Sonntag, 29. Mai 2022
Das Ideal
Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse,
vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße;
mit schöner Aussicht, ländlich-mondän,
vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn –
aber abends zum Kino hast dus nicht weit.
Das Ganze schlicht, voller Bescheidenheit:
Neun Zimmer – nein, doch lieber zehn!
Ein Dachgarten, wo die Eichen drauf stehn,
Radio, Zentralheizung, Vakuum,
eine Dienerschaft, gut gezogen und stumm,
eine süße Frau voller Rasse und Verve –
(und eine fürs Wochenend, zur Reserve) –
eine Bibliothek und drumherum
Einsamkeit und Hummelgesumm.
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste,
acht Autos, Motorrad – alles lenkste
natürlich selber – das wär ja gelacht!
Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen:
Prima Küche – erstes Essen –
alte Weine aus schönem Pokal –
und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal.
Und Geld. Und an Schmuck eine richtige Portion.
Und noch ne Million und noch ne Million.
Und Reisen. Und fröhliche Lebensbuntheit.
Und famose Kinder. Und ewige Gesundheit.
Ja, das möchste!
Aber, wie das so ist hienieden:
manchmal scheints so, als sei es beschieden
nur pöapö, das irdische Glück.
Immer fehlt dir irgendein Stück.
Hast du Geld, dann hast du nicht Käten;
hast du die Frau, dann fehln dir Moneten –
hast du die Geisha, dann stört dich der Fächer:
bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher.
Etwas ist immer.
Tröste dich.
Jedes Glück hat einen kleinen Stich.
Wir möchten so viel: Haben. Sein. Und gelten.
Daß einer alles hat:
das ist selten.
(Kurt Tucholsky, 1927)
Freitag, 6. Mai 2022
Lange nicht mehr hier gewesen.
Der Zeittotschläger ist sichtlich verwaist. Seit geraumer Zeit habe ich mich nicht mehr um diese Seite gekümmert. Dabei hätte es genügend Gründe gegeben, sich hier zu äußern. Die Weltlage schreit nach einer Kommentierung. Neue oder wieder entdeckte Musik danach, verbreitet zu werden. Ich habe vieles gelesen, das mich inspiriert, bewegt oder zum Nachdenken angeregt hat. Und auch meine Ich-Maschine stand in all der Zeit nicht still.
Doch hatte ich bislang nur selten das innere Bedürfnis mich zu äußern. Im Stimmengewirr des Internets und inmitten der Nachrichtenflut, der ich ja auch beruflich nicht entgehen kann, war mir die Stille ein weitaus größeres. Zumal mich, gerade zur Beginn der Pandemie, der Social-Media-Sog erfasste, ich dem schlimmsten gerade noch entrinnen konnte, aber nach wie vor in unregelmäßigen Abständen Rückfälle erleide.
Der Zeittotschläger hatte zuletzt auch schlicht kaum noch die Gelegenheit, genau das zu tun: nämlich die Zeit totzuschlagen. Und wenn, dann verbrachte er sie nicht damit, diese Seiten hier zu füllen.
Ob sich dies ändern wird? Ich weiß es nicht.
Ich wollte nur ein Lebenszeichen absetzen.
Übrigens: Das hier habe ich in letzter Zeit sehr oft gehört - und die Geschichte dahinter ist durchaus interessant.
Dienstag, 5. Oktober 2021
Die alten Wurzeln der Neuen Rechten
Was sind die intellektuellen Ursprünge der Neuen Rechten? Welchen Einfluss hatte sie auf die Entwicklung von Frankreich und Deutschland in der Nachkriegszeit? Und was bedeutet dies für die aktuelle politische Situation? Damit beschäftigt sich diese Arte-Doku von Autor und Regisseur Falko Korth.
Sie zeichnet dabei eine (metapolitisch durchaus erfolgreiche) Linie von Ernst Jünger über Armin Mohler bis zu Alexander Gauland beziehungsweise von Mohler über Alain de Benoit bis zu Jean-Marie Le Pen. Einige Akteure der Neuen Rechten kommen dabei auch zu Wort.
