Samstag, 24. September 2011

Neue Hieroglyphen

Altes Menetekel neu

Ihr Blick ist vom
Vorüberziehn der Zahlen
So müde, daß ihn
Nichts mehr hält.
Es geht bergab seit Tagen
Mit Indizes und Kursen
Und mit der Bonität der Welt.

Sie schauen auf,
Schon Derivate ihrer selbst,
Und hatten mal ein Lächeln,
Verkommen und verführerisch
Wie von Alain Delon geborgt.
Sie schauen schaudernd auf
Und wissen nicht zu wem, zu was.
Das schreibt wie Menschenhand
Und hört nicht auf und schreibt.
Auf jedem Monitor erscheint
Erneut die Flammenschrift.
Die legt kein Schriftgelehrter aus,
Kein Wirtschaftsweiser deutet sie,
Nicht dunnemals und heute nicht.
Nur Daniel in Ketten liest:
"Gezählt, gewogen und geteilt."*

Es ist des Unglücks Unterpfand
Für alle absehbare Ewigkeit:
Belsazar blaß im Weißen Haus,
Schon fremd sein Babylon,
Sein Washington verwaist,
Die Wall Street menschenleer
Wie jener Königssaal am Morgen,
Nachdem der Mond geschehn.
Die Welt kühlt aus,
Und Orient und Okzident
Mit Mann und Maus
Und Herr und Knecht
Mit Pauken und Trompeten
Sind wieder einmal hart am Rand.

Und still wird es im Börsensaal,
Wenn jene Macht,
die niemand nennt
Und jeder spürt,
Die Hände dieser müden Männder,
Als könne es den Betern noch gelingen,
Ganz unerbittlich ineinander legt.

* Gemeint ist die Geschichte vom Ende des babylonischen Königs Belsazar aus dem Alten Testament. Die aramäische Schrift an der Wand lautet: "Mene mene tekel u-pharsin". Der Prophet Daniel liest das als Untergangsprophezeiung. Die Übersetzung des Menetekels: s.o.

(Martin Jürgens)

Keine Kommentare: