Mittwoch, 20. August 2025

Ein anderer Blick auf Europa


Mit dem Rucksack den Kontinent bereisen, ein Interrailticket in der Tasche, sich dabei bisweilen treiben zu lassen und neue Einblicke gewinnen: Das ist für weiße Mittelschichtseuropäer längst nichts Besonderes mehr. Der Zeittotschläger selbst hat als Jugendlicher auf diese Weise manch interessante Erfahrungen gemacht. Doch Johny Pits ist kein Mittelschichtsjunge, er stammt aus einer englischen Industriestadt. Und er ist auch nicht weiß, sondern der Sohn eines afroamerikanischen Musikers und einer weißen Industriearbeiterin. Rucksacktourismus gehörte für ihn nicht zu den selbstverständlichen Adoleszenz-Erlebnissen. Und das Ziel seiner fünfmonatigen Reise, die er als erwachsener Mann antrat, war auch ein anderes: Er begab sich auf die Suche nach schwarzen Communities von Lissabon bis Moskau, Marseille bis Stockholm. Auf die Suche nach dem, wofür er selbst den Begriff "afropean" geprägt hat. Jenen Menschen und jener Kultur also, deren Wurzeln gleichermaßen auf dem afrikanischen Kontinent wie in Europa liegen. 

Sein Reisebericht ist daher auch keine reine Selbstbespiegelung, kein Trip auf dem Weg zu sich selbst - auch wenn er das auf eine ganz spezifische Art natürlich trotzdem ist. Diese "Notes from Black Europe" sind darüber hinaus aber viel mehr: eine Hommage an große schwarze Frauen und Männer, die den Kontinent teilweise bereits vor Jahrhunderten mitgeprägt haben. Es ist zugleich ein ungeschönter Blick auf Europa, der für den weißen Mittelschichtsleser, zu denen der Autor fraglos zählt, Ungewohntes, Überraschendes, aber auch Beschämendes mit sich bringt. 

Reisebericht, soziologische Beschreiung, historische Analyse 

Denn wie tief afrikanische Einflüsse Europa geprägt haben, das dürfte den meisten gar nicht bewusst sein - und gilt traurigerweise auch für viele Protagonisten dieses Werks, das zwischen Reisebericht, soziologischer Beschreibung, geschichtlicher Analyse und persönlichen Erfahrungen changiert. Denn so vielfältig und engagiert schwarze Communities zwischen Portugal und Russland auch sein mögen, so disparat sind diese zugleich. Mangelndes Geschichtsbewusstsein, so eine Erkenntnis dieses äußerst lesenwerten und hervorragend geschriebenen Werks, gibt es nämlich auf beiden Seiten: den jeweiligen Mehrheitsgesellschaften wie den Communities selbst. 

Sicher: es gibt zahlreiche Menschen, die daran arbeiten, dies wieder in Erinnerung zu rufen oder zumindest dem Vergessen entgegenwirken. Viele davon hat Pitts auf seiner Reise getroffen und in ihrem Wirken gewürdigt. Doch sind, so eine weitere Erkenntnis, große Teile der Afroeuropäer zu sehr mit dem alltäglichen Überlebenskampf in einer nicht selten äußerst feindlichen Umgebung beschäftigt, um einen Sinn für den Reichtum schwarzer Geschichte in Europa entwickeln zu können. 

Europa und Afrika sind vielfach ineinander verwoben

Dabei gäbe es hier einiges zu erzählen: über den russischen Nationaldichter Alexander Puschkin etwa, der mit Abraham Hannibal den Sohn eines afrikanischen Fürsten als Großvater hatte. Über die französischen Truppen, die im Zweiten Weltkrieg das Land von den Nazis befreiten und zu etwa zwei Dritteln aus Menschen mit afrikanischen Wurzeln bestanden. Oder über jene oppositionellen afrikanischen Studenten, die nicht nur einen Teil zum Ende des Salazar-Regimes in Portugal beigetragen haben, sondern später selbst politische Verantwortung auf dem afrikanischen Kontinent übernahmen. Er zeigt damit auf, dass die vermeintliche Dualität zwischen autochtonen Europäern und "fremden" Afrikanern die Wirklichkeit nicht adäquat abbildet. Zumal die Geschichte der beiden Kontinente seit der Kolonialzeit ohnehin vielfach ineinander verwoben ist. 

