Montag, 22. Januar 2018

High Fidelity No. 9: Reflexe und Reflexionen


Meine Bücher des Jahres 2017:
1.  Martin Walser - Ehen in Philippsburg
2. Jerome Leroy - Der Block
3. Alec Ash - Wish lantern
4. Oliver Nachtwey - Die Abstiegsgesellschaft
5. Thomas Wagner - Die Angstmacher

BELLETRISTIK:

Teju Cole - Jeder Tag gehört dem Dieb: Nüchtern geschriebene Novelle über die Rückkehr eines Emigranten nach Lagos und seine innere Zerissenheit zwischen alter und neuer Heimat. Ein etwas flüchtiges Buch mit vielen Schwarz-Weiß-Fotografien von Cole, der selbst in Nigeria aufgewachsen ist.

Philip Roth - The plot against America: In den 40er Jahren wählen die US-Amerikaner einen Faschisten zum Präsidenten, der sich direkt mit Hitler verbündet. Doch ist er (der Flugpionier Lindbergh) wirklich eine Gefahr für die amerikanischen Juden? Es gibt nämlich auch unter ihnen welche, die ihn unterstützen. Die Familie des Protagonisten, die darüber langsam zerbricht, nicht. So schnörkel- wie schonungslos beschreibt Roth den unaufhaltsamen Niedergang der Familie.

Paul Auster - City of glass: Der erste, sehr gute Teil seiner New York-Trilogie ist ein großes Verwirrspiel, dreht sich um Fragen der Identität und darüber, wie sehr wir unseren Wahrnehmungen trauen können.

Martin Walser - Flugzeuge über dem Haus: Walsers Erstling ist noch sehr geprägt von Kafka, über den er einige Jahre zuvor promovierte. Lesenswert, aber entsprechend kafkaesk sind die gleichnishaften Kurzgeschichten, die gegen Ende hin immer absurder werden.

Martin Walser - Ehen in Philippsburg: Ein wirklich großer deutscher Nachkriegsroman, der im fiktiven Philippsburg spielt, aber (wie ich erst nach der Lektüre erfahren habe) eigentlich Stuttgart in den späten 50er Jahren zeigt (vieles davon trägt wohl autobiografische Züge, schließlich hat Walser eine Zeit lang beim SDR gearbeitet). Dabei zeichnet Walser ein Sittenbild der Wirtschaftswunderzeit, in dem die Schrecken der jüngsten Vergangenheit nur subkutan spürbar sind und in der bei aller spießigen Enge doch ebenso Fürchterliches zu Tage tritt.

Martin Walser - Jenseits der Liebe: Jenes Buch, das Reich-Ranicki (nicht ganz zu unrecht) in der  FAZ so großartig verriss, dass der Autor ihn später literarisch sterben ließ. Stammt aus der kurzen Phase, in der Walser mit dem Kommunismus liebäugelte. Entsprechend hölzern wirkt der Versuch einer Kritik der Arbeitswelt anhand der Arbeitsbiografie des scheiternden Franz Horn.

Martin Walser - Meßmers Gedanken: Eine Sammlung von Aphorismen, die sich mehrmals zu lesen lohnt und in der Walser nicht nur kluge (wenn auch oft widersprüchliche) Sätze formuliert, sondern auch ziemlich offen über seine Schwächen spricht.

Riad Sattouf - Der Araber von morgen, Teil 3: Der dritte Teil der großartigen Graphic Novel, in der Riad Sattouf seine Kindheit zwischen Frankreich und dem Nahen Osten beleuchtet, spielt diesmal größtenteils in Syrien und ist so großartig wie die beiden vorherigen Teile. Weitere werden folgen.

Udo Stein - Mythos Neuseeland: Musste ich für die Arbeit lesen und rezensieren. Der Autor ist emeritierter Professor, lebte lange und arbeitete lange Jahre in Neuseeland und dekonstruiert anhand dieses Romanes den Mythos von Neuseeland als schönster und nettester Fleck der Erde, der sich sowohl innerhalb des Landes als auch bei den Touristen anhaltender Beliebtheit erfreut.

