Sonntag, 18. Juni 2006

Das Göttliche













DAS GÖTTLICHE

Edel sei der Mensch
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

Heil den unbekannten
Höhern Wesen
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch!
Sein Beispiel lehr uns
Jene glauben.

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös und Gute
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
der Mond und die Sterne.

Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.

Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.

Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.

Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.

Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.

Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im großen,
Was der Beste im kleinen
tut oder möchte.

Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen.

(Johann Wolfgang von Goethe)
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut! Ja, wäre es nur wirklich so... Eines nämlich hat der Mensch, dass ihn zu den höchsten Taten wie den schlimmsten Verbrechen bewegen kann: die Wahl. Und die Wahl ist es, die uns immer wieder straucheln lässt. Entscheiden wir uns für das Naheliegende, Nützliche, das Glück oder für das Ferne, Anstrengende, gar Altruistische? Und woher wissen wir, dass wir mit unseren Bemühungen auch tatsächlich zu den Ergebnissen kommen, die wir damit bezwecken? Wir können schlicht und ergreifend nicht immer wissen, was unsere Taten bewirken. Das macht in gewisser Weise den Reiz unseres Daseins aus: das Ungewisse, Unbestimmte, Vage. Aber manchmal zerreißt es uns fast, wenn wir Entscheidungen treffen sollen, müssen oder wollen. Und die Moral? Die schwebt über allem, zumeist unbewusst, aber wir können ihr nicht entgehen. Der Mensch muss sich als moralisch verstehen, wie auch immer diese letztlich konkret aussehen mag, gleich ob er sich für das Nützliche, das Glück oder die Tugend entscheidet.

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