Sein Reisebericht ist naturgemäß subjektiv und keine systematische Analyse. Viele Begegnungen überlässt Pitts dem Zufall, er lässt sich, dabei ganz neugieriger Rucksacktourist, immer wieder treiben. Der britische Autor und Fotograf (das Buch beinhaltet auch eine Reihe von Schwarz-weiß-Fotografien) zeichnet dabei ein vielschichtes Bild - ohne Schattenseiten zu verschweigen. Und er lässt belässt es nicht beim ersten Eindruck, er reflektiert das Gesehene und Erlebte, ergänzt es um soziologisch-historische Einschübe. Aus deutscher Perspektive besonders interessant etwa ist sein Aufeinandertreffen mit autonomen Antifas, die er zunächst - aufrgund ihres martialischen Auftretens und ihrer modischen Codes - als Rechtsextreme wahrnimmt. Erst am Ende seines Aufenthalts in der deutschen Hauptstadt beginnt er zu begreifen, was den besonderen Reiz für deutsche Mittelschichtjugendliche ausmacht, sich auf dieses Spiel einzulassen. Ein Spiel, für das es durchaus ernste Gründe gibt.

Perspektivwechsel erlebt auch der Autor selbst auf seiner Reise 

Für Pitts ändert sich im Laufe der fünf Monate auch immer wieder die eigene Perspektive - etwa auf Schweden, das er ziemlich desillusioniert verlässt, obwohl er durch seine vorherigen Besuche besonders in Stockholm die "afropean idea" am ehesten verwirklicht wähnte. Am härtesten fällt sein Urteil über Frankreich aus - mit Ausnahme der viel gescholtenen Arbeiterstadt Marseille, vielleicht Eurpoas afrikanischste Metropole. 

Immer wieder wird dabei sichtbar, wie tief koloniale Muster bis heute mit Europa nachwirken, Muster, die auf den ersten Blick gar nicht erkennbar sind. Die Reise endet tief im Südwesten, in Lissabon, wo er in Cova de Moura die wohl einzige Favela des Kontinents besucht, große Gemeinschaft, einen capverdischen Jimi Hendrix, aber auch etwas erlebt, das ihm immer wieder begegnet: eine nachwachsende Migratengeneration, die den Glauben, in Europa akzeptiert zu werden und nach den Regeln der Mehrheitsgesellschaft reüssieren zu können, aus verständlichen Gründen verloren hat. Pitts, der politisch links sozialisiert ist, schließt dieses Kapitel mit einer Mahnung: "If the West continues to viliy or close its eyes to global poverty, gross inequality and the necessary environmental and economic migration currently taking place, Cova de Moura is what most of Europe may look like soon enough". 

Das Buch ermöglicht ein besseres Verständnis der Wirklichkeit  

"Afropean - Notes from Black Europe" ist ein außergewöhnliches, ein Augen öffnendes Buch, das sich an beide richtet: die weiße Mehrheitsgesellschaft, wie die afroeuropäischen Communities. Denn es erschließt beiden neue Perspektiven, richtet den Blick auf blinde Flecken und schafft damit Raum für ein besseres Verständnis der Wirklichkeit. 

Oder in den Worten von Pitts, der am Ende seiner Reise einer eigenen Illusion gewahr wurde. Nämlich folgender: "that black Europa was a place without culture, history or geography, which, as I'd now seen first hand, I knew was utterly untrue. As well as experiencing the black European landscape, I'd connected with the knowledge production of its myriad communities, learned about bold, empowering black and working-class traditions that I'd been kept at a distance from my whole life, despite being black and working class myself. These scattered fragments of Afropean experience had formed a mosaic inside my mind, not monolithic, but not entirely amorphous either; rather, the Afropean reality was a bricolage of blackness and I'd experienced an Africa theat was both in and of Europe."  

Mittwoch, 30. Juli 2025

Große Auftritte auf denkbar kleiner Bühne

Ein Büro, eine Band und eine gute Viertelstunde Zeit - mehr braucht es nicht für diese Konzertreihe. Seit inzwischen 17 Jahren stellt sie NPR Music in schöner Regelmäßigkeit ins Netz. (Ja, genau jener teils öffentlich finanzierte Radiosender, dem Trump bald den Hahn abdrehen möchte, weil ihm dessen Berichterstattung zu kritisch ist.) Waren es in den ersten Jahren vornehmlich Folk- und Indiebands, die dort ein passendes Forum fanden, erweiterten sich die Genregrenzen mit der Zeit spürbar - und zur Bereicherung dieses Formats. Die Rede ist natürlich von den "Tiny Desk Concerts", die sich mittlerweile der Zahl von 2000 Auftritten annähern. Und immer wieder sind echte Perlen darunter.