Jerome Leroy - Der Block: Es ist die entscheidende Nacht für den Patriotischen Block: Draußen tobt der Bürgerkrieg, drinnen verhandelt die rechtsradikale Partei über die Regierungsbeteiligung. Wir erleben diese Nacht anhand der Innenansichten eines Parteiintellektuellen, dessen Frau mitverhandelt. Und seines Freundes, des obersten Parteischlägers, der bei einer parteiinternen Säuberungsaktion aus dem Weg geschaffen werden soll und auf der Flucht ist. Der Autor will gar nicht verhehlen, dass er in Teilen über den Front National schreibt. Ein packendes Buch, das einen Tief in die Abgründe rechtsradikalen Denkens führt, aber auch dabei hilft, seinen Erfolg zu verstehen.

Peter Handke - Die Angst des Tormanns beim Elfmeter: Auch bei der zweiten Lektüre hat sich mir die viel beschworene Größe dieses kleinen Buches leider nicht erschlossen.

Irmgard Kleinle-Schneider - Es kann vor Abend anders werden: Musste ich für die Arbeit lesen und rezensieren. Halbautobiografische Lebensgeschichte einer Frau, die das Schicksal hart erwischt, die tief fällt und dank Gottes Hilfe und ihren starken Willen doch noch glücklich wird.


SACHBUCH:

Oliver Nachtwey - Die Abstiegsgesellschaft:
Eine luzide soziologische Analyse, die sich obendrein noch gut liest. Sollte auch der ein oder andere linke Politiker mal zur Hand nehmen. Nachtwey zeichnet recht gut nach, wie sich diese Gesellschaft von einer Aufstiegs- in eine Abstiegsgesellschaft gewandelt hat, welche Konsequenzen das hat - und warum sich das gar nicht so leicht ändern lässt.  

Alec Ash - Wish lantern: Ein tiefer Einblick in das Leben junger Menschen in China. Sehr unterschiedlicher Menschen (von einfachen Bauernkindern bis zur Tochter eines Parteikaders), die der Autor lange begleitet und ihren Werdegang in einem halbliterarischen Stil porträtiert hat. Wer etwas über den Alltag in China erfahren möchte, sollte unbedingt "Wish lantern" lesen. Danach sind alle Klischees über "die Chinesen" im Kopf wie weggeblasen.

Michael Winterhoff - Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Ein Buch, das lieber nicht lesen sollte, wer Kinder hat (oder mit ihnen arbeitet). Winterhoff zeichnet ein sehr düsteres Bild der Mädchen und vor allem Jungen, die in Deutschland leben. Vielleicht, weil er als Psychotherapeut ja nur mit Problemfällen zu tun hat. Glücklicherweise hatte ich das Buch nur aus der Bücherei geliehen.

Constantin Schreiber - Inside Islam: Was auch für dieses Buch gilt, das den Besuch deutscher Moscheen in einem reißerischen Ton als eine Art Safari zu den Wilden beschreibt. Immerhin aber Einblicke bietet in das, was in deutschen Moscheen so gepredigt wird. Ganze Predigten in deutschen Übersetzungen inklusive.

Robert & Sarah Levine - Do parents matter? Ein wirklich tolles, fundiertes Buch zweier Ethnologen, die Jahrzehnte lang Erziehungsarten weltweit beobachtet haben. Und die zu dem Ergebnis kommen, dass der Einfluss der Eltern nicht überschätzt werden sollte. Dass gänzlich konträre Formen der Erziehung das gleiche Ergebnis zur Folge haben können. Und dass es daher nicht die eine, richtige geben kann.

Robin Alexander - Die Getriebenen: Zeichnet minutiös nach, wie Politik und Medien im Herbst auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise agierten: ziemlich getrieben. Widerlegt dabei die These, dass die Kanzlerin aus Überzeugung die Willkommenskultur ausrief. Die Grenzschließung, so Alexander, war wohl von Merkel schon fast beschlossene Sache. Im entscheidenden Moment hatte sich aber in der Regierung niemand getraut, auch die Konsequenzen dafür zu übernehmen.