Sonntag, 3. Oktober 2021
MIxtape No. 21: ...und am siebten Tag ließ Gott die Seele baumeln - und hörte dieses Album.
Samstag, 24. April 2021
In meiner Heimat leb ich nicht mehr gern
Buchweizen ruft, aus Weiten, endlos großen.
Ich laß die Kate Kate sein, bin fern,
ich streun, ein Dieb, umher im Heimatlosen.
Tag, wie dein Licht sich lockt, so will ich gehn,
im Irgendwo will ich zur Ruh mich setzen.
Was mir bevorsteht, Freund, ich kanns schon sehn:
ich seh am Stiefelschaft dich’s Messer wetzen.
Die gelbe Straße, vor mir läuft sie hin,
der Frühling, er läuft mit, das Wiesenblond, die Helle.
Den Namen grub ich tief in meinen Sinn,
und die ihn trägt, sie jagt mich von der Schwelle.
Ich weiß, mich führts zurück zu Vaters Haus –
am Ärmel mich ans Fensterkreuz zu knüpfen.
Die Weiden hängen grau, das Zaungeflecht
steht schief – sie müssen Kummer haben.
Mich Ungewaschnen bettet man zurecht,
die Meute bellt – sie haben mich begraben.
Und oben schwimmt der Mond, er schwimmt und schwebt,
und läßt, wo Seen sind, seine Ruder fallen.
Und Rußland lebt, wie’s immer schon gelebt:
am Zaun, da tanzt es, und die Tränen rollen.
(Sergej Jessenin)
Sonntag, 4. April 2021
Ein Abgrund, in den geschaut werden muss
Selten hat mich ein Radio-Beitrag mehr beschäftigt als dieser. Weil er ein Tabu behandelt, das entweder totgeschwiegen oder über das reißerisch skandalisiert wird. Eines, das aber zugleich so alltäglich ist, dass es verwundert, wie selten offen darüber gesprochen wird.
Es geht um Kindesmissbrauch, der kein Phänomen von Randgruppen ist, sondern in der Mitte der Gesellschaft stattfindet - und das leider massenhaft (oft übrigens gar nicht mal aus pädophilen Motiven). In den allermeisten Fällen geschieht es von der Öffentlichkeit verborgen im nahen und nächsten Umfeld: der Familie, dem Sportverein, dem Freundeskreis. Immer häufiger bleiben diese Verbrechen nicht im Verborgenen, sondern werden dokumentiert, geteilt, verkauft.
WDR 5 lässt in dem Radiofeature "Abgrund Kinderpornografie" eine Betroffene zu Wort kommen, die nicht nur vor ihrem eigenen Schicksal erzählt. Die Protagonistin (aus verständlichen Gründen nur anonym auftretend), wollte verstehen, was die Täter motiviert - und hat sich dafür in Foren begeben, wo Bilder und Fantasien ausgetauscht werden. Sie hat Kontakt zu Pädophilen aufgenommen. Und sie geht dabei der Frage nach, weshalb diese Gesellschaft das Problem so tabuisiert anstatt offensiv darüber zu sprechen.
Es fällt in der Tat schwer, sich diesem Thema zu stellen. Zumal die Vorstellung, dass in jeder Schulklasse wahrscheinlich ein betroffenes Kind sitzt, nicht nur schwer erträglich, sondern auch kaum vorstellbar ist. Doch wie bei häuslicher Gewalt handelt es sich eben um ein Verbrechen, das massenhaft geschehen, aber kaum sichtbar und leider auch schwer zu beweisen ist.
Eine gesellschaftliche Debatte und mehr Aufklärung über das Thema täte deshalb Not. Um Kinder besser zu schützen. Um Pädophilen Wege aufzuzeigen, damit sie nicht irgendwann zum Täter zu werden. Und jene, die aus anderen Motiven (wie Macht und Überlegenheitsgefühle) solche Verbrechen begehen, zu warnen, dass diese Gesellschaft wachsam ist.
