Donnerstag, 25. Januar 2007

Engel des Universums














Island Ende der 60er Jahre. Der vielseitig talentierte Páll sprüht vor Ideen, er malt, musiziert, beschäftigt sich mit Philosophie, er hat große Pläne, das Leben hat scheinbar noch viel mit ihm vor. Doch leider ist er genau an jenem Tag geboren, als sein Land der NATO beitrat, was ihm noch zum Verhängnis werden sollte, denn „als Island in die NATO eingetreten ist, hat es seinen Wahnsinn in meinen Kopf abgewälzt.“. Zunächst jedoch scheint alles zum Guten zu streben: er verliebt sich in ein Mädchen, darf ihre Nähe spüren, fühlt sich verstanden, geht ganz in ihr auf. Doch er stammt aus dem falschen Milieu, die versnobten Eltern lehnen ihn ab – und nach und nach entfernt sich auch sein Mädel von ihm. Der leidenschaftliche Páll kommt damit nicht zurecht, er kämpft, doch mit jeden Schritt verstrickt er sich weiter hinein in einen Wahn, er bekommt rasende Kopfschmerzen. Er erkennt erst spät, dass sie aus seinem Herzen kommen. Zu spät, denn er hat sich schon zu weit entfernt von der Welt um ihn herum. Er kommt nach Kleppur, einer „Insel“ für scheinbar Wahnsinnige wie ihn. Doch ist er wirklich wahnsinnig, oder entspricht er einfach nur nicht mehr den erforderlichen Konventionen?

Was Ingvar E. Sigurdsson mit diesem kleinen, tragischen, zuweilen urkomischen Film provoziert, ist die Frage nach gesellschaftlichen Normen. Wo beginnt Verrücktheit? Wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn? Und ist am Ende nicht die ganze Gesellschaft verrückt? Kleppur ist überall… Dieser kleine isländische Film basiert auf Einar Már Gudmundssons gleichnamigem Buch, in dem er den Leidensweg seines Bruders und Freundes Sigurdssons aus dessen posthumer Perspektive beschreibt. „Die Gesellschaft will den Wahnsinn auf der Welt nicht sehen und kämpft mit Gewalt dagegen an. Und ein Wahnsinniger, das ist ein Abbild der Welt, so wie sie ist: zerrissen, schizophren, ein chronisches Delirium.“ Sicher, Páll ist nicht normal, er passt nicht in die Welt, in der er lebt, er versucht ihr zu entfliehen – und möchte doch zugleich ein Teil von ihr sein. Den alltäglichen Wahnsinn verkörpert sein bester, ihm bis zum bitteren Ende treuer Freund Rögnvaldur, der als Arzt, treu sorgender Ehemann und Familienvater scheinbar perfekt angepasst und normal erscheint, unter dessen Oberfläche sich jedoch ähnliche Konflikte abspielen.

Dass es für Páll kein Happy End geben kann, ist selbstverständlich. Seine Gefährten in der „Heilanstalt“ schwanken wie er zwischen den Extremen. Der zuweilen sehr brutale und menschenverachtende Alltag in Kleppur lässt die einen zermürben, die anderen in sympathischer Weise ihren zwecklosen, aber richtigen Kampf gegen eben jenes System führen, in das sie so offensichtlich nicht zu passen scheinen. Dabei bedienen sie sich alle diversen Chiffren der „Normalen“. Denn die zentralen Figuren sind letztlich alle gescheitert an den eigenen Fähigkeiten, intelligente Menschen, aber unfähig, eingetretene Pfade zu begehen. Verrückt? Sicher. Aber krank? Das ist die entscheidende Frage: wie geht eine Gesellschaft mit Menschen um, die anders sind, die Konventionen übertreten? Wie dünn die zivilisatorische Decke ist, haben nicht zuletzt soziologische Experimente der Ethnometho- dologen bewiesen. Sie gehen davon aus, dass jene Strukturen, die wir erkennen immer auf eigene kulturelle Symbole bezogen werden, dass also ein objektiver Blick auf Dinge, die uns fremd erscheinen, nicht möglich ist. Was wir erkennen können, sind lediglich strukturelle Differenzen. Nur der Bruch von Selbstverständlichkeiten führt so zur bewussten Reflexion über jene kulturellen Deutungsmuster, die sowohl unbewusst auf individueller Ebene, als auch kollektiv verbindlich kulturprägend wirken.

Engel des Universums ist einer dieser viel zu oft übersehenen, sehr ruhigen, kleinen Meisterwerke. Ein poetischer Film, der nachdenklich machen sollte, der Grenzen auslotet, diese überschreitet, der schwankt, uneindeutig ist, der keine letztgültigen Antworten liefert. Die Entscheidung, ob der Protagonist nun krank ist oder nicht, bleibt im Endeffekt jedem Zuschauer selbst überlassen. Diese Ambivalenz unterscheidet ihn wohltuend von vielen anderen Filmen, die sich schon dieser Thematik widmeten. Meine Interpretation des Filmes ist keine zwangsläufige – ob das Scheitern Pálls nun unabwendbar ist, bleibt jedem selbst überlassen. Der Film ist es aber allemal wert, sich diese Frage zu stellen und zu einer subjektiven Antwort darauf zu gelangen. Und vielleicht liegt es ja auch letztlich an Island: „Du bist schizophren, aber das ist tief in unserer Kultur und in unserem Wesen verwurzelt. Dieser ganze Aberglaube, diese ganzen Fabelwesen, all die Elfen und all die Trolle – das ist Schizophrenie.“

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