Montag, 15. Oktober 2018

Impressionen No. LV: Kunstsinn


Pax Profanum. 

Duo Kaos.

Django Mobil.
 
 
Les Ateliers Denino et La Cie de l'Echelle.

Kunst. Sinn. Festival.




Trotzki, Goethe und das Glück

Kaum war ich von der Spritze runter,
tappte ich in die nächste Falle:
die Revolution.

Die Revolution hieß Louise,
hatte unglaublich schmale Hüften,
blitzende Augen, flatterndes schwarzes
Haar, kaum aus Paris
und war Trotzkistin.

Wir wohnten zusammen in einem
der besetzten Häuser, hielten uns
glänzend in Schuß, hielten es sogar
für Liebe, und ich palaverte,
wenn Palaver gefragt war,
schwenkte Fahnen, wenn Fahnen
gefragt waren, und frühstückte
entgegen allen Lehren
des Großen Vorsitzenden
mit einer Flasche Wermut
und einem netten dekadenten Gefühl
im Bett.

Das ist das Glück, dachte ich.

Das ist das Glück, sagte ich zu Louise.
Warum lassen wir die Revolution nicht sausen,
das sinnlose Palaver und die Fahnen
und die endlosen Auseinandersetzungen
um die Maschinenfabrik in Shanghai,
suchen uns irgendeinen stillen Winkel
wo ich in Ruhe mein Bier trinken und
zwischendurch mal'n Gedicht schreiben kann,
et du reste l'amour?

Und Trotzki? schrie Louise,
und die Genossen im Knast?
Dein bourgeoises Bier, pah! Bier
und Gedichte, während die Revolution
organisiert wird!

Von da an ging alles schief. Als ich
im Suff mal mit einer anderen ankam,
ging Louise mit dem Messer
auf mich los. Dann mischte sie
bei einer Frauengruppe mit und ich
mußte nehmen, was kam:
meistens nur Bier und manchmal irgendeine
neurotische Studentin, und später selbst das
nicht mehr, und dann
schmissen sie mich raus,
und ich zog woandershin.

Das alles ist etliche Jahre her, aber neulich
traf ich ein Mädchen, das noch in den Kreisen
verkehrt, und fragte sie nach Louise.

Louise, sagte das Mädchen -
die ist wieder in Paris.
Sitzt sie im Zentralkomitee? fragte ich.
I wo, sagte das Mädchen, die hat irgendson
Goetheforscher geheiratet.

An dem Abend trank ich alles durcheinander,
trank wie lebensmüde, aber als ich gestern
an dem Haus vorbeikam - es sieht
inzwischen ziemlich verkommen aus,
absolut déjà vu -
dachte ich, na ja,
vielleicht hast du doch Glück gehabt.

(Jörg Fauser, 1975)