahre tot. Der Mosambikaner kam als Vertragsarbeiter im Jahre 1987 in die DDR und wurde in einer Dezembernacht von Neonazis brutal ermordet, ohne dass anwesende Polizisten einschritten. Bereits im September 1991 tobte auch ein Mob im sächsischen Hoyerswerda, der sich gegen ein Heim von Vertragsarbeitern und Flüchtlingen richtete. Nachdem dieses über eine Woche lang immer wieder belagert und angegriffen wurde, kamen die Flüchtlinge schließlich unter Polizeischutz aus dem Ort. Im Deutschland der frühen 1990er Jahre herrschte eine feindselige Stimmung gegenüber Fremden.

Unhaltbare Zustände im Aufnahmelager

So auch in Rostock-Lichtenhagen, wo sich ein großes zentrales Aufnahmelager für Flüchtlinge befand. Aufgrund der starken Zuströme, vor allem aus dem Osten Europas, war dieses im Sommer 1992 heillos überlastet. Für hunderte Asylbewerber, darunter viele Sinti und Roma, fand sich nicht einmal mehr ein Platz in der Unterkunft. Sie campierten - bar jeglicher sanitären Versorgung - vor dem Hochhaus. Anwohner Lichtenhagens beschwerten sich über die Zustände vor dem "Sonnenblumenhaus" genannten Plattenbau. Bereits im Juli 1991 warnte Oberbürgermeister Klaus Kilimann: „Schwerste Übergriffe bis hin zu Tötungen sind nicht mehr auszuschließen“.

Doch es geschah... nichts. Neonazis nutzten die aufgeladene Stimmung und verteilten Flugblätter mit Aufrufen zur Gewalt. Am frühen Abend des 22. August versammelten sich schließlich rund 2 000 Menschen vor dem Zentralen Aufnahmelager und skandierten ausländerfeindliche Parolen. Eintreffende Polizisten wurden verprügelt. Der Mob hatte zeitweise die Kontrolle über Lichtenhagen erlangt. Was dann in den darauffolgenden Stunden und Tagen passierte, ist ein trauriges Kapitel deutscher Geschichte. Denn erst in der Nacht des 25. August sollte es der Polizei gelingen, die Kontrolle über den Stadtteil zurückzuerlangen.

Rassistische Volksfeststimmung vor dem Sonnenblumenhaus

In der Zwischenzeit herrschte auf dem Platz vor dem Sonnenblumenhaus eine Art Volksfeststimmung. Neonaziführer aus dem Westen wie Christian Worch gesellten sich unter die Menge und heizten die Stimmung an. Zuschauer applaudierten und gröhlten rassistische Parolen. Am Abend des 23. August stürmten dann hunderte von Jugendlichen das Haus. Wieder gelang es den Polizeibeamten nur schwer, die Meute zu kontrollieren. Am 24. August wurde das Aufnahmelager geräumt. Die Situation schien sich zu beruhigen. Gegen 21 Uhr zogen sich die Polizisten fatalerweise zurück. Denn der Mob gab sich keineswegs damit zufrieden. Nun verlagerte sich das Geschehen auf das daneben liegende Wohnheim, in dem sich über 100 Vietnamesen befanden. Molotow-Cocktails wurden geworfen, das Haus gestürmt. Ein Reporter-Team von "Kennzeichen D" war zu diesem Zeitpunkt mit den Vietnamesen im Haus, weshalb Flucht und Todesangst filmisch gut dokumentiert sind (bei Youtube leider nur mit italienischen Untertiteln).

Nur knapp konnten die Vietnamesen in dieser Nacht dem Flammentod entgehen. Stundenlang hindern Randalierer die Feuerwehr an Löscharbeiten, von der Polizei ist lange nichts zu sehen. Im letzten Moment retten sich die eingeschlossenen Vietnamesen über das Dach des Nachbarhauses, Kurz vor Mitternacht gelang den Sicherheitskräften schließlich die Evakuierung der gut hundert Menschen aus dem brennenden Gebäude. Unter dem Beifall einer johlenden, "Deutschland den Deutschen" gröhlenden Menge wurden sie schließlich mit Bussen abtransportiert. Am letzten Tag der Ausschreitungen, dem 25. August, waren schließlich keine Fremden mehr da. Die Gewalt richtete sich nun direkt gegen die Staatsgewalt, die drei Tage lang nicht nur zu schlecht ausgestattet war, sondern auch zu zögerlich und nicht weitsichtig genug agierte. Dann war der Spuk vorbei. Der Staat hatte versagt, der Mob sein Ziel erreicht. Aber Rostock-Lichtenhagen bildete nur den Auftakt. Noch im selben Jahr kam es zum Mordanschlag von Mölln, kurz darauf zum Brandanschlag von Solingen.

Lehren aus den Ausschreitungen?

Das politische Ergebnis dieser rassistischen Pogrome war der Asylkompromiss Ende 1992. War Deutschland bis dahin eines der eher liberaleren Länder für Asylsuchende, wurde es nun zu einem der europaweit restriktivsten. Die Aussicht auf Anerkennung eines Asylantrags tendiert seitdem gegen Null. Die Zahl der Asylanträge ging in den nächsten Jahren stetig zurück. Ebenso die Erfolge der Republikaner. Der erste Jugoslawienkrieg ging 1995 zu Ende. Das Thema Asyl verschwand mehr und mehr aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Eine nennenswerte juristische Aufarbeitung der Brandnacht hat aber nie stattgefunden. Zwar wurden 370 Personen festgenommen, doch die meisten Verfahren schnell eingestellt. Lediglich vier Brandstifter kamen ins Gefängnis, drei von ihnen erst zehn Jahre nach dem Pogrom. Zehn Jahre später und wenige Tage vor dem Lichtenhagener Friedensfest verübten Jugendliche einen Brandanschlag auf einen asiatischen Imbiss, einen asiatischen Supermarkt, sowie ein Büro der Arbeiterwohlfahrt im Sonnenblumenhaus.

2012. Unlängst wurde die rassistische Mordserie des NSU aufgedeckt. Zwanzig Jahre später sitzt die NPD nun mit zwei Sitzen in der Rostocker Bürgerschaft und fünf Sitzen im Landtag von Mecklenburg-Vorpommern. Einer von ihnen ist Michael Andrejewski, Initiator des hetzerischen Lichtenhagen-Flublatts im Sommer 1992. Und die NPD kommt immer wieder gerne zurück nach Lichtenhagen, um dort Wahlkampf zu machen gegen die Rostocker "Ausländer- und Überfremdungslobby". Oder erst kürzlich gegen den "Lichtenhagen-Schuldkult". Im Sonnenblumenhaus haben sich längst wieder Vietnamesen niedergelassen. Über die Geschehnisse im Sommer 1992 reden die Bewohner allerdings nur ungern. Zu tief sitzt das Trauma. Anfang August war Bundespräsident Gauck zu Besuch in Rostock. Er sprach davon, dass wir den Rechtsextremen "nicht unsere Angst schenken sollten". Doch die Angst, diese urdeutsche Angst, sie ist noch da.

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