Auch wenn es schmerzt, hinter die Fassaden zu sehen - das ist ein Abgrund, in den geschaut werden muss.
Samstag, 20. März 2021
Impressionen No. LX: Zeichen der Zeit
Montag, 15. März 2021
Geschichte als Affäre? Über die Kunst des Verisses
Der Verriss ist eine hohe Kunst. Denn Texte so auseinanderzunehmen, dass am Ende der Leser weiß, warum er besser ablassen sollte von einem Buch, das ist stets eine heikle Angelegenheit. Argumente müssen gut begründet und nicht nur durch Animositäten oder den persönlichen Geschmack begründet sein.
Ein Beispiel fürs Lehrbuch ist diese Kritik von Andreas Wirsching, dem Leiter des Instituts für Zeitgeschichte in München. Sie beschäftigt sich mit einem Werk von Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neuste Geschichte an der Universität der Bundeswehr, ebenfalls in München.
Akribisch begründet
Ich habe ihr Buch "Demokratie. Eine deutsche Affäre" nicht gelesen. Aber nach dieser vernichtenden und gut begründeten Kritik scheint mir das auch nicht mehr nötig zu sein. Denn akribisch und konzise listet er die Argumente auf, weshalb Richters Sachbuch wissenschaftlichen Standards nicht standhält. Selten habe ich eine lehrreichere Kritik gelesen. (Ob Wersching damit tatsächlich richtig liegt, darüber hat Patrick Bahners in der FAZ gerade eine Feuilleton-Debatte angestoßen.)
Verrisse können aber auch ganz anders aussehen, wie Marcel Reich-Ranicki in einem seiner wohl bekanntesten Texte gezeigt hat. Er thematisiert Martin Walsers Roman "Jenseits der Liebe" - und hier kann ich nahezu jede Zeile unterschreiben. Walser, der später die umstrittene Friedenspreis-Rede halten sollte, hatte damals, Ende der Siebziger Jahre, eine kurze Phase, in der er mit dem Kommunismus liebäugelte. Das Buch ist literarisch schwach, steckt voller Klischees, bleibt völlig unter Walsers Niveau - und ist schon gar nicht vergleichbar mit seinem grandiosen Nachkriegs-Roman "Ehen in Philipsburg", das ich hier einmal kurz rezensiert habe.
Eine vernichtende Kritik
Allein Ranickis einführende Worte sind vernichtend: Er überschreibt den Text vielsagend mit Jenseits der Literatur. Das Buch sei "ein belangloser, ein schlechter, ein miserabler Roman. Es lohnt sich nicht, auch nur ein Kapitel, auch nur eine einzige Seite dieses Buches zu lesen. Lohnt es sich, darüber zu schreiben? Ja, aber bloß deshalb, weil der Roman von Martin Walser stammt, einem Autor also, der einst, um 1960, als eine der größten Hoffnungen der deutschen Nachkriegsliteratur galt – und dies keineswegs zu Unrecht."
Besonders fies: Das Ende verraten
Drittes Beispiel: Michel Houellebecq, der durchaus zu Großem imstande ist (in "Karte und Gebiet" etwa, hier von mir kurz rezensiert), der aber auch ein ziemlich larmoyanter, sexbesessener, alter weißer, reaktionärer Mann ist, wie sein Buch "Serotonin" beweist (hier meine Kurzrezension). Jürgen Ritte fasst in seiner Kritik für den Deutschlandfunk durchaus süffisant alles zusammen, was schlecht daran ist. Und er macht etwas für Autoren ziemlich fieses: Er verrät das Ende des Romans.
Wer sich für den Totalverriss entscheidet, sollte gute Gründe haben. Und den Mut, sich der Wut des Verfassers zu stellen. Ranicki tauchte später in einem Roman von Walser kaum verhohlen als Figur auf. Er hieß: "Tod eines Kritikers".
