Mittwoch, 6. Juni 2007

Tarnation - Leben am Abgrund


„An exuberantly personal work smeared with the lipstick traces from the likes of David Lynch” (L.A. Times)

Tarnation (2004) ist einer der erschütternsten, persönlichsten und außergewöhnlichsten Dokumentarfilme aller Zeiten. Psychotischen Schüben gleich wird der Zuschauer mit dem Leben einer texanischen Familie konfrontiert, in der sich hinter der bürgerlichen Fassade alle nur möglichen menschlichen Katastrophen abspielen. Renee, die Mutter von Jonathan Caouette, Hauptprotagonist und zugleich Regisseur wird von ihrer schizophrenen Mutter missbraucht und geschlagen. Aufgrund ihrer Schönheit wird sie in frühem Alter durch Zufall zu einem bekannten Kindermodel. Diese Karriere endet jedoch nach einem Sturz aus dem Fenster abrupt, sie ist für Monate gelähmt und bekommt auf ärztlichen Rat Elektroschocks versetzt. Der Körper kommt allmählich wieder, aber ihr Geist durchläuft von nun an eine endlose Abwärtsspirale. Als sie später ihren Sohn zur Welt bringt, ist der Vater schon lange verschwunden und der schizophrenen Renee wird recht schnell das Sorgerecht entzogen. Jonathan kommt für einige Jahre in Pflegefamilien, wo er ebenfalls massiven Missbrauch erlebt, bevor ihn schließlich seine nicht minder kranken Großeltern aufnehmen. Eines Tages holt seine Mutter ihn ab, sie möchte mit ihm in Chicago neu anfangen. Am ersten Abend wird die Mutter vor den Augen ihres Sohnes vergewaltigt. Und das ist erst der Anfang.

Der weitere Verlauf beider Geschichten spiegelt sich in den Filmaufnahmen von Jonathan, der schon früh zur Kamera greift und sein Leben dokumentiert. Dabei sind die Bilder gleichermaßen distanzlos – ihm, wie seiner Familie gegenüber. Er will Schauspieler werden, dreht Kurfilme, dokumentiert schonungslos die ihn umgebende kleine Welt. Mit zwölf Jahren spielt er (nur für sich selbst im in Schummerlicht getauchten großelterlichen Bad) vor der Kamera eine vergewaltige Frau. Er spielt sich dabei in Rage, hört nicht auf, bis die Tränen fließen und sich ganz plötzlich einfach alles transzendiert. So ergibt sich in der Retrospektive ein Bild seines Lebens und dem seiner Familie, collagiert aus unzähligen gesammeltem persönlichen, Bildern, Filmausschnitten, persönlichen Super-8, VHS- und Digitalaufnehmen, Fotos und Tonaufnahmen von Anrufbeantwortern. Dabei verzichtet er bewusst auf einen außenstehenden Erzähler. Stattdessen strukturieren immer wieder eingeworfene Texte einen zutiefst tragischen Film, unterlegt von einem wunderbaren Soundtrack, der die abgründigen Bilder perfekt zu kontrastieren versteht.

Gegen Ende des Films ist Jonathan 31 Jahre alt, selbst schwer gezeichnet von dem belastenden Mutter-Sohn-Verhältnis, nahezu am Ende seiner Kräfte und voller Sorge, dass die „Mutter in ihm“ ihn ebenfalls aufzufressen und auszulöschen droht. Tarnation (zu deutsch: „verdammt“) ist eine außergewöhnliche Hommage an eine Mutter, in seiner Form bisher einmalig und setzt Maßstäbe für zukünftige Dokumentarfilme. Durch die Entfremdung des Protagonisten von sich selbst wie vom Betrachter entsteht zugleich eine intime Nähe, die Innen und Außen verschwimmen lässt. Doch trotz der Intimität hinterlässt er den Betrachter verzweifelt, der 91 Minuten lang in eine Welt eintaucht, die er weder ergründen noch verändern kann. Was bleibt sind Ratlosigkeit und viele Fragezeichen. Nicht nur darin erinnert Tarnation an David Lynch, mit dem kleinen aber entscheidenden Unterschied, dass dies alles bestürzende Wirklichkeit ist.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

bestimmt krass. aber will man so etwas wirklich sehen?