Tuvia Tenenbom - Allein unter Flüchtlingen: Tenenbom ist bekannt für seine Recherchereisen, bei denen er einfachen Menschen begegnet und in durchaus in witziger Art und Weise daraus Bücher strickt. Zuletzt über die Amis, diesmal über die Deutschen, die Flüchtlinge und die Umgang der einen mit den anderen. Der israelische Jude Tenenbom spricht arabisch und kommt deshalb ziemlich nah ran. Das Bild ist an vielen Stellen ziemlich hässlich. Dennoch: Tenenbom wird, wie ich finde, zu Unrecht von den Rechten vereinnahmt.

Peter Kuntze - Chinas konservative Revolution: SZ-Autor im Ruhestand, der in diesem Büchlein, erschienen in einem rechten Kleinverlag, recht klug über die konservative Wende im kommunistischen China schreibt.

Rolf Peter Sieferle - Finis Germania: Hat letztes Jahr einen peinlichen Literatur- und Medienskandal ausgelöst, der nicht hätte sein müssen. Sieferle war zu Lebzeiten ein respektierter Wissenschaftler, driftete aber vor seinem selbst gewählten Tod hart nach rechts. Diese unsortierten, posthum erschienen Aphorismen tragen nicht viel zum Verständnis der Lage bei, lassen aber gut verstehen, warum Sieferle den Freitod wählte. 

Matthias Rüb - Che Guevara: Ein FAZ-Korrespondent, der eine Che-Kurzbiografie schreibt kann wohl a priori nichts Gutes an dem Revolutionär finden. Rüb versucht, den Mythos zu dekonstruieren, was ihm stellenweise auch gelingt. Beschreibt den Revolutionär dabei sehr unvorteilhaft als keineswegs von der Sache überzeugten, blutrünstigen Rassisten. 

Thomas Wagner - Die Angstmacher: Ein Linker, der die Rechten nicht nur studiert, sondern auch mit ihnen redet und dabei etwas kluges beizutragen hat. Das beste Buch über die Neue Rechte, das ich kenne. Wagner geht dabei ziemlich hart ins Gericht mit seinen Linken - und zeigt überzeugend auf, weshalb 68 nicht nur der Beginn einer (gescheiterten) linken Revolte war, sondern auch das Fundament legte für den Aufstieg der Neuen Rechten.

Philipp Blom - Was auf dem Spiel steht: Der Historiker versucht sich in aller Kürze an einem Rundumschlag zur politischen, ökonomischen und ökologischen Lage. Und sieht uns auf recht düstere Zeiten zusteuern. Blom packt meines Erachtens aber etwas zu viel in diesen sehr dichten Text. Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

Daniel Schreiber - Nüchtern: An einem Abend in der entsprechenden Stimmung durchgelesen, zum zweiten Mal. Nach wie vor eines der klügeren Bücher über das Trinken - und warum es irgendwann einfach besser ist, damit aufzuhören.

Stefan Zweig - Die Welt von gestern: Anhand seiner eigenen Biografie zeichnet Zweig eine Welt nach, die mit dem Ersten Weltkrieg verschwand: das Habsburger-Reich. Er tut dies aus der Perspektive der heilen Welt eines Bildungsbürger-Haushalts, die von den Wirren der Zeit schwer erschüttert wird. Das Buch endet recht düster mit dem Zeiten Weltkrieg. Zweig starb, bevor Hitler besiegt wurde. Dazwischen schreibt der überzeugte Europäer viel über seinen Werdegang, seine Reisen nach Russland, Indien, Lateinamerika, wenig persönliches ist darin jedoch zu erfahren. Sollte daber vor allem als Lehrstück gelesen werden von all jenen, die unbedingt zur Nationalstaaterei zurückkehren wollen.

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