P.S. Ein Verriss von mir darf an dieser Stelle natürlich nicht fehlen. Er thematisiert den von mir geschätzten Songwriter Jochen Distelmeyer, der als Literat leider ein Totalversager ist. Ob er gelungen ist? Entscheidet selbst!
Montag, 8. Februar 2021
Das Terrorjahr der Rechten
Die RAF hat sich in die kollektive Erinnerung dieser Republik eingebrannt. Dass es lange vor dem NSU auch längst etablierten Rechsterrorismus in der Bundesrepublik gab, das ist (jenseits des Oktoberfest-Anschlags) jedoch seltsam unterbelichtet.
Besonders viele Opfer hat das Jahr 1980 hervorgebracht. Doch wer erinnert sich noch an die Deutschen Aktionsgruppen, die im Februar dieses Jahres einen Rohrbomben-Anschlag auf das Haus des Esslinger Landrats verübten? Wer an die rassistischen Morde an Flüchtlingen wie Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân in Hamburg? Und wer an den Mord am Verleger Shlomo Lewin?
Rechtsterrorismus ist wahrlich kein neues Phänomen. SWR2 ist dem kürzlich in einem Feature über das "Terrorjahr der Rechten" nachgegangen.
Sonntag, 7. Februar 2021
Sonntag, 3. Januar 2021
Drei Bücher
Cemile Sahin - Alle Hunde sterben (2020)
Im Text wird es kein einziges Mal konkret benannt, aber natürlich handelt Cemile Sahins „Alle Hunde sterben“ von der Verfolgung der Kurden in der Türkei. In rund einem Dutzend Episoden erzählt die deutsche Schriftstellerin abgründige Geschichten aus einer Gesellschaft von Geflüchteten, die in einem Hochhaus im Westen des Landes Unterschlupf findet. Das Buch ist teils rechts drastisch, beleuchtet seine Protagonisten kühl und mit der Schärfe eines Drehbuch-Plots.
Diese Buch hat mir wohl das Jahr 2020 gerettet (den alten Russen ist das bei mir schon öfter gelungen). Denn es beförderte mich von der hektischen Welt der sozialen Medien und dem Familien-Irrsinn im Lockdown in eine gänzlich andere Zeit. Die Bühne für das Stück bildet das ärmliche ländliche Russland, Mitte des 19. Jahrhunderts, wo wir einen Mann bei seinen irrwitzigen Versuchen begleiten dürfen, Gutsbesitzern in Zeiten von Hunger und Not „tote Seelen“, also Leibeigene abzukaufen, die bereits verstorben waren, auf den staatlichen Listen aber noch aufgeführt waren. Sprachlich herausragend, aber auch urkomisch und daher ein wunderbares Stück Weltliteratur.
Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse (2020)
Christian Baron, Redakteur beim „Freitag“, erzählt in diesem Roman die Geschichte seiner Kindheit in der Arbeiterklasse von Kaiserslautern. Es ist die eines unwahrscheinlichen Aufstiegs aus einem prekären Milieu, geprägt von seinem alkoholkranken, prügelnden Vater und einem Frust auf die Schröder-SPD samt ihrer Agenda-Refomen. Baron berichtet davon, wie ihm der Ausbruch aus dem Milieu gelang, dessen Habitus er (und durchaus auch mit Stolz) aber bis heute nie ganz abgelegt hat. Ein starkes Buch, das in seiner soziologischen Schärfe durchaus mit der „Rückkehr aus Reims“ von Didier Eribon vergleichbar ist.
Sonntag, 1. November 2020
Älterwerden
Zögern mitten im Satz.