Die Idee entstand nach einem misslungenen Festivalerlebnis  

Entstanden ist die Reihe übrigens einst, weil Bob Boilen von einem Konzert recht enttäuscht war. Der Host von "All songs considered", einem wöchentlichen Podcast des US-amerikanischen Senders, bekam nämlich wegen des lärmenden Publikum nicht viel von Laura Gibsons Auftritt beim "South by Southwest" mit. Stephen Thompson, der ihn begleitete und ebenfalls bei dem Sender tätig ist, meinte scherzhaft, dass er Gibson doch einfach an seinem "tiny desk", also dem Sendepult, auftreten lassen sollte. Aus dem Scherz wurde eine Idee, wurde Wirklichkeit, und schließlich eine ganze Reihe. Klein, kurz und intim sind die Auftritte - und sie erscheinen seitdem im Wochentakt, manchmal auch häufiger. 

Klein und intim blieb die Reihe in all der Zeit, entwuchs als aber über die Jahre der Nische, aus der sie kam. Als in der Pandemie Auftritte dieser Art zwangsweise zur Regel wurden, war das Format längst etabliert. 

Zwei Auftritte, die in dieser Reihe herausragen  

Nicht alle Bands und Musiker wussten die Vorzüge dieses kompakten Settings zu nutzen. Viele gewannen aber dadurch an Statur. Und einige Musiker stechen mit ihren Auftritten dabei recht deutlich heraus. Anderson Paak etwa, der vor mittlerweile acht Jahren zu Besuch war, damals vornehmlich als Rapper unterwegs war (und später als "Silk Sonic" eine recht erfolgreiche Kollaboration mit Bruno Mars begann), hier aber zeigen konnte). Er konnte zeigen, dass in ihm und seinen Stücken weit mehr steckte als auf den Platten hörbar war. Dessen Songs hier glänzten, und der als dauergrinsender Schlagzeuger mit seinen "Free Nationals" zu überzeugen wusste. Dieses 15-Minuten-Konzert ist eines, das völlig zurecht inzwischen 117 Millionen Aufrufe hat - darunter mindestens zwei Dutzend von mir. 

Nicht weniger eindrucksvoll war Doechii, die vor sieben Monaten dem Desk einen Besuch abstattete. Ihr ohnehin starkes Album "Alligator bites never heal", aus dem sie mehrere Stücke zum Besten gab, ließ bereits erahnen, dass hier ein großes Rap-Talent diese kleine Bühne betreten wird. Was Jaylah Ji’mya Hickmon dann allerdings mit ihrer zehnköpfigen Band in 23 Minuten und 40 Sekunden präsentierte, war dann noch einmal deutlich mehr - und auch deutlich besser. Wie Paak gewann die Musikerin durch das Setting, eine kluge Instrumentierung und eine wirklich gute Band, die alles andere als im Hintergrund agierte, deutlich an Statur. 

Weshalb die Reihe funktioniert: Eine mögliche Erklärung 

Leider ist es ja so: Konzerte oder Festivals sind heute mehr denn je kommerzielle Veranstaltungen, müssen das sein, weil Musiker vom Verkauf ihrer Alben (oder gar den lächerlich geringen Erlösen durch Streams) nur in den seltensten Fällen leben können. Ohne Publikum und im Büro eines Nischenradios spielt dieser kommerzielle Aspekt indes keine Rolle mehr. Hier muss niemand ein Spektakel darbieten, sondern einfach seine Musik darbieten. Vielleicht ist genau dies ja auch das Erfolgsrezept hinter den "Tiny Desk Concerts", die längst Nachahmer gefunden haben (man denke etwa an die KEXP Live Performances). Man darf dem lärmenden Publikum beim "Southwest" anno 2008 dafür durchaus dankbar sein. 

Mittwoch, 1. Januar 2025

Die Freiheit, zu entscheiden

Ist das nicht völlig antiquiert? Interessiert das überhaupt noch jemand? Braucht das die Welt? Brauche ich das noch? 

Und überhaupt: Das Internet, die Blogosphäre, soziale Medien, digitale Vernetzung - alles mal gute Ideen gewesen, reizvolle anarchische Gebilde in ihren Anfängen. 

Aber heute? Im Grunde nicht mehr der Rede wert. Weshalb noch Zeit investieren in diesen weitgehend monopolisierten dauererregten Raum voller Rechthaberei, Zorn und Zoff? 

Also: who cares? Andererseits: Wieso nicht einfach machen, wieder machen, weiter machen, den Faden wieder aufnehmen? Ab und an ein paar Gedankenfetzen in den Raum werfen, auf dass sie womöglich gar jemand aufliest und eine sinnvolle Verwendung für sich findet?

Nicht zuletzt: Einen Unterschied machen, das geht ja nach wie vor.

In diesem Sinne: Prost Neujahr! Gut möglich, dass hier in nächster Zeit wieder etwas zu lesen ist. Lange genug lag der Zeittotschläger schließlich im Winterschlaf...

Auch wenn all das nach wie vor kein Wunschkonzert ist - oder, um es mit Muff Potter zu sagen: "In ungewissen Zeiten ist die Freiheit zu entscheiden ein Luxus".