Es ist an der Zeit, einen der unbestrittenen Meister der Melancholie zu würdigen, dessen musikalische Entwicklung völlig konträr zum landläufigen Kommerzialisierungseffekt verlief. Die Karriere von Mark Hollis nahm ihren Anfang in einer der wichtigsten und erfolgreichsten Bands der Achtziger namens Talk Talk. Ihre erfolgreichste Zeit hatte Talk Talk Mitte der Achtziger mit guten, aber nicht besonders außergewöhnlichem Synthiepop à la „It’s my life“. Doch von Album zu Album wurde die Musik differenzierter, eigenwilliger, sperriger, weniger mainstreamtauglich und fand ihren ästhetischen Höhepunkt in den beiden letzten Alben („The Spirit of Eden“ und „The Laughing Stock“), auf denen sie sich durch Improvisation mehr und mehr von klassischen Songstrukturen verabschiedeten und so eine völlig neue Sphäre musikalischen Ausdrucks zwischen Jazz, Klassik und Pop ausloteten (so etwa in „I believe in you“). Nach der Auflösung der Band wurde es ruhig um den scheuen Mark Hollis, der mit seiner Heroinsucht zu kämpfen hatte und sich zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Gleichzeitig arbeitete er jedoch manisch an seinem bisher einzigen Soloalbum, das nach fünfjähriger Arbeit 1998 schließlich erschien.
Schlicht „Mark Hollis“ betitelt und dem Prinzip der Reduktion folgend sind alle Klänge und Worte auf diesem Werk sorgsam gewählt, wird der Stille viel Raum gelassen – und dennoch entsteht eine Atmosphäre unvergleichlicher Intensität und Nähe. Klavier, Standbass, akustische Gitarre, Holzbläser, kein elektrisch verstärktes Instrument ist beteiligt, die gesamte Musik nur mit zwei Raummikrofonen aufgenommen. Das Album braucht Zeit, viel Zeit und ist zugleich komplett aus der Zeit entrissen. Es ist weltentrückt und doch eine der wirklichsten Platten. Sie kommt völlig ohne Fassade aus, der Hörer bekommt den Eindruck, direkt in die Seele eines Menschen zu schauen, der mit der Welt und sich hadert. Dennoch ist das Album von einer Ruhe beseelt, die unmittelbar auf den Hörer übergeht, vorausgesetzt er oder sie ist in der Lage, sich auf dieses schwierige, oftmals dissonante Album einzulassen.
„Mark Hollis“ entzieht sich allen Kategorien. Das erste Lied „The Colour of Spring“ (das erst nach zwanzig Sekunden Stille beginnt) mag mit Sicherheit noch das greifbarste Stück sein, doch was in den sieben darauf folgenden Liedern passiert, ist nur schwer in Worte zu fassen. Einer der absoluten Höhepunkte ist das achtminütige A life (1895-1915), das wohl auch ein gewisser Frederik Hahn zu schätzen wusste und zu einem herrlichen Sample in „Kapitel 29“ verarbeitete.
A life (1895 - 1915)
Uniform
Dream cites freedom
Avow
Relent
Such suffering
Few certain
And here I lay
Es beginnt mit dissonanten Bläsern, die nach zwei Minuten von einem Kontrabass begleitet werden und nach einer furchtbar langen Zeit auch von der gehauchten Stimme Hollis, irgendwann auch ein Schlagzeug, bevor es schließlich in der Mitte des Stückes in einem mantraartigen Klaviermotiv gipfelt, das die vielen Stränge zusammenführt, allerdings wieder in sich zusammenbricht und sich der Dissonanz ergibt. A life endet schließlich wieder, wie es begonnen hat, lediglich mit einer Variation des Ausgangsmotivs und den kaum hörbaren Worten „and here I lay“. Spätestens jetzt wird das der geneigte Hörer auch tun, auf der Wiese, im Bett oder auf dem Boden, erschlagen ob der Gewalt dieses leider viel zu wenig beachteten Jahrhundertalbums. Für den Musikbetrieb ist der melancholische Eigenbrödler wohl einfach zu leise, und so endet das Album auch wie es begann: nach den letzten Takten von „A new Jerusalem“ folgt über eine Minute Stille…
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