Nachfragen wenn man glaubt
es verstanden zu haben
Es nicht mehr eilig haben
mit dem Wissenwollen
Einen Stein ein Glas eine Hand
länger festhalten als nötig
Den Ärmel des Gegenüber beim Reden berühren
zu spüren man ist noch da
Ein Buch einen Blick eine Haut verlieren
und nicht mehr finden wollen
Erinnern statt sehnen
Den Gedanken: Das alles ist nach mir noch da
trainieren wie einen Muskel
Gefühl als wäre jemand im Zimmer
(Ulla Hahn)
Dienstag, 30. Juni 2020
Mixtape No. 20: Close to the edge
Samstag, 23. Mai 2020
Impressionen No. LIX: Eine neue Seltsamkeit
Dienstag, 7. April 2020
Zeit für eine Bilanz
Allerdings sehen leider nicht nur Umweltschützer in dieser jähen Pause des globalen Produktionssystems eine Gelegenheit, ihr Landeprogramm für die Rückkehr auf den Boden der Realität zur Anwendung zu bringen. Jene Globalisierer, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts sich in den Kopf gesetzt haben, man könne die Begrenztheit des Planeten außer Acht lassen, sehen ebenfalls eine Chance, die verbleibenden Hindernisse für ihre Flucht nach vorn aus dieser Welt noch radikaler aus dem Weg zu räumen. (...) Wir müssen von der Hypothese ausgehen, dass diese Globalisierer sich der ökologischen Krise sehr bewusst sind und dass all ihre Anstrengungen seit fünfzig Jahren dahingehen, den Klimawechsel zu leugnen, gleichzeitig aber seinen Folgen zu entkommen, indem sie Bastionen für Privilegierte errichten, die den zahlreichen Anderen unzugänglich bleiben. (...) Es sind jene Globalisierer, die sich täglich auf Fox News zu Wort melden und die von Moskau bis Brasilia, von New Delhi, über London, bis Washington am Klimawandel vorbeiregieren. (...)
Doch wenn ihnen sich eine Gelegenheit auftut, dann auch uns. Wenn alles zum Stillstand gebracht ist, kann alles auch hinterfragt, überdacht, neu sortiert, endgültig ausgesetzt oder, im Gegenteil, noch stärker vorangetrieben werden. Es ist Zeit für die Bilanz. Dem Ruf des gesunden Menschenverstands: ,Nehmen wir so schnell wie möglich die Produktion wieder auf', müssen wir mit dem Ausruf antworten: ,Das gerade nicht!'. Das letzte, was wir nun tun sollten, wäre, da weiterzumachen, wo wir zuvor waren. (...)
Wenn wir anfangen, jeder für sich, über die verschiedenen Aspekte unseres Produktionssystems uns Gedanken zu machen, werden wir millionenfach ebenso wirksame Globalisierungsunterbrecher sein, wie das durch die Globalisierung schnell sich ausbreitende Coronavirus es paradoxerweise ist. Was das Virus über den Speichelstaub zwischen den Menschen zustande brachte, das Aussetzen der Weltwirtschaft, können wir durch unsere von Mensch zu Mensch weitergegebenen kleinen Gesten nutzbar machen. Mit seinen Fragen errichtet so jeder eine Schranke nicht nur gegen das Virus, sondern auch gegen all jene Teile unseres Produktionsmodells, die wir künftig nicht wiederaufnehmen wollen."
(Bruno Latour)
Mittwoch, 11. März 2020
Die Corona-Lehre
Ärzte, Betten überall
Forscher forschen, Gelder fliessen -
Politik mit Überschall.
Also hat sie klargestellt:
Wenn sie will, dann kann die Welt.
Also will sie nicht beenden
Das Krepieren in den Kriegen,
Das Verrecken vor den Stränden
Und dass Kinder schreiend liegen
In den Zelten, zitternd, nass.
Also will sie. Alles das.
(Thomas Gsella, 2020)
Samstag, 7. März 2020
Zeit für drastische Maßnahmen
Dass Südtirol zur Gefahr werden könnte, war bereits Anfang der Woche abzusehen. Auch dass Corona auf uns zukommt, ist seit Wochen klar. Doch die Behörden reagieren erst jetzt und, wie ich finde, immer einen Tick zu spät. Da ich Verwandtschaft in China habe (die uns inständig darum gebeten hat, nur noch rauszugehen, wenn es unbedingt nötig ist, und wenn, dann mit Maske), weiß ich, was in den kommenden Wochen möglicherweise dräut.
