Donnerstag, 14. Juni 2007

Eins und Alles











Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
Da löst sich aller Überdruß;
Statt heißem Wünschen, wildem Wollen,
Statt lästgem Fordern, strengem Sollen,
Sich aufzugeben ist Genuß.

Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
Teilnehmend führen gute Geister,
Gelinde leitend höchste Meister
Zu dem, der alles schafft und schuf.

Und umzuschaffen das Geschaffne,
Damit sich's nicht zum Starren waffne,
Wirkt ewiges, lebendiges Tun.
Und was nicht war, nun will es werden
Zu reinen Sonnen, farbigen Erden;
In keinem Falle darf es ruhn.

Es soll sich regen, schaffend handeln,
Erst sich gestalten, dann verwandeln;
Nur scheinbar steht's Momente still.
Das Ewige regt sich fort in allen:
Denn alles muß in Nichts zerfallen,
Wenn es im Sein beharren will.

(Johann Wolfgang Goethe)

Anmerkungen:

* Überdruß: an individuellem Dasein, von dessen Begrenzheit die folgenden Verse sprechen
** Weltseele/Weltgeist: Der Kampf zwischen Wollen und Sollen von Strophe 1 wird hier in das Innere der Gottnatur selbst verlegt

***farbigen Erden: im Gegensatz zur lichten Sonne ist das Irdische farbig, d.h. nach Goethes Farbenlehre aus Licht und Dunkelheit gemischt

****alles muss in Nichts zerfallen: was am Sein teilhaben will, muss sich der ständigen Umgestaltung unterwerfen und insofern stets neu "in Nichts zerfallen"

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