Deutschland reagiert zu langsam
Denn wie China, wo das Problem zunächst unterdrückt, dann unterschätzt wurde, reagieren auch wir in Deutschland viel zu langsam. Im Gegensatz zu uns hat die Volksrepublik aber an einem entscheidenden Punkt die Notbremse gezogen und die wohl drastischste kollektive Quarantäne der Geschichte verordnet. Seit vier Wochen findet kein wirkliches öffentliches Leben statt. Mit dem Ergebnis, dass es dort inzwischen weniger Neuinfektionen gibt als in Deutschland. Und tausende Menschenleben gerettet wurden.
Die Weltgesundheitsorganisation hat diese Maßnahmen kürzlich ausdrücklich gelobt und zur Nachahmung empfohlen, zugleich aber auch darauf hingewiesen, dass in anderen Ländern die nötige Geisteshaltung für solch krasse Alltagseinschränkungen wohl fehlt.
Nicht der Virus, die Epidemie ist das Problem!
Nein, ich möchte hier sicher keine Panik verbreiten. Und ich habe auch keine Angst vor dem Virus - zumal ich nicht zur Hochrisikogruppe gehöre. Das Problem ist aber, dass es hochansteckend ist - und das auch bei Personen, die noch keine Symptome zeigen. Das Problem ist daher vor allem die Epidemie, die auf uns zurollt. Im Ostalbkreis ist schon nach dem zweiten bestätigten Fall zu sehen, welche Auswirkungen das haben könnte. Denn es war auch eine Krankenpflegerin betroffen, weshalb insgesamt zwölf Pflegekräfte unter Quarantäne stehen und die Intensivstation am Virngrundklinikum Ellwangen um vier Betten reduziert werden musste. Und das wegen einem Fall!
Auch der Rudersberger Arzt befindet sich vorsorglich noch in Quarantäne. Man mag sich gar nicht ausmalen, wie unser ohnehin kaputt gespartes Gesundheitssystem in die Knie gehen wird, wenn sich das Virus, so wie es momentan aussieht, schnell und exponentiell ausbreitet. Auch das lässt sich aus China lernen: Den Preis hätten dann nicht nur die Corona-Patienten zu zahlen, sondern alle, die chronisch krank und auf ein funktionierendes Gesundheitssystem angewiesen sind.
Daher ist es jetzt auch in Deutschland an der Zeit, drastischere Maßnahmen zu ergreifen. 14 Tage Corona-Ferien etwa, wie von Virologe Alexander Kekulé jüngst gefordert. Die Absage aller Großveranstaltungen. Fußball-Bundesliga ohne Publikum. Mehr Tests. Ausreichend Schutzausrüstung für das klinische Personal. Und nicht zuletzt bedarf es auch eines geschärften Bewusstseins für die Risiken in der Bevölkerung.
Update: Dieser Beitrag ist jetzt in aktualisierter Version in der Lokalzeitung erschienen.
Donnerstag, 27. Februar 2020
Merz und die Macht der Finanzindustrie
Donnerstag, 23. Januar 2020
High Fidelity No. 12: Fünf Bücher
Jason Lutes: Berlin I, II und III
Freitag, 13. Dezember 2019
Mixtape No. 19: Take me somewhere nice, Part 1
1. Take me somewhere nice - Mogwai (2001)
2. Change is an engine - Savoy Grand (2005)
3. Theresa's sound world - Sonic Youth (1992)
4. Explosion - Tocotronic (2007)
5. Thieves in the palace - Logh (2007)
6. Odd said the doe - Nina Nastasja & Jim White (2007)
7. Fever dream - Iron & Wine (2004)
8. Visions - Stevie Wonder (1972)
9. Hey, who really cares? - Linda Perhacs (1970)
10. Première gymnopedie - Eric Satie (1888)
11. Reflets dans l'eau - Claude Debussy (1905)
12. Empty house - Air (2000)
13. Right where it belongs - Nine Inch Nails (2005)
14. Marion Barfs - Clint Mansell (2000)
Das Mixtape gibt es, wie immer, auch als Youtube-Playlist sowie bei Spotify. Dort aber leider ohne Savoy Grand und Nina Nastasja & Jim White.
Ein Sieg für den Populismus
1. Die Wähler waren bereit, einen Politiker zu wählen, der zwar wiederholt und offensichtlich lügt, aber dafür für "Klartext" und einfache Lösungen steht. Johnson ist ein Paradebeispiel für diesen Typus. Bereits zu seinen Zeiten als Journalist (er arbeitete für die Times, den Daily Telegraph und war Herausgeber des Spectator) hat er es mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Auch den Brexit selbst hat er nicht aus Überzeugung propagiert, um dann umso vehementer eine Kampagne für den Austritt anzuführen. Auch diese basierte auf einer Lüge: nämlich, dass das Vereinigte Königreich pro Woche 350 Millionen Pfund an die EU zahle - und diese besser im Gesundheitssystem investiert wären. Unnötig zu erwähnen, dass der ehemalige Bürgermeister von London die Institutionen verachtet. Johnsons Sieg ist auch und vor allem ein Sieg des Populismus.
2. Identitäre Themen überlagern ökonomische und soziale Fragen. Eigentlich sind die Tories für Arbeiter unwählbar. Unter Thatcher wurde das Land deindustrialisiert und dereguliert, weite Teile der Infrastruktur privatisiert. Mit der Folge, dass die Ungleichheit in kaum einem Industrieland so hoch ist (wozu New Labour unter Tony Blair leider auch beigetragen haben). Dass Johnson das ohnehin gerupfte Gesundheitssystem NHS möglicherweise komplett privatisieren will (das er vor dem Brexit-Referendum noch so großzügig ausbauen wollte), spielte im Wahlkampf aber nur eine untergeordnete Rolle. Labour ist mit seinen linken Forderungen bei vielen ihrer Kernwähler nicht durchgedrungen. Der EU-Austritt hat alle anderen Themen überlagert.
3. Aus der Niederlage von Labour lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass ein Linkskurs der Sozialdemokratie zwangsläufig scheitern muss. Mit derselben, für UK recht radikalen Politik hatte Jeremy Corbyn bei den Unterhauswahlen vor zwei Jahren noch großen Erfolg. Mit rund 40 Prozent der Stimmen gelang es ihm und seiner links gewendeten Partei, viele junge Wähler und mehrere hunderttausend neue Mitglieder zu gewinnen. Dass er diesmal scheiterte liegt vor allen an drei Gründen: Corbyn hatte keine eindeutige Position zum EU-Austritt (auch weil seine Wählerschaft hier klar gespalten ist), auf der identitären Schiene also kein wirkliches Angebot. Soziale und ökonomische Themen spielten bei dieser Wahl, wie gesagt, keine entscheidende Rolle. Er musste zudem gegen Antisemitismus-Vorwürfe gegenüber seiner Partei ankämpfen - und tat dies nicht entschieden genug. Außerdem ist Corbyn bei weiten Teilen der Bevölkerung eher unbeliebt, obwohl sie seine politischen Forderungen durchaus teilen.
Donnerstag, 12. Dezember 2019
Drei Rap-Alben
Der Tod der eigenen Mutter, die Kindheit in der Siedlung, seine Jugend als Krimineller, das Leben als Mensch mit sudanesischen Wurzeln in Deutschland oder Racial Profiling - alles Themen, die auf diesem kompakten, ziemlich düsteren Debütalbum des Rappers OG Keemo verhandelt werden. Die zwingenden Beats dazu liefert Funkvater Frank. Zusammen ergibt das eines der wenigen Platten des Genres Gangstarap, die wirklich etwas zu erzählen haben. Besonders gut gelungen bei "Geist", "Nebel" und "216".
2. Kummer - Kiox (2019)
Aus einer ganz anderen, spezifisch ostdeutschen Perspektive reflektiert Felix Kummer, Frontmann von Kraftklub auf seinem Debütalbum "Kiox" das Großwerden in Chemnitz. Dabei geht es um das Weglaufen vor Nazis, mit denen er heute nur noch Mitleid hat. Um die ersten Anzeichen der Verspießerung, peinliche Familientreffen, viel zu früh gestorbene Wegbegleiter oder die oberflächliche Fixierung auf Outfit, Image, Körper. Am besten funktioniert das (mit Beats von Blvth und den Drunken Masters produzierte Album) bei "9010", "Der Rest meines Lebens" und "Wieviel ist dein Outfit wert".
3. Fatoni - Andorra (2019)
Über die Phase des Erwachsenwerdens ist Fatoni indes als Rapper und Mensch längst hinaus. Er steuert vielmehr direkt auf die Midlife Crisis zu. Denkt, unterlegt von Dexters zeitgemäßen Trap-Beats, darüber nach, was einmal bleiben wird, wie einstige Weggefährten auf Abwege geraten oder fragt sich, was wohl aus dem Junkie im Park wurde, den er aus seiner Jugend kannte. So abgeklärt, reflektiert und selbstkritisch hat der Münchener nie geklungen. Zum Beispiel auf "Alles zieht vorbei", "Nein Nein Nein Nein Nein", "Mitch" (und nicht zu vergessen "Clint Eastwood", wo er sich im Video als "King of Queens" parodiert).
Mittwoch, 11. Dezember 2019
Flüchtige Notizen X: Krise
Farblos wie Beton, wie Dreck.
Fahl.
Nichts bringt mehr Licht ins dunkle Sein.
Hart.
Wie Gestein, nur langsam schiebt und drückt es.
Rein.
Lange weit davon entfernt.
Besinnungslos.
Hör ich die Tauben, bin ich selbst bereits?
Nein!
Als Taube fliegte ich schon längst.
Weit weg...
Wohin, das weiß der Wind allein.
Ziele?
Das Sein, Bewegung, Regung.
Ja.
Vielleicht seh ich nur falsch.
Bin.
Höchstens blind, erlahmt und matt.
Vor.
Wohlstand, Essen, Rausch, wer weiß?
Wohin.
Das ist die falsche Frage!
Ins Nichts?
Freiheit gerät ins Stocken...
Leider.
Auf der Leiter, ungebrochen.
Eine Stufe fehlt.
(3/10/2005)
Freitag, 8. November 2019
Ein zunächst verschmähter Klassiker
A Perfect Circle? Nur ein ganz okayer Abklatsch von Tool - das war bislang meine Meinung über diese Band. Und wie ich bis vor kurzer Zeit fand, durchaus zurecht. Was nicht heißt, dass die Musiker schlechte Musik produzierten - keinesfalls, die Band hatte durchaus ihre Qualitäten.
Doch es gibt auch bei Musikern, die bereits fast zwanzig Jahre aktiv sind, Überraschungen. Ich muss gestehen, diese im Falle von A Perfect Circle, trotz kundiger Empfehlungen, beim aktuellen Album lange verpasst zu haben. Weshalb ich es zunächst verschmähte, um es jetzt uneingeschränkt zu empfehlen.
Denn "Eat the elephant" (bereits 2018 erschienen) hat für mich die Maßstäbe, mit der diese Band bewertet werden sollte, fundamental verschoben. Nicht zuletzt, weil der große Kryptiker James Maynard Keenan hier so konkret wird wie nie.
Vier Gründe, die aus meiner Sicht für sich sprechen:
No. 1: Disillusioned. Ein Stück über die schöne neue digitale Welt:
No. 2: The Doomed: Hier wird die Bergpredigt radikal gedreht.
No. 3: So Long and thanks for all the fish, eine Hommage an Douglas Adams.
No. 4 Talk Talk, ein religionskritischer Song gegen die Jenseitssucht.